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Ukraine: Die vier Phasen des Krieges - und ein Ausblick

Der russische Angriff auf die Ukraine in vier Episoden (und einem Vorausblick). Siobhán Geets analysiert mit dem Militärexperten Markus Reisner die große Katastrophe dieses Jahres.

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1. SCHOCK: Angriff und Abwehr
Die Helikopter fliegen tief, knattern über einen Apartmentkomplex hinweg und landen schließlich auf dem Flughafen Hostomel bei Kiew. Es ist der Morgen des 24. Februar 2022, wenige Stunden zuvor hat Wladimir Putin den Beginn einer "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine verkündet. Aus den Helikoptern springen russische Soldaten, verschanzen sich hinter Gebüschen und bahnen sich ihren Weg Richtung Flughafengebäude. Es sind Fallschirmjäger der gefürchteten 76. Luftlandedivision aus Pskow. Ihr Auftrag: den strategisch wichtigen Fracht-Flughafen keine zehn Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew einzunehmen, damit Großraumflugzeuge landen und Truppen rasch nach Kiew geschafft werden können. In einem YouTube-Video von der Landung der Russen in Hostomel sieht es aus, als würde alles nach Plan verlaufen. Und tatsächlich gelingt es ihnen, 400 bis 500 Mann auf dem Flughafen abzusetzen und die Abwehrstellungen der Ukrainer auszuschalten-wahrscheinlich hatte ein von den Russen rekrutierter Flughafenmitarbeiter die Positionen der Abwehr verraten.

Die ukrainischen Soldaten, die den Airport schützen sollen, haben den Angreifern nicht viel entgegenzusetzen. Doch sie sind nicht allein. Rasch kommt Verstärkung-und die verfügt über Abwehrwaffen, mit denen die russischen Soldaten nicht gerechnet haben. Mit den wenige Tage zuvor aus den baltischen Staaten gelieferten Stinger-Raketen schießen ukrainische Soldaten fünf Hubschrauber ab. "Da war klar, dass die Folgeoperation der Russen nicht durchführbar ist", analysiert Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Die acht schweren Transportmaschinen, die Soldaten und Material nach Hostomel bringen sollen, können nicht landen, ein massiver Angriff vom Flughafen über Irpin und Butscha nach Kiew ist nicht möglich.

Die Ukraine holt zum Gegenschlag aus und sprengt ein Stauwerk sowie mehrere Brücken am Fluss Irpin nordwestlich von Kiew. Es entsteht ein See, die Russen können nicht übersetzen und ziehen sich auf das Westufer des Irpin zurück. "Die Ereignisse in Hostomel haben den Krieg entscheidend beeinflusst", sagt Reisner: "Der Angriff auf Kiew und der geplante 'Enthauptungsschlag', die Ausschaltung der ukrainischen Regierung innerhalb weniger Tage, ist gescheitert."

In Butscha, einem Vorort nordwestlich von Kiew, beschießt die ukrainische Armee das russische Spitzenbataillon der Fallschirmjäger, also jene 400 bis 500 Mann, die wenige Tage zuvor in Hostomel gelandet waren, mit Raketenwerfern. Von den gut 20 Panzern bleibt wenig übrig. "Danach sind die Russen komplett durchgedreht", sagt Reisner. Die Besetzung Butschas wird zum Massaker.
2. FEGEFEUER: Zivilisten im Visier
Die Bilder der Kriegsverbrechen von Butscha gehen nach dem Abzug der Russen im April um die Welt. Auf den Straßen, in den Gärten und Kellern der Häuser liegen tote Zivilisten, viele mit Schusswunden am Kopf und gefesselten Händen. Insgesamt werden 458 Leichen gefunden, die meisten der Opfer wurden offenbar hingerichtet, die Mehrheit weist Anzeichen von Folter und Misshandlungen auf.

Es ist ein Bild des Schreckens. In einem Keller wird die Leiche einer Frau gefunden, bekleidet nur mit einem Pelzmantel. Soldaten hatten sie vergewaltigt und hingerichtet. In Vorgärten, in Häusern und in den Wäldern liegen Tote, ebenso auf den Straßen, wo vorbeifahrende Truppen wahllos Menschen erschossen haben. Darunter Frauen, Alte, Kinder.

Die Besatzung Butschas wurde zum sadistischen Racheakt an der Zivilbevölkerung. "Sie haben es nicht geschafft, unsere Armee zu besiegen, also haben sie normale Leute erschossen", so fasst es ein Jugendlicher aus Butscha gegenüber der "New York Times" zusammen. Auch in anderen Städten lassen russische Soldaten ihren Frust über die stockende Invasion an den Einwohnerinnen und Einwohnern aus. Bei der Belagerung von Mariupol im Süden und der Bombardierung von Städten wie Kramatorsk und Charkiw im Osten der Ukraine kommen zahlreiche Zivilisten ums Leben. Die Vereinten Nationen gehen von mindestens 1000 Getöteten pro Kriegsmonat aus.

Nach dem erfolglosen Versuch eines "Enthauptungsschlags" in Kiew formieren sich die russischen Truppen im Osten des Landes neu-der Donbas ist nun das Ziel. Sie nehmen auch zivile Ziele ins Visier. Am härtesten trifft es Mariupol am Asowschen Meer. Russische Soldaten belagern die strategisch wichtige Hafenstadt monatelang und bombardieren sie von Land, von See und aus der Luft. Bis zu 20.000 Zivilisten kommen dabei ums Leben. Die Brutalität der Invasoren schockiert die Welt und lässt den Westen im Kampf gegen Russland näher zusammenrücken. Auch Deutschland, das mit der Lieferung schwerer Waffen lange gezögert hat, schickt nach den Verbrechen in Butscha modernes Kriegsgerät, Panzer und Artillerie in die Ukraine, darunter das Fliegerabwehrsystem "Iris-T". Immer mehr Waffen und Ausrüstung gelangen ins Land. Damit gelingt den Ukrainern schließlich die Wende. 
3. GEGENOFFENSIVE: Rückeroberung
Der Gegenschlag der Ukraine Anfang September beginnt mit einem Täuschungsmanöver. Seit Wochen gibt es Gerüchte über eine bevorstehende ukrainische Offensive im Süden des Landes. Russland hat etliche Truppen aus dem Osten in den Süden verlegt, doch plötzlich greift die ukrainische Armee im Osten an -und erobert innerhalb weniger Tage die zweitgrößte Stadt Charkiw.

"Das war ein durchschlagender Erfolg der Ukraine", sagt Militärexperte Reisner -und erklärt, wie sich die Rückeroberung Charkiws zugetragen hat: Anfang September versammeln sich die Russen in Isjum im Oblast Charkiw. Der Plan: Richtung Süden vorzustoßen, wo ihren Annahmen zufolge der Fokus der ukrainischen Offensive liegen würde.

Der Angriff der Ukrainer von Norden kommt überraschend. Einer Kampftruppe von 500 bis 600 Mann gelingt es mit Panzern und Schützenpanzern, den schwächsten Punkt der russischen Stellungen an der Frontlinie bei Balaklija zu durchbrechen und die Russen zu überholen. "In den Dörfern und Städten haben sie ukrainische Flaggen gehisst und die Bilder davon über Starlink auf Telegram gestellt", sagt Reisner. Das trickreiche Manöver funktioniert: Unter den russischen Truppen bricht Panik aus. Die Soldaten fürchten, von den Ukrainern eingekesselt zu werden, und fliehen Hals über Kopf Richtung Osten. Dabei lassen sie massenhaft schweres Kriegsgerät zurück.

Die Russen müssen große Gebietsverluste hinnehmen und sich jenseits des Flusses Oskil östlich von Charkiw zurückziehen. "Der Durchbruch bei Balaklija wird vermutlich in die Geschichte eingehen, er hat die dritte Phase des Krieges eingeleitet", sagt Reisner: die Phase der Gegenangriffe.

Dazu gehört auch die Rückeroberung Chersons. Anfang November ziehen sich die russischen Truppen überraschend aus der Seehafenstadt im Süden des Landes zurück. Es ist der bisher größte Rückschlag für die Angreifer: Der Plan, die Ukraine zu einem Binnenland zu machen, ist in weite Ferne gerückt.

Reisner wundert sich, wie geordnet der Rückzug der rund 30.000 russischen Truppen aus Cherson auf die Ostseite des Flusses Dnepr abgelaufen ist. Wieso hat die Ukraine nicht die Chance ergriffen, den Gegner aufzumischen? Bei ihrem Rückzug wären die russischen Truppen ein einfaches Ziel gewesen, doch die ukrainische Armee ließ sie samt Ausrüstung und Waffen abziehen. "Das ist verblüffend", sagt Reisner, "und ein Hinweis darauf, dass es im Hintergrund Verhandlungen gegeben haben könnte."
4. ZERMÜRBUNG: Angriff auf Infrastruktur
Am Vormittag des 31. Oktober, dem 250. Tag des Krieges in der Ukraine, sind in Kiew schwere Explosionen zu hören. Im ganzen Land gehen Raketen nieder, es sind die schwersten Angriffe auf die Energieversorgung seit Kriegsbeginn. Etliche Kraftwerke werden getroffen, darunter das Wasserkraftwerk am Saporischschja-Stausee. Schwarzer Rauch steigt auf, im halben Land fällt der Strom aus, auch Wasser fließt vielerorts nicht mehr. Wenige Tage zuvor hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Ukrainerinnen und Ukrainer vor einem längeren Blackout gewarnt, nun ist es so weit. Am Abend liegt auch die Hauptstadt im Dunklen, Millionen Menschen sitzen ohne Strom in kalten Wohnungen.

Seit Anfang Oktober gibt es im Ukraine-Krieg eine neue Front. Sie bewegt sich entlang kritischer Punkte zur Versorgung mit Energie. Das ganze Land ist betroffen, auch im Westen schlagen wieder Raketen ein. "Die strategische Ebene ist die anhaltende Zerstörung der kritischen Infrastruktur mit ballistischen Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern", sagt Militärexperte Reisner. Ziel sei, den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen und Kiew in Verhandlungen zu zwingen. Je schlimmer die Situation für die Menschen, so das Kalkül des Kreml, desto größer die Bereitschaft der Regierung, sich mit Moskau an den Tisch zu setzen. 

Die Ukraine ist nun, neben den anhaltenden Kämpfen im Süden und Osten des Landes, mit der Reparatur der kritischen Infrastruktur beschäftigt. Es fehlt an Generatoren und Heizgeräten, an Diesel und elektronischen Bauelementen wie Transformatoren. Die USA haben Kiew 50 Millionen Dollar für die Instandhaltung der Energieversorgung zugesagt, die Geberkonferenz in Paris einigte sich auf ein Winterhilfspaket im Ausmaß von 1 Milliarde Euro. Doch wird das reichen? Die russischen Angriffe brechen nicht ab.

Die große Frage sei, wie lange die Ukraine das durchhalten könne, sagt Reisner. In der sogenannten Schlammphase, in der die Böden nicht gefroren sind, könnten sich Truppen schlecht bewegen, doch nun gibt es mit der Energie eine neue Front, an der die Ukraine geschwächt wird.

Bitternötig sei nun zweierlei: Bauteile und Ausrüstung für die Stromversorgung sowie moderne Fliegerabwehrsysteme. Die Lieferungen aus dem Westen verzögern sich, und was ankommt, ist zu wenig. Sollen Zivilbevölkerung und kritische Infrastruktur geschützt werden, braucht es laut Reisner mindestens 2000 Fliegerabwehrsysteme mit kurzer, 150 mit mittlerer und 100 mit hoher Reichweite.
5. PATT: Der Winterkrieg
Am 8. Oktober gelingt den ukrainischen Streitkräften ein Coup: In den frühen Morgenstunden fährt ein mit Sprengstoff beladener Lkw über die Kertsch-Brücke, die Russland mit der Krim verbindet. In der Mitte der Brücke fliegt die Ladung in die Luft und setzt die Treibstofftanks eines parallel fahrenden Zugs in Brand. Mehr als 270 Meter Fahrbahn sind zerstört -ein Schaden, der die Lieferungen aus Russland in die Südukraine erheblich verzögert.

Beobachter vermuten, dass es nicht bei dem einen Angriff auf die Brücke bleiben wird. Immerhin gilt sie als Lebensader für die Versorgung der russischen Truppen in der Südukraine. Der Großteil wird mit der Bahn über die Kertsch-Brücke abgewickelt.

Zwar liegt die Brücke außerhalb der Reichweite der ukrainischen Artillerie. Doch das könnte sich bald ändern. Militärexperte Reisner geht davon aus, dass die Ukraine noch im Winter versuchen wird, von Saporischschja aus Richtung Asowsches Meer vorzudringen, um die Brücke mit weitreichenden Waffensystemen anzugreifen und zu zerstören. Gelingt das, wären die russischen Soldaten von der Versorgung abgeschnitten. Mit großen Truppenbewegungen ist frühestens Ende Jänner zu rechnen. Russland werde die kommenden Wochen dazu nutzen, seine Defensivlinien zu stabilisieren, sagt Reisner. Das Ziel sei, das Südufer des Dnepr abzusichern und die Truppen mit den eingezogenen Reservisten zu stärken. Damit könnten die Russen im Frühjahr einen neuen Vorstoß in Donezk versuchen. Gelingt es, den gesamten Donbas einzunehmen, könnte Putin das zu Hause als Teilsieg verkaufen, der aus russischer Sicht den Weg für Verhandlungen ebnet. 

Und Kiew? Im Moment sei die Ukraine noch fest entschlossen und nicht verhandlungsbereit, sagt Reisner. Auch Selenskyj brauche ein Ergebnis, das er der Bevölkerung als Sieg verkaufen könne - ohne eine Rückeroberung der Krim sei das schwierig.

Reisner glaubt, dass der Abzug der Russen aus Cherson der Anfang von Gesprächen sein könnte: "Es kann sein, dass die USA mit den Russen verhandeln und dafür gesorgt haben, dass sie ungehindert aus Cherson abziehen können. Das würde auch erklären, wieso die Ukrainer sie gewähren ließen." Womöglich erhofften sich die USA davon einen ersten Schritt für größere Verhandlungen.

Oberst Markus Reisner

Jahrgang 1978, ist Leiter der Forschungs-und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit Kommandant der Garde des Österreichischen Bundesheeres. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien. Zuletzt erschien im Kral Verlag mit "Die Schlacht um Wien 1945" sein Buch über die "Wiener Operation" der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.