Vote for Biden!

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Robert Treichler empfiehlt den früheren Vizepräsidenten als beste Antithese zu Donald Trumps grotesker Selbstüberschätzung.

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Warum um alles in der Welt Joe Biden? Ein Mann, der kaum echte Fans hat, der keine Begeisterungsstürme auslöst und dessen Wahlkampfveranstaltungen in freundlich-höflicher Atmosphäre ablaufen, aber nie in Euphorie münden. Da ist keine ideologisch hochmotivierte Anhängerschaft wie bei Elizabeth Warren, keine „Feel the Bern“-Bewegung wie bei Bernie Sanders. Wieso also soll ausgerechnet Biden der Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden?

Man könnte es sich leicht machen und lapidar antworten: Weil er zwar keine fanatische Gefolgschaft hat, dafür aber mehr Stimmen als jeder seiner Mitbewerber. Seit der ehemalige Vizepräsident von Barack Obama (2009–2017) im April des vergangenen Jahres seine Kandidatur bekannt gegeben hat, liegt er in so gut wie jeder landesweiten Umfrage vorn – unter den Demokraten und auch im virtuellen Match gegen Amtsinhaber Trump.

Emotionales Versprechen

Mit größerer Wahrscheinlichkeit gewählt zu werden, sollte bei der anstehenden wichtigsten Wahl der Welt kein zu vernachlässigendes Kriterium sein. Aber hinter Bidens Erfolg steckt ein Versprechen, das weniger politisch ist als vielmehr emotional.

Joseph „Joe“ Robinette Biden, geboren 1942 in Pennsylvania als Kind einer katholisch-irischen Familie, hat mit seinen 78 Jahren ein langes Leben hinter sich; Eines, das von vielen Schicksalsschlägen gezeichnet ist. Im Dezember 1972 war Biden eben zum Senator von Delaware gewählt worden, als seine Ehefrau Neilia und ihr gemeinsames Kind Naomi bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten. Die beiden Söhne Hunter und Beau wurden dabei verletzt. 2013 wurde bei Beau ein Gehirntumor diagnostiziert. Vater Joe versuchte, gleichzeitig seinen Job als Vize-Präsident der USA und seine Verpflichtung, für Beau da zu sein, unter einen Hut zu bringen. 2015 starb Beau. Biden schrieb darüber das Buch „Promise Me, Dad“ (Versprich mir, Vater), in dem er die Bedeutung der Familie angesichts des schmerzlichen Verlusts des eigenen Kindes thematisierte.

Das Vertrauen, das viele Amerikaner in Biden setzen, beruht weniger darauf, dass er die durchschlagenden Konzepte parat hat, sondern, dass er als Person besser als alle anderen Kandidatinnen und Kandidaten geeignet ist, die gespaltene Gesellschaft zu einen.

Respekt wiederherstellen

Diese Wahlempfehlung für Joe Biden beruht auf genau dieser Annahme: Die USA befinden sich nach vierjähriger Amtszeit von Präsident Donald Trump in einer politisch wie emotional beklagenswerten Verfassung. Das Rabaukentum, das Hasardspiel und die Aggressivität des Mannes im Weißen Haus haben das Verhältnis breiter Gesellschaftsschichten zueinander zerrüttet. Was Amerika jetzt braucht, ist ein Präsident, der den Respekt vor allen Bürgern, Minderheiten und Institutionen wiederherstellt; und einen Wahlsieger, der am Abend des 3. November nicht den Triumph über den geschlagenen Gegner auskostet, sondern der auch der unterlegenen Seite eben diesen Respekt entgegenbringt.

Die überzeugendste Antithese zu Trumps grotesker Selbstüberschätzung ist Bidens Demut, die ihn Tragödien gelehrt haben.

Das ist, zugegeben, eine sehr unpolitische Begründung für eine Wahlempfehlung. Aber erstens geht Trumps Wirken weit über die Sphäre politischer Handlungen hinaus, und zweitens ist Joe Biden seit einer Ewigkeit Politiker – dreieinhalb Jahrzehnte als Senator, zwei Amtszeiten als Vizepräsident. Sein erster Versuch einer Präsidentschaftskandidatur datiert aus dem Jahr 1988.

„Es ist an sich nichts falsch am System“

Eine Konstante dabei war die Nähe zu den Benachteiligten, die Biden als Katholik – Katholizismus ist in den USA eine Minderheitsreligion – und Ire – die Repressionsgeschichte der Iren wirkt in Amerika seit jeher identitätsstiftend – zu seiner Trademark machte. Auch deshalb fiel ihm der Kontakt zur afroamerikanischen Community so leicht, die ihn bis heute unterstützt.

Ihn politisch einzuordnen, fällt bei Biden nicht allzu schwer. Er gehört zum nicht linken Establishment der Demokraten, radikale Ansätze sind nicht das Seine: „Es ist an sich nichts falsch am System.“ Wenn man ihn lässt, wird der Mitte-Politiker im Wesentlichen Barack Obamas Politik fortsetzen, unter Einbindung der von Trump entledigten Republikaner. Das klingt unspektakulär, doch man sollte eine solche Rückbesinnung auf Normalität und Verlässlichkeit nicht unterschätzen.

Joe Biden wird keine Begeisterungsstürme auslösen, falls er gewinnt. Er war nie ein idealer Präsidentschaftskandidat, Fauxpas und schwerwiegende Fehltritte inklusive. Jetzt ist er von allen der Geeignetste.

Das hat Donald Trump aus ihm gemacht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur