Ukraine-Krieg

Stromausfälle als Waffe: Verstößt Russland gegen das Kriegsrecht?

Russland bombardiert die kritische Infrastruktur der Ukraine, die Bevölkerung leidet unter Stromausfällen.

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Vergangenen Dienstag ging in weiten Teilen der Ukraine das Licht aus. „Es ist klar, was der Feind will“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft. Und: „Wir arbeiten. Wir werden alles wiederherstellen.“ 

Zwei Tage später fiel der erste Schnee in Kiew. Der örtliche Gouverneur warnte, die Situation könne bei Temperaturen von bis zu minus zehn Grad „schwierig“ werden. Energieminister Herman Haluschtschenko spricht vom „schwierigsten Winter seit der Unabhängigkeit“. 

Russland hat in den letzten Monaten gezielt die kritische Infrastruktur der Ukraine ins Visier genommen. Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj sind mittlerweile rund 40 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur beschädigt. Für die Menschen bedeutet das immer wieder: Stromausfälle, kein Warmwasser und keine Heizung. 

Vergangenen Dienstag ging wieder ein Raketenhagel auf das Land nieder (siehe Karte). Der ukrainischen Luftwaffe zufolge war es der massivste Angriff auf Infrastrukturobjekte seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar. 

Über 90 Raketen schlugen in der Ukraine ein, darunter in der Hauptstadt Kiew, in Lwiw im Westen sowie in Charkiw, der zweitgrößten Metropole des Landes. Der Großteil der Geschosse konnte abgefangen werden. Der Rest schlug in 15 Standorte von Energie-Infrastruktur in verschiedenen Landesteilen ein, darunter in der Nähe von Nuklear-, Kohle- und Wasserkraftwerken. 

Das ist kein Zufall, sondern Taktik. „Je schwerer sich ein Staat mit dem konventionellen Militär tut, desto stärker verlagert er den Krieg auf die Bevölkerung“, sagt Ralph Janik, Völkerrechtler an der Universität Wien. Moskau hofft, die Ukrainer so kurz vor dem Winter zum Einknicken zu bringen. „Das ist unwahrscheinlich, weil der Raketenhagel den Widerstand der Bevölkerung nur noch weiter anheizt“, so Janik. 

Moskau rechtfertigt die jüngsten Angriffe mit der militärischen Bedeutung der getroffenen Infrastruktur. Angriffe auf kritische Infrastruktur könnten laut geltendem Kriegsrecht tatsächlich ein legitimes Ziel sein, so Janik. „Aber der Einsatz muss verhältnismäßig sein“, sagt er, „weil Kraftwerke immer auch einen zivilen Nutzen haben. Wenn Millionen Menschen ohne Energie und Warmwasser bleiben, dann muss man von einem Krieg gegen die Bevölkerung sprechen.“ 

Auch Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, spricht nicht von militärischen, sondern von zivilen Zielen. „Das ist ein Vernichtungskrieg, und wir stehen daneben“, sagte er vergangene Woche in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Die Amerikaner müssten jetzt eigentlich sagen: Hört auf mit diesen Bombardierungen, sonst liefern wir der Ukraine Waffen, mit denen sie sich in gleicher Weise wehren können.“

Über solche ballistischen Raketen, die in der Lage wären, Ziele in Russland anzugreifen, verfügt die Ukraine nicht. Nur diese, so Krause in dem Interview, würden Putin abschrecken. Das Zeichen, das der Westen stattdessen sendet, sei fatal: „Die Ukraine bekommt einen Schlag nach dem anderen, hat kaum noch Elektrizität, die Wasserversorgung bricht zusammen. Und wir schauen zu.“

Die Folgen der jüngsten Angriffe waren im ganzen Land spürbar. In Kiew war vorübergehend die Hälfte der Bewohner ohne Strom. Zeitweise fiel die U-Bahn aus, das Handynetz brach zusammen. Landesweit saßen vergangenen Dienstag über sieben Millionen Haushalte im Dunkeln. Besonders schlimm war die Lage in Lwiw (Lemberg), wo rund 80 Prozent der Haushalte keinen Strom hatten. Auch die Versorgung mit warmem Wasser fiel aus. 

Diese Terrorisierung der Bevölkerung sei eine Folge der militärischen Schwäche Russlands, so Janik: „Je schwächer Putin wird, desto stärker will er zeigen: Schaut, wir können tief in den ukrainischen Luftraum eindringen.“ Dabei schreckt Russland nicht einmal vor dem Beschuss von Atomkraftwerken zurück – bisher ein Tabubruch in Kriegen. Nie zuvor, kritisierte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, seien aktive Atomkraftwerke Ziel von Kriegshandlungen gewesen.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.