TikTok im Visier der Europäischen Kommission
Wenn man sich von Birmingham aus im Netz einen Porno anschauen möchte, muss man bald mehr Privates von sich preisgeben, als einem dabei vielleicht lieb ist. Zum Beispiel die eigenen Kreditkartendaten, die Verknüpfung mit dem eigenen Onlinebanking oder gar das eigene Gesicht. Grund dafür ist, dass die britische Medienaufsicht Ofcom ab 25. Juli eine konsequente Altersverifizierung einführen möchte. Pornos schauen werden künftig nur all jene Britinnen und Briten dürfen, die mindestens 18 Jahre alt sind. Das einfache Drücken eines „ich bin älter als 18 Jahre“-Buttons reicht dann nicht mehr aus. Damit möchten die Behörden verhindern, dass Jugendliche besonders explizite Inhalte konsumieren.
Der Schutz junger Menschen vor den Gefahren des Internets ist aber nicht nur im Vereinigten Königreich zum großen Anliegen geworden, auch auf europäischer Ebene wird intensiv darüber diskutiert. profil hat sich in Brüssel umgehört, dort arbeitet die Europäische Kommission derzeit intensiv an Guidelines für große Digitalkonzerne. Einen Schwerpunkt nimmt hier der Schutz von Kindern ein. Spricht man von den negativen Auswirkungen sozialer Netzwerke, wird in der öffentlichen Debatte oft zuerst die chinesische Kurzvideoplattform TikTok problematisiert – es wirkt manchmal so, als wäre die App der Ursprung des Bösen. Aber ist das tatsächlich so?
Soll man TikTok – ähnlich wie es in Albanien passiert ist – ganz verbieten? Oder reicht eine Altersbegrenzung? Zwar gibt es die schon seit Ewigkeiten – streng genommen dürfen Userinnen und User Social-Media-Plattformen erst ab einem Alter von 13 Jahren verwenden. Allerdings hat es dafür bisher keinerlei Altersnachweise benötigt. Bisher galt für Jugendliche der „Trick“: Ein falsches Geburtsdatum eintragen und los scrollen.
So einfach soll es künftig nicht mehr gehen. Hier möchte die EU einerseits auf ähnliche Methoden wie Großbritannien zurückgreifen. Andererseits entwickelt die Kommission gerade das „Digital Wallet“, also eine App, in der EU-Bürgerinnen und -Bürger all ihre Dokumente gesammelt aufbewahren können. Von der eCard über den Führerschein bis hin zu Flugtickets soll dort alles abrufbar sein. Damit wäre auch eine Vernetzung mit Social-Media-Plattformen möglich, um abzuklären, ob Userinnen und User das Mindestalter erfüllen. Welches Mindestalter gesetzt wird, sollen die jeweiligen Mitgliedsstaaten selbst bestimmen können – in Österreich sprach sich Vizekanzler Andreas Babler (SPÖ) kürzlich für ein Social Media Verbot bis zum 15. Lebensjahr aus.
Babler ist längst nicht der einzige österreichische Politiker, der ein Verbot fordert. Nur wenige Tage nach dem Messerangriff von Villach am 15. Februar 2025, bei dem ein 14-Jähriger getötet wurde, war von einer „Blitzradikalisierung“ die Rede. Der Täter soll sich binnen weniger Monate über das Internet radikalisiert haben, tötete im Namen des Islamischen Staats einen 14-Jährigen und verletzte fünf weitere Passanten zum Teil schwer. Der Kärntner Landeshauptmannstellverterter Martin Gruber (ÖVP) stellte wenige Tage später in den Raum, über ein EU-weites Verbot zu diskutieren, wenn Digitalkonzerne nicht mit den Staaten zusammenarbeiten würden.
Worüber wird in Brüssel aber tatsächlich diskutiert? Und sind die bestehenden Gesetze ausreichend, um Jugendliche nachhaltig vor den Gefahren von TikTok und Co. zu schützen?
Den Rechtsrahmen in Europa geben der Digital Services Act (DSA) und der Digital Markets Act (DMA) vor. Der DSA wurde im November 2022 beschlossen und regelt seit Februar 2024, was Plattformen im Umgang mit Hassrede, Desinformation oder auch der Plattformsicherheit berücksichtigen müssen. Der DMA ist sein Pendant im Wettbewerbsrecht: vereinfacht gesagt, geht es hier zum Beispiel darum, dass ein Konzern wie Apple in seinem Betriebssystem keine App bevorzugen darf, sodass alle Softwarehersteller in einem fairen Wettbewerb zueinander stehen.
Zentral für die Diskussion rund um TikTok ist der DSA. Er bildet auch die Grundlage für die EU-Kommission, wenn Ermittlungen gegen oder im Zusammenhang mit der Plattform eingeleitet werden. Seit Februar 2024 sind mehrere Verfahren anhängig.
TikTok versus EU – eine Übersicht
- Februar 2024: Die Kommission eröffnet ein erstes Verfahren gegen TikTok: Im Fokus stehen der Algorithmus und das Plattformdesign, das süchtigmachende Effekte begünstigen könnte und Rabbit-Hole-Effekte entstehen ließe. Auch die zu lasche Altersverifikation und fehlende Werbetransparenz werden seither geprüft.
- April 2024: Es folgt ein weiteres Verfahren, nachdem TikTok „TikTok Lite“ samt Belohnungssystem eingeführt hatte – Coins für langes Schauen oder Einladungen an Freunde sollten gegen Gutscheine eintauschbar sein. Die Kommission sah darin ein Suchtpotenzial für Minderjährige, das System wurde kurz darauf gestoppt.
- Dezember 2024: Ende des Vorjahres kam ein dritter Fall hinzu: Im Kontext der rumänischen Präsidentschaftswahl 2024 stand TikTok im Verdacht, politische Werbung nicht gekennzeichnet und durch den Algorithmus verzerrt ausgespielt zu haben. Die Wahl wurde daraufhin annulliert, das Verfahren zur mutmaßlichen Wahlbeeinflussung läuft noch.
Im Zusammenhang mit TikToks intransparenter Werbepraxis – begonnen hat diese Untersuchung im Februar 2024 – könnte es bald eine erste Geldstrafe geben.
10 Milliarden Dollar Strafe?
Im Kern geht es darum, dass alle großen Digitalkonzerne eine öffentlich zugängliche Datenbank zur Verfügung stellen müssen, in der Werbeinformationen eingesehen werden können – im Gegensatz zu Meta fehlt eine solche bei TikTok. Bei einem Verstoß, den die Kommission in einem vorläufigen Bericht ausgemacht hat, könnten bis zu sechs Prozent des globalen Jahresumsatzes als Strafzahlung fällig werden. Gemessen am Jahresumsatz 2024 wären das bis zu 9,3 Milliarden US-Dollar.
Die schärfsten Instrumente der EU gegen Digitalkonzerne sind also der DSA und der Digital Markets Act. Verstöße dagegen können mit Zahlungen in Milliardenhöhe geahndet werden. Das wirkt auch abschreckend, weshalb Konzerne in einzelnen Punkten immer wieder einlenken. Dennoch gibt es Plattformen, wie Elon Musks Kurznachrichtenplattform X, die weder ihren eigenen Guidelines noch dem DSA nachkommen. ORF-Anchor Armin Wolf und dessen Anwalt haben rund ein Dreivierteljahr lang versucht, Hasskommentare, Verleumdungen und Beleidigungen einzuklagen, die Plattform zur Löschung und zur Herausgabe der Daten des Verfassers zu bewegen, um gerichtlich gegen diesen vorgehen können.
Das Vorhaben blieb ergebnislos. Die Postings sind bis heute aufrufbar. Auch deshalb sind sich viele Expertinnen und Experten einig: Der DSA ist aktuell zu zahnlos, die Umsetzung funktioniert nur schleppend.
Geht es nach der österreichischen Bundesregierung, dann sollen der DSA und der DMA weiterentwickelt werden. Das steht im Regierungsprogramm von ÖVP, SPÖ und Neos. Ausgemacht ist das aber nicht. Personen, die den Entstehungsprozess auf europäischer Ebene und die Umsetzung in Österreich seit Jahren verfolgen, äußern Bedenken: die Regulative für Digitalkonzerne könnten im Zollstreit mit den USA als Entgegenkommen aufgeweicht werden. Die EU-Mitgliedsstaaten stehen hier jedenfalls vor einem Dilemma. Auf der einen Seite steht ein US-Präsident, der geltende Regelwerke im Welthandel außer Kraft setzt und damit vor allem exportorientierte Nationen trifft. Auf der anderen Seite geht es um Social-Media-Plattformen, die sich nicht an Gesetze halten und mit ihren Algorithmen auch die psychische Gesundheit vieler Bürgerinnen und Bürger in der EU aufs Spiel setzen.
Brief an Brüssel
„Die Krise der psychischen Gesundheit und des Wohlergehens unserer Kinder hat einen kritischen Punkt erreicht, der durch die unkontrollierte Ausbreitung von Social-Networking-Plattformen verschärft wird, die dem Engagement (Clicks, Likes, Interaktionen; Anm.) Vorrang vor der Sicherheit der Kinder einräumen“, steht in einem Brief, den elf EU-Mitgliedstaaten erst vor einigen Tagen an die zuständige EU-Kommissarin Henna Virkkunen übermittelt haben. Neben Österreich haben den Brief außerdem Vertreterinnen und Vertretern aus Kroatien, Zypern, Dänemark, Frankreich, Italien und fünf weiteren Ländern unterschrieben. Sie plädieren darin für einen strengeren Altersnachweis, der neben einem generellen Verbot derzeit am lautesten diskutiert wird.
Was wird diskutiert?
Im Europäischen Parlament sind sich die österreichischen Abgeordneten einig, dass auf EU-Ebene härter gegen TikTok vorgegangen werden muss. Lukas Mandl von der ÖVP ist allerdings skeptisch, ob ein TikTok-Verbot tatsächlich sinnvoll wäre, da Userinnen und User dann auf eine andere Social-Media-App wechseln würden. Er spricht sich für eine bessere Medienbildung für Jugendliche aus.
Die NEOS-Abgeordnete Anna Stürgkh befürwortet die geplante Altersverifizierung, plädiert allerdings dafür, dass man keine Klarnamenpflicht auf Social Media einführen sollte: „Der Schutz der Privatsphäre muss auch beim Jugendmedienschutz oberste Priorität haben.“ Außerdem spricht sie sich gegen nationale Alleingänge aus: „Denn ein Flickenteppich hilft am Ende niemandem – am wenigsten den Kindern und Jugendlichen, die wir schützen wollen.“
Die Sozialdemokratin Elisabeth Gossmann plädiert gegenüber profil für wirksame Strafen, wenn Plattformen gegen den DSA verstoßen. Und: Sie fordert einen Frühwarnmechanismus, also eine Moderation auf den Plattformen, die dafür sorgt, dass gefährliche Social-Media-Trends frühzeitig identifiziert und eingedämmt werden können.
Die Frage, wie die FPÖ mit TikTok und seinen Gefahren umgehen möchte und wofür oder wogegen man sich auf EU-Ebene einsetzt, ließen die Freiheitlichen unbeantwortet. In der Vergangenheit haben die Freiheitlichen an die Eigenverantwortung der User appelliert und Einschränkungen skeptisch gesehen.
Der Schutz der Privatsphäre muss auch beim Jugendmedienschutz oberste Priorität haben.
Anders geht hier Albanien vor: Nachdem ein Streit zwischen zwei 14-Jährigen, der zuerst auf TikTok begonnen hat, zu einem brutalen Mord in der Schule ausartete, beschloss die Regierung die App ein Jahr lang komplett zu verbieten. Wie groß die Rolle der Plattform hier jedoch tatsächlich war, ist fraglich, da der getötete Junge laut seinen Eltern TikTok gar nicht auf seinem Handy hatte. Das Verbot gibt es nun seit drei Monaten. Ein erstes Fazit des eingeführten Verbots gibt es bisher keine, da die Maßnahme von keinen Forscherinnen und Forschern begleitet wurde.
Feindbild TikTok
Ist die chinesische Kurzvideoplattform nun also unser größter Feind und sollte verboten werden? Oder machen wir es uns möglicherweise zu einfach, indem wir TikTok als Sündenbock hinstellen?
„TikTok zu verdammen finde ich schwierig“, sagt Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus. Ihre Kolleginnen und Kollegen und sie arbeiten tagtäglich mit Jugendlichen zusammen - viele von ihnen verbringen viel Zeit auf TikTok und bekommen zum Teil höchst problematische und gefährliche Inhalte zugespielt. Mit dem „Feindbild TikTok“ stimmt sie allerdings nicht überein: „TikTok ist einfach eine beliebte Plattform bei Jugendlichen. Es gibt auch Vielfalt auf TikTok, Tabuthemen werden niederschwellig angesprochen, es ist einfach, Inhalte zu posten.“
Außerdem sei Radikalisierung über ein Medium per se nichts Neues: „Auch auf Facebook hat es Radikalisierung gegeben. Als wir angefangen haben, gab es noch Videokassetten, wo der IS Propagandafilme verbreitet hat. Oder CDs im rechtsextremen Bereich, die man dann unter der Hand weitergegeben hat.“
Was tun die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, wenn sie mitbekommen, dass Teenager verdächtig lange auf der chinesischen Kurzvideoapp scrollen? „Wir gehen zunächst mit ihnen in den Dialog und verurteilen sie nicht. Nachdem ein Vertrauen aufgebaut wurde, schauen wir uns die Inhalte gemeinsam an und ordnen sie ein“, sagt Fabris. Eine gemeinsame Analyse problematischer TikTok-Videos als Schlüssel. Zudem versuchen die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter selbst auf den Plattformen aktiv zu sein und Teenager dort abzuholen. Boja startete einige TikTok-Initiativen, der Account „Frag die Abla“, geführt von Eșim Karakuyu, einer Sozialarbeiterin von Boja, war eine Antwort auf die Welle an reaktionären Islam-Influencerinnen. „Außerdem versuchen wir bei all unseren Online-Kampagnen, Jugendliche miteinzubeziehen.”
Fabris’ Plädoyer ist Aufklärung statt Verbote. Dass problematische Inhalte konsequenter auf der Plattform zu langsam gelöscht werden, sieht sie auch als großes Problem. Mit einem kompletten Verbot würde man allerdings nur dafür sorgen, dass sich radikale Inhalte auf andere Plattformen verlagern.
Auch auf Facebook hat es Radikalisierung gegeben. Als wir angefangen haben, gab es noch Videokassetten, wo der IS Propagandafilme verbreitet hat. Oder CDs im rechtsextremen Bereich, die man dann unter der Hand weitergegeben hat.
So weit dürfte es wohl vorerst nicht kommen. Noch im Juli möchte die Kommission ihre Guidelines vorstellen. Werden Digitalkonzerne diese einhalten, könnte man nachsichtig bei anderen Verstößen sein, heißt es in Brüsseler Beamtenkreisen. Dann wird auch klar sein, ob und wie ein funktionierender Altersnachweis umgesetzt werden soll. Eine ähnliche Altersverifizierung für Minderjährige wird es auf Pornoseiten künftig übrigens auch in der EU geben. Wer in Wien Pornos schaut, unterliegt dann denselben Auflagen wie in Birmingham.
Transparenzhinweis: profil nahm Ende Juni an einer von der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament finanzierten Pressereise teil.