Ukraine-Krieg

Streitgespräch: Gibt es eine demokratische Zukunft in Russland?

Der russische Bürgerrechtler und Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow glaubt an eine demokratische Zukunft Russlands, Politologe Volker Weichsel hält seine Visionen für naiv.

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Herr Wolkow, in Ihrem Buch beschreiben Sie mehrere Möglichkeiten für ein Ende Putins: vom Tod des Despoten über eine Palastrevolte bis hin zum Volksaufstand. Nun steht er mit den Misserfolgen in der Ukraine immer stärker unter Druck. Wie lange geben Sie ihm noch?
Wolkow
Ich gebe Putin noch ein Jahr. Der Druck auf ihn ist groß, es gibt in seinem Umfeld niemanden mehr, der mit ihm zufrieden ist. Die Generäle sind unzufrieden wegen der Misserfolge in der Ukraine, die Oligarchen und Silowiki (mächtige Leute aus Militär und Geheimdiensten, Anm.)haben ihren Lifestyle verloren: Für sie gibt es keine Eliteschulen mehr in England, kein Skifahren in Kitzbühel. Putin hat nur einen sehr kleinen Kreis in seine Entscheidungen eingebunden. Der Druck wird weiter steigen, für Putin wird es bald unerträglich werden.
Wie kommen Sie auf ein Jahr?
Wolkow
Im November 2023 sollte Putin ankündigen, dass er für die Präsidentschaftswahl im März 2024 kandidiert. Dann würde die Vorbereitung des Wahlsiegs losgehen. Aber jetzt wird sich jeder in der Bürokratie und im Staatsapparat fragen: Wozu? Damit wir noch sechs Jahre unter diesem Arschloch leben? Putin hat kaum Möglichkeiten, sich gegen einen Streik der Bürokratie zu wehren. Wir kennen das aus der Geschichte. Die Bürokraten haben Michail Gorbatschow (ehemaliger Präsident der Sowjetunion, Anm.) 1991 gesagt, dass sie das nicht mehr mittragen, ähnlich war es mit Nikita Chruschtschow 1964 (ehemaliger Generalsekretär der KPdSU, Anm.).Ich weiß, das klingt optimistisch, aber wir müssen Szenarien finden, in denen eine friedliche Wende möglich ist. Dann können wir darauf hinarbeiten.
Weichsel
Herr Wolkow, Sie sind Politiker, Optimismus ist Ihr Lebenselixier. Doch leider ist Ihr Szenario sehr unwahrscheinlich. Die Personen, von denen Sie sprechen, haben am Tag des Überfalls auf die Ukraine gemeinsam mit Putin eine Linie überschritten. Sie sind auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen. Die Jachten und Villen erhalten sie auch dann nicht zurück, wenn sie sich von Putin abwenden. Diese Menschen sind in Russlands Kriegsverbrechen involviert und stehen auf Sanktionslisten. Nach Kriegsbeginn am 24. Februar stand die Elite zwei Wochen unter Schock, weil ihr klar war, dass alles zusammenbricht, ihr Reichtum, ihre Verbindungen. Dann gab es eine Wende, weil offensichtlich wurde, dass es kein Zurück gibt. Nur wenige reiche und einflussreiche Russen sind ins Ausland gegangen. Das ist nicht der Weg. Wir müssen über andere Szenarien nachdenken.
Wolkow
Das ist ein Problem der westlichen Sanktionen: Wer auf der Liste steht, sitzt mit Putin im Boot. Das ist falsch, denn das Ziel der Sanktionen ist nicht, diese Leute zu bestrafen, sondern Putin loszuwerden und den Krieg zu beenden. Dazu ist die aktuelle Sanktionspolitik nicht geeignet. Sie schweißt Putin und die Elite zusammen. Man muss den Leuten einen Ausweg geben, einen Weg fort von Putin.
Weichsel
Das sehe ich anders. Die Personen auf der Liste sitzen ohnehin mit Putin in einem Boot. Die Sanktionspolitik verfolgt auch nicht mehr das Ziel, diese Leute zu einem Sturz des Diktators zu motivieren. Diese Idee hat sich längst als vollkommen unrealistisch erwiesen.

Leonid Wolkow, Jg. 1980, ist politischer Direktor der von Alexei Nawalny gegründeten Stiftung für Korruptionsbekämpfung FBK. Ab 2009 war er vier Jahre lang Abgeordneter in seiner Heimatstadt Jekaterinburg. Wolkow leitete 2013 Nawalnys Kampagne zur Moskauer Bürgermeisterwahl und 2018 dessen Präsidentschaftswahlkampf. Seit 2019 lebt der studierte Informatiker in Litauen.

Stellen wir uns vor, Putin ist weg. Was könnte danach kommen?
Wolkow
Wenn Putin ab sofort weg wäre, käme es zu einem Kampf verschiedener Gruppen in seinem Umkreis. Die Klügsten würden mit dem Westen eine Allianz versuchen. Leute wie Ministerpräsident Michail Mischustin haben sich immer vom Krieg distanziert. Sie haben Interesse daran, dass Russlands Atomwaffen nicht in die Hände von jemandem wie Ramsan Kadyrow (Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Anm.) geraten. Sie könnten den Westen um Unterstützung fragen: Wir wollen unser Vermögen und unsere Jachten zurück, beenden den Krieg und verlassen die Ukraine. Wird der Westen dann einen Deal machen? Ich glaube schon.
Weichsel
Wir werden auch keinen Aufstand der Bürokraten erleben, dazu sind sie zu schwach. Der Bürgermeister von Moskau Sergej Sobjanin hat Einfluss, aber solange Russland diesen Krieg führt, können solche Personen sich nicht gegen radikale Kräfte durchzusetzen. Was ich eher sehe, ist ein innerer Zusammenbruch. Ein solches Szenario fehlt mir in Ihrem Buch, Herr Wolkow. Ich fürchte, es wird keinen Wandel ohne Gewalt geben. Ich sehe keine Entwicklung wie 1991, sondern eher eine wie zu Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 1917.

Wir brauchen ein optimistisches Szenario.

Leonid Wolkow

Muss befürchtet werden, dass Putin jemand noch radikalerer nachfolgt, etwa aus dem Militär?
Wolkow
Wir sind nicht nur Beobachter, wir sind politische Akteure. Wir brauchen ein optimistisches Szenario. Ich leite eine große politische Organisation, wir haben Projekte, die wir bewerben und in ein Koordinatensystem einordnen müssen. Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit der Idee, dass auf Putin jemand noch schlimmerer nachfolgen könnte. Es kann in seinem System keinen Nachfolger geben, das ist nicht vorgesehen. Putin hat es nie erlaubt, dass jemand anders als er über Macht verfügt. Im Fall seines Endes wird ein interner Machtkampf ausbrechen wie damals nach dem Tod Stalins 1953. Chruschtschow kam erst fünf Jahre später an die Macht, dazwischen gab es Jahre der Konflikte innerhalb der Elite. In dieser sogenannten Tauwetter-Phase wurden die Gulags abgebaut, politische Häftlinge freigelassen, die Außenpolitik wurde offener. In Österreich wurde 1955 der Staatsvertrag unterschrieben, was wohl unter Stalin nicht geschehen wäre. Möglich wurde das alles durch den Kampf der Eliten, die mit etwas anderem beschäftigt waren. Das wird auch nach dem Ende Putins geschehen. Es ist möglich, dass sich dabei ein paar Regionen absondern, die Wahrscheinlichkeit ist aber gering. Russland ist heute, anders als die Sowjetunion, kulturell und politisch sehr einheitlich.
Weichsel
In der Tat ist Russland viel homogener, als es die Sowjetunion war. Ich stimme auch zu, dass es vollkommen falsch ist, über einen möglicherweise noch schlimmeren Nachfolger Putins zu spekulieren. Trotzdem sehe ich die Sache anders. Die Konflikte-egal ob 1917 oder 1991-waren immer von einer Dezentralisierung der Macht begleitet. Es muss nicht bis zu einem Zerfall Russlands gehen. Aber das Ziel der gesamten liberalen Opposition und auch Ihrer Stiftung ist eine Demokratisierung. Putin hat den autoritären Weg im Jahr 2000 mit einem imperialen Krieg gegen Tschetschenien begonnen und im nächsten Schritt die föderalen Strukturen, die Autonomie der Regionen und der Kommunen zerschlagen. Demokratisierung bedeutet daher eine Schwächung des Zentrums, viel mehr Selbstverwaltung für die 85 Regionen, die Kreise und die Kommunen des Landes.

Volker Weichsel, Jg. 1973 ist Politikwissenschafter und Redakteur der Monatszeitschrift "Osteuropa" (zeitschriftosteuropa.de) sowie Übersetzer, vorwiegend aus dem Russischen und Tschechischen. Zuletzt erschien etwa in Weichsels Übersetzung von Artur Klinau "Acht Tage Revolution" (Berlin 2021) und von Maksim Znak "Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis" (Berlin 2022, im Erscheinen).

Herr Wolkow, Sie haben Ihr Buch der Hoffnung auf eine Zukunft Russlands in Europa gewidmet. Ihre Vision von einem demokratischen Russland ist äußerst optimistisch. Ihre ganze Hoffnung liegt auf der Zivilgesellschaft. Ist die russische Gesellschaft in absehbarer Zeit bereit für Demokratie?
Wolkow
Ja. In den Umfragen sehen wir, dass die jungen Menschen Europa, seine Werte und den Lebensstil positiv betrachten. Die Leute, die die Zukunft Russlands bestimmen werden, sehen Europa als Modellbeispiel. profil: Herr Weichsel, stimmen Sie zu?
Weichsel
Die Frage ist falsch gestellt. Es kommt nicht auf die Gesellschaft an, sondern auf die Eliten. Den allermeisten Russen geht es um das täglich Brot und nicht um Demokratie. Sie haben Putin lange unterstützt, weil er in den 2000er-Jahren für Wohlstand gesorgt hat. Das gelang ihm infolge eines unglücklichen Zufalls in der Geschichte: Er kam an die Macht, als der Ölpreis auf den Weltmärkten explodierte. Daher konnte er sowohl die Oligarchen bedienen als auch die Gesellschaft. Die wenigsten Menschen wählen die Demokratie-nicht nur in Russland. Sie wählen denjenigen Politiker und diejenige Partei, die ihnen ein Auskommen, vielleicht eine Besserung ihrer Lage versprechen. Die Frage nach der politischen Kultur, ob "die Russen" demokratisch denken oder nicht, die stellt sich erst einmal nicht. Für lange Jahre wird es nur darum gehen, ob sie einigermaßen leben können.
Laut einer Umfrage des unabhängigen russischen Levada-Instituts wollen 47 Prozent der Befragten "einschneidende Veränderungen" im Land, nur 13 Prozent sehen dafür keine Notwendigkeit. Die Menschen haben Putin satt, so scheint es. Spielt das gar keine Rolle?
Weichsel
Soziologische Umfragen in Russland müssen heute mit großer Vorsicht betrachtet werden. Selbst wenn man den Ergebnissen traut, sagen diese etwas über Wünsche, aber nichts über Handlungsfähigkeit. Die Menschen wollen Veränderung? Klar, viele wollen nicht, dass die Männer in den Krieg geschickt werden. Eine ganz andere Frage ist, ob sie bereit sind, dafür ein Risiko einzugehen, Erfolgschancen eines Protests sehen, zu kollektivem Handeln in der Lage sind.
Wolkow
Ja, die politisch Schlafenden, die sich nur um ihr täglich Brot kümmern, bleiben die Mehrheit. Putin hat diese Menschen auf smarte Weise benutzt, um seine Ziele zu erreichen. Vergessen wir aber nicht, dass wir in den letzten Jahren Hunderttausende junge Leute gesehen haben, die an verschiedenen Graswurzel-Projekten teilgenommen haben: politischer Aktivismus, Crowdfunding, Kommunalwahlen etc. Mit unserem Netzwerk haben wir Hunderttausende erreicht. Diese Menschen bleiben. Sollte es die Möglichkeit für einen Wechsel geben, werden sich diese Leute dafür einsetzen. Das ist der Unterschied zur Situation 1953 und 1991. Da gab es diese Zivilgesellschaft nicht.
Angst ist seit Jahrzehnten ein mächtiger Faktor in der Herrschaft über Russland. Kann man in dieser Atmosphäre überhaupt eine freie Gesellschaft aufbauen?
Weichsel
Nur wenn der Gewaltapparat, der die Angst produziert, zusammenbricht oder schweigt. Nur sind wir heute nicht in der Situation von 1991, als sich der KGB bereits seit einigen Jahren schrittweise zurückgezogen hatte. Vielmehr sind die Silowiki in den letzten 15 Jahren immer näher an das Machtzentrum herangerückt. Es wird keine Tabula rasa geben, keine Situation, in der Hunderttausende politisch motivierte Menschen nur noch ihre Angst überwinden müssen. Russland nach Putin wird sich bestenfalls in einem Vorbürgerkriegszustand befinden. Im günstigen Fall werden die Jahre des Übergangs relativ gewaltfrei verlaufen, erst mit der Zeit würde dann die Spannung nachlassen. Kurzum, ich bin gegen jede kulturalistische Deutung in dem Sinne, dass "der Russe" Demokratie nicht könne, ich bin für positive politische Projekte, wie sie Herr Wolkow vorantreibt. Aber als Beobachter bin ich sehr skeptisch in Bezug auf die ersten Jahre nach einem möglichen Ende des Systems Putin, das ja im Übrigen auch noch keineswegs in greifbarer Nähe ist.
Herr Wolkow, Sie schreiben, der Krieg in der Ukraine würde die Veränderungen in Russland erst möglich machen, denn es müsse ein brutaler Bruch folgen.
Wolkow
Diese Situation ist eine große Chance für eine echte Wende in Russland. Der Krieg hat die russische Gesellschaft anfangs nicht stark erschüttert, Putins "militärische Spezialoperation" hat die meisten Menschen zunächst nicht betroffen. Das hat sich mit der Mobilmachung geändert, sie war ein Schock für die Gesellschaft. Viele, die jahrzehntelang geschlafen haben, stellen jetzt Fragen: Wohin bringt ihr meinen Bruder, meinen Freund, meinen Sohn? Unsere Aufgabe ist es jetzt, da zu sein und diese Fragen zu beantworten.
Weichsel
Von entscheidender Bedeutung ist die Dezentralisierung der Macht. Und wie sich Demokratie und Nation im multinationalen Russland zueinander verhalten: Wie wird ein zukünftiges Russland mit Tschetschenen und Tataren, Baschkiren und Burjaten und all den regionalen Unterschieden aussehen, wenn Demokratie doch Mehrheitsherrschaft bedeutet? Dies sind zentrale Fragen für eine demokratische Zukunft Russlands.
Wie würde der inhaftierte Dissident Alexei Nawalny, für den Sie, Herr Wolkow, arbeiten, mit den Minderheiten umgehen?
Wolkow
In seinem Programm für die Präsidentschaftswahlen 2018 ist die Dezentralisierung einer der wichtigsten Punkte. Wir wollen die Rechte von Minderheiten verteidigen. Demokratie ist die Macht der Mehrheit, ja, aber sie ist kompatibel mit Minderheitenrechten. Das sieht man überall in Europa.
Den Russen wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch Nationalstolz indoktriniert, das Narrativ eines Großrussland. Wie passt das mit der Aufarbeitung der Verbrechen in der Ukraine zusammen, die es bei einer echten Veränderung geben müsste?
Wolkow
Ohne eine Entputinisierung geht es nicht, das ist klar. Die Verbrechen müssen aufgeklärt werden. Dafür bräuchte es eine große nationale Reflexion. Putin hat den Sieg Russlands im Zweiten Weltkrieg als Narrativ genutzt und eine Art nationale Religion um sich herum aufgebaut. Ihr Zusammenbruch wird schmerzhaft, aber notwendig sein.
Weichsel
In einer solchen Situation würde es tatsächlich Millionen von Wendehälsen geben. Das haben wir auch in Deutschland und Österreich gesehen: Nach 1945 wollte plötzlich niemand je etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt haben. Es kommt darauf an, wie eine solche Entputinisierung verlaufen würde, wer als minderbelastet akzeptiert würde. Zu bedenken ist allerdings: Deutschland und Österreich waren von den Siegermächten besetzt, die zumindest in Ansätzen belastete Kader von höchsten Ämtern fernhielten. Die Situation in Russland wird eine andere sein, die nachputinistische Gesellschaft muss die Entputinisierung und den langfristigen mentalen Wandel allein gestalten. Eine enorm schwierige Aufgabe.

Wir sollten den Einfluss des Westens nicht überschätzen.

Volker Weichsel

Herr Wolkow, Sie hoffen auf eine von der Zivilgesellschaft getragene friedliche Veränderung. Welche Rolle kann und soll der Westen in diesem Szenario spielen? Sie haben Ihr Buch auf Deutsch geschrieben. Ist das auch ein Signal an Deutschland?
Wolkow
Es ist ein Signal an Europa, an Russlands Nachbarn, der Interesse an der Stabilität Russlands hat. Unsere Standpunkte schließen einander nicht aus, ein Bürgerkrieg wie 1917 ist möglich. Doch jede Chance, die Situation in Richtung friedliches Szenario zu drehen, muss unterstützt werden, das ist auch die Aufgabe des Westens. Es gibt dafür keine einfache Anleitung, man muss flexibel bleiben. Schließlich sind auch die Turbulenzen nach einem Ende Putins nicht vorhersagbar.
Weichsel
Wir sollten den Einfluss des Westens nicht überschätzen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass die USA oder die EU nur diesen oder jenen Hebel bedienen müssen, und dann läuft die Sache. Und nicht nur ein Irrtum übrigens, sondern auch eine Propagandabehauptung des Moskauer Regimes, das den Einfluss des Westens auf die Entwicklung Russlands in den 1990er-Jahren massiv übertreibt. Aber ein Fehler muss unbedingt vermieden werden: Putin aus Angst vor einem noch schlimmeren Nachfolger als geringeres Übel zu sehen. Es muss einen Zusammenbruch geben. Anschließend muss man versuchen, mit Anreizen Frieden zu bewahren und demokratische, nichtimperiale Kräfte zu unterstützen. Darum wird es heiße Debatten geben, denn nach Russlands brutaler Invasion in die Ukraine haben diejenigen gewichtige Argumente, die sagen: Nie wieder ein Reformprogramm für Russland unterstützen, nie wieder auf eine europäische Zukunft Russlands setzen, Russland muss ein Land hinter der Mauer bleiben.

Eine sehr kurze Geschichte der russischen Demokratie

Am 25. November 1917, unmittelbar nach der Oktoberrevolution, der Machtübernahme der kommunistischen Bolschewiki unter Führung Wladimir Ilitsch Lenins, fanden in Sowjetrussland Wahlen zur Bildung einer Russischen konstituierenden Versammlung statt. Dieser demokratisch gewählten, verfassunggebenden Körperschaft war allerdings nur kurze Lebensdauer gewährt, sie bestand von 18. bis 19. Jänner 1918.

Nach dem Russischen Bürgerkrieg wurde 1922 die Sowjetunion gegründet, ein autoritärer Ein-Parteien-Staat. Erst der im August dieses Jahres verstorbene Michail Gorbatschow ließ am 26. März 1989 erstmals eine demokratische Wahl zum Volkskongress abhalten.

Am 19. August 1991, noch unter Gorbatschow, kam es zu einem Putschversuch hoher Funktionäre, der jedoch von der Bevölkerung unter Führung von Boris Jelzin, dem späteren Nachfolger Gorbatschows, vereitelt wurde. Die Demokratie in Russland schien gesiegt zu haben. Jelzin wurde am 12. Juni 1991 zum ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt Russlands gewählt. Vor seinem Abgang 1999 kürte er einen Nachfolger: Wladimir Putin.

Dieser unterdrückte alle Institutionen und Personen, die seiner Macht gefährlich hätten werden können und baute kontinuierlich die Demokratie ab. Zwar wurde er immer wieder gewählt, doch die Wahlen waren bald weder frei noch fair. Mittlerweile gilt der Übergang Russlands zur Autokratie als vollzogen.

Ohne eine Entputinisierung kann es keinen Wandel geben, da sind sich Wolkow und Weichsel (oben, mit profil-Redakteurin Geets) einig.

Wie würde Alexei Nawalny nach einem Ende des Krieges in Verhandlungen mit den eroberten Gebieten umgehen, allen voran der Krim?
Wolkow
Nach 2014 war es unmöglich, die Krim zu verhandeln. Es gab einen Konsens in der russischen Gesellschaft, dass Chruschtschow die Krim unrechtmäßig an die Ukraine gegeben hat. Alexei Nawalny hat am Tag der Annexion von einem Verbrechen gesprochen, es gab aber keine Perspektive dafür, dass die Krim in absehbarer Zukunft zurückgegeben werden könnte. Jetzt, mit dem Krieg und den Scheinreferenden in den vier Regionen, hat sich das verändert. Alle fünf Regionen müssen nach dem Ende des Krieges zurückgegeben werden. Es wird nun einfacher sein, das der Bevölkerung zu erklären.
Weichsel
Die Krim ist der Lackmustest. Sollten eines Tages bei freien Wahlen in Russland nur noch Parteien in die Duma einziehen, die den Anspruch auf die Krim aufgegeben haben, dann bin ich bereit, wieder optimistischer zu sein.
Herr Wolkow, Sie schreiben, Anfang der 2000er-Jahre war es mit der demokratischen Entwicklung nach dem Ende der Sowjetunion wieder vorbei. Das Volk verhielt sich still, wie es in Russland Tradition habe. Wieso sollte das jetzt anders sein?
Wolkow
Das ist ein Zitat des Dichters Alexander Puschkin über die Ereignisse von Anfang des 17. Jahrhunderts. Man sagt aber auch: "Der Russe ist langsam beim Anschirren, aber schnell beim Reiten."Das russische Volk hat sehr viel Geduld, doch auch diese Geduld ist nicht unbegrenzt.
Weichsel
Der Satz vom Volk, das stillhält, ist richtig, das gilt damals wie heute. Deswegen kommt es auf die Elite an und nicht auf die Massen.

Je komplexer die Welt, desto größer die Sehnsucht nach vermeintlich einfachen Antworten. Shitstorms ersetzen immer öfter Debatten. Wir schaffen noch mehr Platz für echte Argumente und Streitkultur.

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Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.