„Herr Lehrer, haben Sie das auf TikTok gesehen?“
Zehn Sekunden dauert der Clip. Vor der Eingangstür türmen sich Tische und Sessel, zwei Jugendliche verbarrikadieren sich im Klassenzimmer, im Hintergrund fallen elf Schüsse – Szenen des Amoklaufs in Graz, die nur wenige Stunden nach der Tat auf TikTok kursieren. An einer Wiener Mittelschule in Rudolfsheim-Fünfhaus werden die Videos sofort angeklickt. Zu diesem Zeitpunkt gibt es kaum bestätigte Informationen zu dem, was im BORG Dreierschützengasse in Graz passiert ist, die Jugendlichen aus Wien sind trotzdem unmittelbar dabei. „Herr Lehrer, haben Sie das Video auch gesehen?“
Auf TikTok trendet der Suchbegriff „Amkaluf (sic!) in Graz“. Ob es sich um einen Tippfehler oder einen Trick zur Umgehung der Moderation handelt, lässt sich schwer sagen. Fest steht: Das Kurzvideo geht viral – der Algorithmus tut, was er tun soll. Es gilt: je emotionaler, desto sichtbarer. Wird der Clip gelöscht, taucht die nächste Kopie auf. Eine Aufmerksamkeitslogik, die Social-Media-Plattformen zum Geschäftsmodell gemacht haben.
Wie problematisch deratige Inhalte sein können, spüren Lehrkräfte. Sie werden mit dem Mediennutzungsverhalten ihrer Schüler regelmäßig im Unterricht konfrontiert werden. profil sprach mit mehreren Wiener Mittelschullehrern über ihre Erfahrungen im Klassenzimmer. Sie alle wollen anonym bleiben, um offen Probleme ansprechen zu können.
Anlässlich des Grazer Amoklaufs versucht eine Schule im 15. Wiener Gemeindebezirk das Gespräch mit ihren Schülerinnen und Schüler zu suchen. Darum „wie es ihnen damit geht, was sie mitgekriegt haben. Und ob sie darüber reden wollen oder nicht“, erzählt ein Lehrer der Mittelschule. Was dem Junglehrer auffällt: zwischen ihm und seiner Klasse liegen eine, höchstens zwei Generationen. Und doch trennen sie Welten in Sachen Mediennutzung.
Problematische Inhalte wie Gewalt, Krieg oder Suizide sind im Netz so alt wie das Internet selbst. Auch schon vor 15 Jahren hatten Teenager die Möglichkeit, an jene ran zu kommen, erinnert sich der Mittelschullehrer. Während er diese Inhalte im Netz noch proaktiv suchen musste, bekommt seine Klasse die Inhalte vom Algorithmus auf dem Silbertablett am Smartphone serviert. Dank Aufmerksamkeitslogik manchmal sogar direkt über die Startseite der Apps – ob man will oder nicht. Was bleibt: Fragen und Sorgen, die im Klassenraum reflektiert werden.
TikTok Stundenplan
Zwei Wochen nach dem Grazer Amoklauf ist die Tat bereits wieder von der Startseiten der Apps verschwunden – mittlerweile dominieren Raketenangriffe auf Teheran. So schnelllebig Plattformen wie TikTok sind, so schnell wechseln die Kurzclips, die im Klassenzimmer nachbesprochen werden müssen. Vor ein paar Wochen war es noch ein Suizid am Wiener Westbahnhof, heute sind es neue Videos aus dem Nahen Osten.
Bilder roher Gewalt, die aus Jugendschutzgründen oder Pietät nicht völlig ungefiltert gezeigt werden sollten – eine bisher unbeachtete Variable in der Logik der Algorithmen. Allerdings: „Den Kindern ist schon bewusst, dass die Inhalte nicht altersgemäß für sie sind“, erzählt der Pädagoge in Rudolfsheim-Fünfhaus, eine Einordnung fehle auf den Plattformen. Die Reflexion über das Gesehene findet – wenn überhaupt – in der Schule statt.
Aber wie verfährt das Bildungssystem damit? Dass in der Mittelschule in Rudolfsheim-Fünfhaus TikTok-Inhalte im Unterricht reflektiert werden, hängt mit dem Engagement der Lehrerinnen und Lehrer zusammen. Dass Lehrkräfte generell Unterstützung durch den Verwaltungsapparat erfahren, sei nicht immer gegeben. „Wenn die Schulleitung nicht proaktiv auf die Lehrerinnen und Lehrer zugeht und sagt, ‚bitte unbedingt besprechen‘, dann kann es auch sein, dass es gar nicht behandelt wird.“
Sobald der Unterricht vorbei ist, stürmen sie auf mich zu: „Herr Lehrer, Handy bitte!“
Medienkompetenz durch Abstinenz
Wo die Grenzen der Aufklärung liegen, zeigt sich, wenn sich der Schultag dem Ende neigt. „Sobald der Unterricht vorbei ist, stürmen sie auf mich zu: ‚Herr Lehrer, Handy bitte!‘“, erzählt ein Lehrer. Manche Jugendliche hätten tägliche Bildschirmzeiten von bis zu 14 Stunden – ein Verhalten, das er mit Suchterscheinungen vergleicht.
Schon vor dem bundesweit verordneten Handyverbot war das Smartphone im Klassenzimmer in Rudolfsheim-Fünfhaus unerwünscht. Aber was tun, sobald die Kinder das Schulgebäude verlassen? Braucht es mehr Engagement durch die Eltern? Lehrkräfte sehen im Elternhaus oft ein ähnliches Problem. „Ich unterrichte 26 Kinder. Nur bei einem Mädchen wird zu Hause wirklich die Bildschirmzeit kontrolliert.“ Zum Teil fehle die Medienkompetenz in den eigenen vier Wänden oder die Eltern leben den exzessiven Handykonsum selbst vor.
Das habe spürbare Auswirkungen auf den Unterricht, berichtet der Pädagoge: Die Konzentration lässt nach, die Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Doch das sei noch das geringere Problem. Viel bedenklicher sei die Gefahr des Cybergroomings – also die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit pädophilen Absichten, um sich schrittweise das Vertrauen von Kindern zu erschleichen. Viele Jugendliche seien sich dieser Gefahr bewusst und könnten entsprechende Situationen richtig einschätzen. „Es gibt aber Kinder, wo noch andere Probleme dazukommen: Kein gefestigtes Umfeld, vielleicht psychisch schon angeknackst oder sie brauchen gerade einfach Menschen, die ihnen zuhören“, so der Lehrer. Gerade sie seien besonders gefährdet.
Was die Kinder mit dem Handy in ihrer Freizeit machen, kann ich nicht kontrollieren.
Fehlendes Problembewusstsein
In Wien-Favoriten berichten Pädagogen über ähnliche Zustände. Zwar gibt es seit 2022 bundesweit das Pflichtschulfach „Digitale Grundbildung“, doch ohne Engagement der einzelnen Lehrkräfte, sei das Fach nicht darauf ausgelegt, den eigenen Medienkonsum zu reflektieren. Theoretische Lehrinhalte divergieren sich von den Lebensrealitäten der Schülerinnen und Schülern.
„Was die Kinder mit dem Handy in ihrer Freizeit machen, kann ich nicht kontrollieren“, erzählt ein Favoritner Mittelschullehrer. Seiner Meinung nach müssten Eltern mehr Verantwortung tragen, Appelle und Aufklärungsangebote zum Umgang mit Medien gäbe es jedenfalls zuhauf, „viele tun sich schwer zu Hause einen klaren Rahmen vorzugeben.“ Ein Problembewusstsein sei leider oft nicht vorhanden, für viele Eltern zählen lediglich die Noten.
Lob fanden alle Lehrer zum Umgang mit dem Grazer Amoklauf durch die Schulbehörden – die Informationskette vom Ministerium bis zum Klassenzimmer habe funktioniert. Doch der Wunsch nach einer systematischen, dauerhaften Leitlinie mit dem Umgang von Social Media im Schulkontext bleibt unerfüllt – bisher passiere das anlassbezogen. „Ich finde das nachlässig“, wird in Wien-Favoriten bemängelt. Besonders im Hinblick auf den Nahost-Konflikt fehle es in der Lehrerschaft an Hintergrundwissen, um TikTok-Inhalte richtig einzuordnen – ein Risiko, gerade bei Jugendlichen mit Fluchterfahrung. „Das kann auch zur Radikalisierung führen.“
Behörden und Politik sind die Herausforderungen bekannt. Terrororganisationen verstehen es, die immer jünger werdende Zielgruppe mit Propaganda anzusprechen, warnte die Sicherheitsbehörde Europol. In Österreich preschten die Grünen mit einem Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige vor. Nach dem Grazer Amoklauf spricht sich auch Vizekanzler und Medienminister Andreas Babler (SPÖ) aus, den Zugang bis zum 15. Lebensjahr einzuschränken.
Dass nun mehrere Parteien ihre Bereitschaft signalisieren, befürworten alle Lehrkräfte, mit denen profil gesprochen hat– ob solche Forderungen technisch umsetzbar sind, wird allerdings bezweifelt. In Favoriten versucht man derweil wenigstens im Kleinen gegenzusteuern: „Es ist arg, wenn mir Kinder erzählen, dass sie nervös werden, wenn sie das Handy nicht in der Hand haben.“