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Verwirrte Pazifisten: Die Friedensbewegung hat sich verlaufen

Hunderttausende gingen einst gegen Kriegsgräuel, Angriffskriege und atomare Erstschlagsfantasien auf die Straße. Was ist jetzt anders?

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Es herrscht Verwirrung in der pazifistischen Seele, die mit gutem Grund einwendet, man solle nicht so tun, als sei das Massaker der Skandal, der den Ruf eines ordentlich geführten Krieges beschädige, der Krieg selbst sei das Übel. Doch die Lehre aus der Geschichte trägt eine Doppelbotschaft: "Nie wieder Krieg" und "Nie wieder Faschismus" - beides ist gegen den Aggressor gerichtet.

Die Geburtsstunde der amerikanischen Friedensbewegung, die zeitverzögert die europäische Jugend ergriff - das waren weltweit verbreitete Bilder, die zeigten, was US-Soldaten in Vietnam anrichteten: zerstörte Dörfer, von Napalm verbrannte Kinder. Auf Vietnam wurden mehr Bomben geworfen als auf alle Schauplätze des Zweiten Weltkrieges zusammen.

Es waren Bilder, die nach Weisung des amerikanischen Außen- und Verteidigungsministeriums nicht hätten gezeigt werden dürfen, da sie "dem nationalen Interesse zuwiderlaufen". Große Fernsehstationen brachen den Bann. Am 20. November 1969 wird ein CBS-Beitrag mit der Warnung "jugendgefährdend" angekündigt. Es folgt eine lange Kamerafahrt, aufgenommen in My Lai: erschossene Bauern, Frauen, Kinder und Babys auf Feldwegen; ein Soldat erzählt vor der Kamera, wie er seine Waffe auf Automatik gestellt hat: "Deshalb kann man nicht sagen, wie viele man erschossen hat. Ich schätze an die 370." (aus Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten). Das Bild des schreienden Mädchens, das vor Napalmbränden davonläuft, wurde ikonografisch. Diese Bilder waren der Anfang vom Ende des Krieges, US-Bombardements wurden eingestellt, Bodentruppen langsam abgezogen. An der prinzipiellen Unterstützung revolutionärer Befreiungsbewegungen änderte das nichts. "Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam", gesungen von Country Joe McDonald, wurde auch in Europa zur Hymne einer friedensbewegten Generation.

In den 1980er-Jahren entstand etwas Neues. Ohne Bilder. Gespeist von der Angst vor einem Atomkrieg. Es waren die bisher größten Massendemonstrationen in Europa. Junge Leute waren auf der Straße, die Generation der Babyboomer, die heute dazu neigt, der Ukraine die Kapitulation zu empfehlen, um den Aggressor Putin nicht zu reizen.

Anfang der 1980er-Jahre war Ronald Reagan, der das "Totrüsten des Ostens" als Ziel ausgab, ins Weiße Haus eingezogen. Eine neue Technologie von Atomwaffen stand bereit: kleine, flexible Sprengköpfe, die auf Raketen (Pershing II und Cruise Missiles) montiert werden; Sprengköpfe, die nicht mehr die Zerstörungskraft einer Hiroshima-Bombe haben, dafür aber relativ präzise und schnell (eine Pershing II überwindet 1800 Kilometer in vier bis zehn Minuten) ihre Ziele erreichen können. Namhafte Rüstungsexperten warnten: Mit solchen Waffen sei die Büchse der Pandora geöffnet, sie nähren die Illusion eines siegreichen Erstschlags, doch ein Atomkrieg lasse sich nicht begrenzen.

Der damalige deutsche SPD-Kanzler Helmut Schmidt befürwortete-gegen viele Kritiker aus seiner Partei-die Stationierung von Mittelstrecken-Raketen mit atomaren Sprengköpfen in Europa mit folgendem Argument: Sollte die Sowjetunion Europa atomar angreifen, wolle man in der Verteidigung nicht allein auf die Interkontinentalraketen aus den USA angewiesen sein.

Die Sowjetunion schlug 1982 einen vertraglichen Verzicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen vor. USA und NATO lehnten ab. Alternativen wurden verhandelt.

Nach einer internationalen Gallup-Umfrage war in den 1980er-Jahren die Bevölkerung in fast allen europäischen Ländern mehrheitlich gegen die Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen. Sie wurden dennoch stationiert. Aus Teilen der Friedensbewegung gingen Grüne Parteien hervor.

Im vergangenen Jahrzehnt wurde das Atomwaffenarsenal der USA und der NATO in Europa um ein Drittel reduziert. 100 Atomwaffen sind in Europa verblieben. Einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen haben bisher nur die Atommächte China und Indien erklärt.

Die Friedensbewegung hat sich verlaufen. Die Haltung, dass der Feind im Westen stehe, hat sich offenbar festgesetzt. Nicht bei allen. Der ehemalige Sekretär der Friedensbewegung, Peter Steyrer, der heute im Büro von Vizekanzler Werner Kogler die außenpolitischen Angelegenheiten koordiniert, sagt: "In dieser Lage ist gewaltfreier Widerstand für die Ukraine leider keine Option."

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling