Marina Litwinenko, die Witwe des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko, ist seit 2001 britische Staatsbürgerin und lebt mit ihrem Sohn in London. Im Jahr 2006 wurde ihr Mann durch den radioaktiven Stoff Polonium-210 vergiftet. Die Bilder des blassen, dünnen Mannes im Krankenbett gingen damals um die Welt. Wenig später starb Alexander Litwinenko in einem Londoner Spital. Litwinenko war Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB und später des russischen Nachfolgers FSB gewesen, bevor er überlief und Informant des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 wurde. Litwinenko trat als scharfer Kritiker Putins auf und verschrieb sich dem Kampf gegen Korruption und kriminelle Machenschaften in seinem Herkunftsland.
Seine Witwe Marina Litwinenko erinnert seit fast zwei Jahrzehnten unermüdlich daran, dass die Mörder ihres Mannes bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Lässt sich zumindest die Debatte im Vorfeld der Wahlen beeinflussen – von Oppositionellen und Kreml-Kritikerinnen wie Ihnen?
Litwinenko
Ich sehe seit dem Jahr 2000, was mit Russland geschieht – Jahre vor dem Mord an meinem Mann. Er war ein ehemaliger Offizier des Sicherheitsdienstes, der dem Regime schon 1998 Korruption und kriminelle Machenschaften vorgeworfen hatte. Als Putin 2000 Präsident wurde, war klar: Es wird schlimmer. Und das wurde es, auch wenn Moskaus Partner im Westen das nicht sehen wollten. In Russland bewegt sich in der politischen Debatte nichts. Solange die Gesellschaft Putin in diesem Krieg unterstützt – wie können wir dann über die Zukunft Russlands sprechen und über Wahlen? Seit 2022 liegt meine ganze Hoffnung in der Ukraine. Der Westen muss der Ukraine alles geben, um den Krieg zu gewinnen. Denn die Zivilgesellschaft in Russland wird viele Jahre lang nichts ändern können.
Wenn Wahlen in Russland nicht zum Wandel führen können, was dann?
Litwinenko
In Russland regt sich Unmut bei den Frauen, deren Männer und Söhne im Krieg sind. Sie sind zwar nicht gegen den Krieg per se, aber sie leiden darunter, dass ihre männlichen Verwandten als Soldaten sterben. Die Einstellung gegenüber dem Krieg muss sich ändern, den Anfang könnten die Frauen machen. Einige gehen schon auf die Straße. Es ist eine kleine Bewegung, aber es könnte etwas Größeres daraus werden.
Muss Putin Angst vor Müttern haben? Beim Krieg gegen Tschetschenien haben sie Mitte der 1990er-Jahre durchaus Einfluss gehabt.
Litwinenko
Ja, beim Krieg in Tschetschenien gab es eine Bewegung in Russland. Eine Million Menschen haben gegen den Krieg unterschrieben, die Petition wurde dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin übergeben. Das wäre heute nicht mehr möglich – jeder, der so eine Kampagne startet, wäre sofort im Gefängnis! Heute ist Russland anders. Das Land ist wie eine Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann.
Marina Litwinenko kämpft dafür, dass politische Morde als solche anerkannt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Für sie ist klar, wer den Mord an ihrem Mann in Auftrag gegeben hat: Wladimir Putin. Gesichert ist, dass zwei russische Agenten Alexander Litwinenko das Gift in einem Londoner Restaurant in den Tee gemischt hatten. Ausgeliefert wurden sie nicht, einer von ihnen, Andrei Lugowoi, ist sogar Politiker geworden und für die rechtsextreme Partei LDPR in die Duma eingezogen.
In London zogen sich die Untersuchungen hin, erst 2016 kam ein Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass der russische Geheimdienst den Mord in Auftrag gegeben hatte – „wahrscheinlich“ mit Billigung Putins.
Litwinenko fordert seit Jahren Sanktionen gegen Putin – bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine vergeblich. Dabei hat Putin nach dem Mord an Litwinenko wohl noch weitere Attentate in Auftrag gegeben. Im Jahr 2018 überlebten der russische Ex-Agent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia einen Giftanschlag im britischen Salisbury nur knapp. Dasselbe gilt für den 2020 vergifteten Oppositionsführer Alexei Nawalny.
Sie haben in der Vergangenheit kritisiert, wie lange es gedauert hat, bis Großbritannien Untersuchungen zum Mord an Ihrem Mann gestartet hat. Offenbar wollte man die Beziehungen zu Moskau nicht gefährden …
Litwinenko
Die Untersuchungen haben damals sofort angefangen. Doch die Verdächtigen, allesamt Russen, wurden nicht ausgeliefert. Es hat fünf Jahre gebraucht, bis es zur gerichtlichen Prüfung des Falls kam, aber die Briten haben sich korrekt verhalten. Allerdings hat die Regierung gezögert, die Ergebnisse der Untersuchungen publik zu machen.
Wieso?
Litwinenko
Ich denke, weil sie den Kreml und Putin nicht irritierten wollten. Wäre publik geworden, dass Wladimir Putin hinter dem Anschlag auf meinen Mann steckt, hätte London mit aller Härte reagieren müssen. Außerdem haben die britischen Sicherheitsdienste darin versagt, meinen Mann zu schützen. Er hat Korruption und kriminelle Machenschaften in Russland ans Licht gebracht. Jetzt, mit dem Krieg in der Ukraine, sehen alle das wahre Gesicht Russlands. Dabei gab es dafür schon viele Anzeichen: 2006 mit dem Mord an meinem Mann, 2008 mit dem Krieg in Georgien, 2014 mit der Annexion der Krim …
… 2018 mit der Vergiftung der Skripals, im Jahr 2020 schließlich mit dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny …
Litwinenko
Und nichts ist geschehen. Ehemalige westliche Politiker machen bis heute Geschäfte in Russland. Die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl lebt sogar dort!
Westliche Politiker, darunter österreichische, behaupten, sie hätten nicht ahnen können, wozu Putin fähig ist. Was sagen Sie ihnen?
Litwinenko
Der damalige britische Premier Tony Blair war der erste westliche Politiker, der Putin als neuen Anführer Russlands salonfähig machte. Bereits 2003 sah er, wie Putin sich veränderte, wie er selbstsicherer wurde, arroganter. Der Westen hat versucht, die Balance zu halten, sie wollten Geschäfte mit Russland machen, um den Frieden zu wahren. Im Jahr 2004, während der Orangen Revolution in der Ukraine, nutzte Russland seine Gaslieferungen als politische Waffe und ließ das Gas nicht mehr durch die Ukraine fließen. Alle waren entsetzt über dieses Signal: Wenn ihr nicht macht, was wir wollen, gibt es Probleme. Doch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel dachte immer noch, dass Geschäfte mit Russland eine Garantie für Frieden sind!
Selbst wenn Putin verschwindet, das System würde bleiben. Was braucht es, um es zu überwinden?
Litwinenko
Sollte Putin sterben, würde das System vielleicht geschwächt. Leute, die nach ihm kämen, müssten neue Verbindungen zum Westen aufbauen. Dieses Mal müsste der Westen strenger sein. Sanktionen sind sinnvoll, aber sie müssen noch effizienter werden. Es gibt zahlreiche Wege, sie zu umgehen. Bestandteile aus dem Westen finden sich auch in russischen Waffen. Und Länder wie Österreich beziehen immer noch Gas aus Russland. Das Geld fließt direkt in Putins Kriegskasse.