Dann ließen sie die Hunde los

Ungarn: Dokumente über Misshandlungen von Asylsuchenden

Werden Flüchtlinge und Migranten von Viktor Orbáns Grenzbeamten systematisch misshandelt?

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Es war eine Nacht Mitte Jänner, in der es heftig schneite im Flachland an der serbisch-ungarischen Grenze - perfekte Bedingungen für zwei Dutzend Flüchtlinge, die hofften, unbemerkt zu bleiben, wenn sie ein Loch in den Stacheldrahtzaun schneiden und auf die andere Seite wechseln würden.

Doch die Männer aus Indien und Pakistan kamen nicht weit. Nur knapp einen Kilometer waren sie ins Landesinnere vorgedrungen, als sie gestoppt wurden. Der Grenzzaun, den der ungarische Regierungschef Viktor Orbán im Herbst 2015 errichten ließ, wird zur effizienten Sperranlage ausgebaut. An etlichen Stellen registrieren Infrarot- und Wärmebildkameras verdächtige Menschenbewegungen.

"Ungefähr 50 Ungarn haben uns eingekreist“, erzählt Bilal, ein 26-jähriger Inder aus der Gruppe: "Wir mussten uns auf den von Eiswasser bedeckten Boden setzen. Dann begannen sie uns zu treten und zu schlagen. Gut eine Stunde dauerte das.“ Osman, ein zwölfjähriger Junge aus Pakistan, war in derselben Gruppe. Sein rechtes Bein ist im unteren Bereich einbandagiert. "Ihm haben sie in den Knöchel getreten, immer wieder“, sagt Bilal: "Und die Schuhe und die Jacke haben sie ihm auch weggenommen.“ Anschließend hätten die ungarischen Grenzwächter die Asylsuchenden durch ein Servicetor im Grenzzaun nach Serbien zurückgetrieben. Ähnliches erzählt der 30-jährige Adnan Mohammed und zeigt Fotos von seinem blau geschlagenen Auge.

Dann ließen sie die Hunde los

Bilal, Osman und ein paar Dutzend andere Flüchtlinge hausen in den Ruinen der alten Ziegelei am Rand der nordserbischen Grenzstadt Subotica. Fast alle versuchten vergeblich, den ungarischen Grenzzaun zu überwinden und über das Schengenland Ungarn Westeuropa zu erreichen, manche sogar mehrmals. Immer wurden sie ertappt und in vielen Fällen, so berichten sie, von ungarischen Grenzschützern misshandelt. Die Uniformierten hätten sie mit Fäusten, Tritten und Schlagstöcken traktiert, Hunde seien auf sie gehetzt, ihre Smartphones zertreten worden. Kleidung und Geld habe man ihnen abgenommen.

Die Vorwürfe lassen sich nicht unmittelbar beweisen. Die ungarische Regierung bestreitet, dass ihre Grenzbeamten Gewalt gegen Flüchtlinge anwenden. Doch nicht nur die Erzählungen der mutmaßlichen Opfer, sondern auch die medizinischen Befunde von Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen deuten darauf hin, dass es hinter dem mit rasiermesserscharfem Stacheldraht bewehrten Grenzzaun, der die Puszta-Landschaft zwischen Serbien und Ungarn durchschneidet, brutal zugeht.

Rund 8000 Flüchtlinge und Migranten sitzen derzeit in Serbien fest. Das ist im Vergleich zum Vorjahr keine große Zahl. Seit im März 2016 die Balkanroute weitgehend abgeriegelt wurde, schaffen es viel weniger Menschen bis auf den Balkan. Etliche von ihnen machen ihren Weg unerkannt durch Ungarn und erreichen Österreich oder andere westliche Länder.

Soll die kolportierte brutale Behandlung sie davon abschrecken, es ein weiteres Mal zu versuchen?

Alle in Ungarn Ertappten jedoch werden über die Grenze nach Serbien zurückgeschoben. An sich ist das eine Praxis, die das UN-Flüchtlingshochkommissariat Unhcr und Menschenrechtsorganisationen für völkerrechtswidrig halten. Wer den ungarischen Grenzwächtern in die Arme läuft, kann keinen Asylantrag mehr stellen. Soll die kolportierte brutale Behandlung sie davon abschrecken, es ein weiteres Mal zu versuchen?

"Ja, natürlich haben wir gerufen: Asyl! Asyl!“, erzählt Salman Khan, ein 24-jähriger Pakistaner, der sich wie rund 700 andere Flüchtlinge in den leeren Hallen des ehemaligen Zolllagers beim Belgrader Bahnhof eingerichtet hat. "Aber die Grenzpolizisten haben nur, Go back to Serbia!‘ geschrien und mit Schlagstöcken auf uns eingeprügelt.“ Am Kopf hat der junge Mann eine frische Platzwunde, die er bei den Misshandlungen davongetragen haben will. Auch am Rücken und am Gesäß sei er verletzt, sagt Khan; die Wunden will er aus Schamgefühl aber nicht entblößen.

Der 30-jährige Afghane Shams hat ein blutunterlaufenes Auge. "Ungarische Grenzpolizisten, vor zwei Tagen“, sagt er: "Wir waren etwa 30 Leute. Zwei oder drei Kilometer hinter der Grenze haben sie uns gestellt. Sie haben mit Schlagstöcken auf uns eingeprügelt und uns mit Fausthieben und Tritten misshandelt.“

Drei Techniken der Gewalt

Wasim, ein 22 Jahre alter Asylsuchender aus den nordwestlichen Stammesgebieten Pakistans, berichtet, er habe im Abstand von ein paar Wochen zwei Mal versucht, über die Grenze zu kommen. Beim ersten Mal seien er und seine Begleiter von den Grenzwächtern geschlagen worden, beim zweiten Mal habe man Hunde auf sie gehetzt. Trotzdem will er es wieder probieren. Seine Familie hat 1500 Euro zusammengelegt, um ihm mithilfe von Schleppern die Flucht nach Europa zu ermöglichen. Das Geld liegt bei einem "Vermittler“ in Pakistan. Der Schlepperring bekommt es erst ausbezahlt, wenn sich der "Kunde“ aus dem Zielland meldet. In Wasims Fall ist das Italien.

Ärzte ohne Grenzen (MSF) betreibt in Belgrad in Bahnhofsnähe eine Nothilfeklinik für Flüchtlinge. Das medizinische Personal der Organisation behandelt immer wieder Blessuren. Andrea Contenta, der Beauftragte für humanitäre Angelegenheiten bei MSF Serbien, räumt ein, dass "wir die Täter nicht kennen“. Es gebe aber bestimmte Muster, die sich aus den Verletzungen der Patienten herauslesen lassen: "Es sind im Großen und Ganzen drei Techniken der Gewalt: Verprügeln, gewöhnlich mit Stöcken, aber auch mit Fäusten und Tritten, Hundebisse und Pfefferspray oder Tränengas.“

Selbst Minderjährige unter den Asylsuchenden werden demnach nicht geschont. Von 106 Verletzungsopfern, die Ärzte ohne Grenzen hier zwischen Jänner 2016 und Februar dieses Jahres versorgten, waren 22 jünger als 18 Jahre.

Das Schlagen und Treten beschränkt sich nicht auf die serbisch-ungarische Grenze. Von Misshandlungen wird auch aus Bulgarien und Mazedonien häufig berichtet, gelegentlich aus Kroatien und Serbien.

Keine regulären Fluchtwege nach Europa

Da es keine regulären Fluchtwege nach Europa mehr gibt, sind die Flüchtlinge ganz auf Schlepper angewiesen und deshalb mit manchmal tödlichen Gefahren konfrontiert. "Seit Anfang 2017 sind zwischen Griechenland und Ungarn, in den Gebirgen des Balkans, sieben Flüchtlinge erfroren“, spannt Contenta den weiteren geografischen Bogen: "Und das sind nur die Fälle, die wir kennen.“ Insgesamt wurden zwischen dem 1. Jänner und dem 8. März 26 unnatürliche Todesfälle auf der Balkanroute registriert, unter anderem durch Ertrinken, Autounfälle und Selbstmord. "Außerdem haben wir alleine in Belgrad 36 Patienten wegen Erfrierungen behandelt, davon zehn schweren Grades. Einem 15-Jährigen musste etwa ein Finger amputiert werden.“

In Ungarn stapeln sich die Berichte über Misshandlungen bei Anhaltungen und Rückschiebungen. Die Regierung in Budapest beteuert jedoch, dass es dabei korrekt zugehe. "Es besteht nicht die geringste Chance, dass irgendjemand in Ungarn misshandelt wird, denn jede Amtshandlung wird per Video dokumentiert“, wies Orbáns Kanzleramtsminister János Lázár die Vorwürfe zurück. "Die Behauptungen von MSF sind Lügen“, drückte es Regierungssprecher Zoltán Kovács noch drastischer aus.

Die kategorischen Aussagen der beiden Offiziellen stehen allerdings im Widerspruch zu den Angaben der eigenen Justiz. Zwischen 1. September 2015 und 8. März dieses Jahres gingen bei der Staatsanwaltschaft in Szeged 44 einschlägige Strafanzeigen ein. In 40 Fällen ermittelte die Behörde, in 31 davon stellte sie das Verfahren wegen "Mangels an Beweisen“ ein. Fünf Verfahren sind noch anhängig. In immerhin zwei Fällen kam es zu Anklageerhebungen und sogar rechtskräftigen Verurteilungen.

Zu diesen teilte das Gericht in Szeged auf Nachfrage von profil mit: Ein Oberstabswachtmeister der Polizei erhielt wegen Tätlichkeit im Dienst eine Geldstrafe von 130.000 Forint (422 Euro), ein Zugführer der Armee wegen Tätlichkeit und Körperverletzung im Dienst eine Geldstrafe von 300.000 Forint (973 Euro). Der Polizist hatte Flüchtlingen durch den Grenzzaun hindurch aus unmittelbarer Nähe Tränengas ins Gesicht gesprüht, der Soldat einem am Boden sitzenden Flüchtling das Knie ins Gesicht gerammt.

"Sie wähnen sich im Recht"

Etwas weniger als die Hälfte der Anzeigen kam von den ungarischen Behörden selbst, während die anderen Klagen von den Betroffenen, vom Unhcr, von MSF oder von Menschenrechtsorganisationen eingereicht wurden. "Die Verurteilungsrate ist deshalb so niedrig, weil sich die Vorwürfe schwer beweisen lassen“, sagt Zsolt Zádori, Sprecher des Ungarischen Helsinki-Komitees (MHB): "Oft sind die einzigen greifbaren Zeugen die Kameraden der Täter, und da hält man zusammen und sagt nichts.“ Die lang anhaltenden Hetzkampagnen der Orbán-Regierung gegen Flüchtlinge und Migranten hätten außerdem einen "Erwartungsdruck“ geschaffen, dem Polizisten und Soldaten an der Grenze zu entsprechen trachteten: "Sie wähnen sich im Recht, wenn sie da mal kräftig hinlangen, und sie glauben, dass sie damit die Flüchtlinge davor abschrecken, es wieder zu probieren. Sie glauben, dass sie damit etwas Gutes für das Land tun“, sagt Zádori.

Auch das Helsinki-Komitee vertritt immer wieder Flüchtlinge gegenüber ungarischen Behörden oder auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Als Beispiel erwähnt Zádori den Fall eines jungen Syrers, der im vergangenen Sommer in einem toten Arm des Grenzflusses Theiß ertrank. Der Bruder und der Cousin des Ertrunkenen gaben an, die ungarischen Grenzwächter hätten sie mit Erdbrocken beworfen, als sie sich dem ungarischen Ufer näherten. Der Syrer, der einen Rucksack trug, kehrte daraufhin um und versank offenbar aus Erschöpfung in den Fluten.

Das Helsinki-Komitee vertrat die überlebenden Angehörigen. "Leider hatten wir in diesem Fall keinen Erfolg“, berichtet Zádori: "Die Aussagen der Überlebenden standen im Raum. Aber das Verfahren wurde eingestellt, weil die beschuldigten Grenzwächter nicht mehr aufzufinden waren.“

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 13 vom 27.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.