Ein Mann wirft einen Wahlzettel in einen Kasten
Bild anzeigen

Experte über Wahlen in Syrien: "Das ist eine riesige Entwicklung!"

Die Wahlen in Syrien sind ein Schritt in die richtige Richtung, sagt der Verfassungsexperte Naseef Naeem – auch, wenn das Wahlvolk ausgeschlossen ist.

Drucken

Schriftgröße

Die Wahlen in Syrien sind kompliziert. Präsident Ahmed al-Scharaa ernennt ein sogenanntes Oberstes Komitee, das sind elf Personen, die wiederum 49 lokale Wahlkomitees in 11 Provinzen bestimmten. Diese Komitees bestimmen dann in jedem Wahllokal ein Gremium, also eine Wahlversammlung, von 30 bis 50 Mal der Zahl der Mandaten in dem Wahllokal, die die Abgeordneten wählen. Wer sind diese Wahlleute?

Naseef Naeem

Die lokalen Wahlversammlungen werden zu 70 Prozent aus Experten und zu 30 Prozent aus gesellschaftlichen Würdenträgern unter Berücksichtigung einer Frauenquote von 20 Prozent und einer breiten Repräsentation zusammengesetzt. Das können Vertreter der Religionsgemeinschaften und der regionalen Stammesverbände oder bekannte Persönlichkeiten sein. In den Wahllokalen wählen diese Leute dann den Volksrat, also die parlamentarische Versammlung in Damaskus.

Die Syrerinnen und Syrer, das Wahlvolk, spielen also gar keine Rolle?

Naeem

Nein, die Bevölkerung ist nicht wahlberechtigt. Zum Zug kommen nur jene, die zu den Wahlversammlungen eingeladen sind. In jedem Wahllokal wählen die Mitglieder der Wahlversammlung dann die vorgesehene Anzahl an Mandataren. Nur: Diese Leute können auch selbst kandidieren – sie könenn also gleichzeitig wählen und gewählt werden. Das ist problematisch. Ebenso, dass man nicht in der Lage war, Wahlversammlungen zu schaffen, bei denen alle Menschen die Möglichkeit haben zu kandidieren, auch jene außerhalb der Machtkreise. Man hätte der Wahl damit mehr demokratischeren Charakter geben können.

Eine direkte Wahl ist unter den aktuellen Umständen ausgeschlossen.

140 Abgeordnete werden gewählt, 70 bestimmt der Präsident selbst. Wie unabhängig können die Abgeordneten da überhaupt sein?

Naeem

Das ist eine indirekte Wahl, ganz oben steht der Präsident. Doch immerhin gibt es künftig zwei Mächte, den Präsidenten mit seinen Ministern und das Parlament. Letzteres ist das Verfassungsorgan und bestimmt als solches über die Gesetze. Laut der im vergangenen März unterzeichneten Verfassungserklärung hat der Präsident nicht mehr die Macht, über Gesetze zu bestimmen.

Das ist neu.

Naeem

Das ist total neu. In den alten Verfassungen konnte der Präsident Gesetze immer per Dekret bestimmen. Der jetzige Präsident hat diese Macht nicht mehr. Abgesehen davon, wie das Parlament nun gewählt und aufgebaut wird: Das ist eine riesige Entwicklung! Auch die Tatsache, dass das Übergangsparlament indirekt gewählt wird, ist begründbar. Eine direkte Wahl ist unter den aktuellen Umständen ausgeschlossen.

Karte von Syrien mit Anzahl der Mandate je Provinz
Bild anzeigen

Dafür ist das Land nach 14 Jahren Bürgerkrieg nicht weit genug wiederaufgebaut?

Naeem

Die Hälfte der Bevölkerung ist vertrieben, und die Rückkehrmöglichkeiten sind für viele gering. Es gibt also Argumente für die indirekte Wahl, auch, wenn man daran viel kritisieren kann.

Die Kurdengebiete al-Rakka und al-Hasaka dürfen nun nach dem aktuellem Stand doch an den Wahlen teilnehmen. Ausgeschlossen bleibt die Provinz der Drusen im Südosten. Welche Folgen hat das für den für die nächsten zweieinhalb Jahre vorgesehenen demokratischen Prozess?

Naeem

Die Provinz as-Suwaida liegt nach den Kämpfen im Juli außerhalb der Macht des Staates, was ihren Ausschluss in den Augen der neuen syrischen Administration nachvollziehbar macht. Mit den Kurden gibt es seit März ein Abkommen der Regierung, doch das ist noch nicht umgesetzt. Für die Vertretung ist das ein Problem. Es scheint, als hätte Damaskus eine Vereinbarung mit der kurdischen Administration getroffen, mit dem Ergebnis, dass die Wahlen in den beiden Provinzen im Norden doch stattfinden.

Und die Sitze für die drusischen Provinzen bleiben vakant?

Naeem

Ja. Die Vertretung von as-Suwaida ist deshalb unvollständig, sie wird keine Stimme im Parlament haben. Was die beiden Provinzen im Norden betrifft müssen wir abwarten, wie diese Entscheidung umgesetzt wird und ob eine ordnungsgemäße Wahl überhaupt möglich ist. Womöglich wird der Präsident letztendlich Mandatare für diese Provinzen ernennen.

Sollen demokratische Strukturen aufgebaut werden? Davon steht kein Wort in der verfassungsrechtlichen Erklärung.

Wären das Leute, die Kurden und Drusen auch als ihre Vertreter akzeptieren würden?

Naeem

Das wird man sehen. Sicher ist, dass die Wahlkommission beschlossen hat, die Wahlen in diesen Provinzen zu verschieben und später nachzuholen – zeitnah, heißt es. Doch wenn der Präsident auf einen Notstand in den Gebieten verweist, kann er auch selbst Abgeordnete ernennen, dauerhaft oder nur übergangsmäßig.

Sind eigentlich auch Präsidentschaftswahlen vorgesehen?

Naeem

Bisher nicht. Die verfassungsrechtliche Erklärung spricht über zwei Dinge gar nicht: Den Verfassungsprozess, also wie es zu einer Verfassung kommen kann, und über die Frage, wie das kommende politische System in Syrien aussehen soll: Sollen demokratische Strukturen aufgebaut werden? Davon steht kein Wort in der verfassungsrechtlichen Erklärung. Die Erklärung beschränkt sich darauf, die Machtverhältnisse in der Übergangszeit zu regeln und die Herrschaft des jetzigen Präsidenten zu legitimieren.

Porträt des Interviewten Naeem
Bild anzeigen

Naseef Naeem,

geboren 1974 in Homs, Syrien, ist ein deutscher Jurist mit Schwerpunkt Verfassungsrecht. Er arbeitete mehrere Jahre als Rechtsanwalt in Homs, bevor ihn ein Stipendium nach Deutschland führte. Im Jahr 2007 promovierte er über die damals neue staatliche Ordnung im Irak, danach unterrichtete er an verschiedenen Universitäten Staats- und Verfassungsrecht. Seit 2014 leitet er gemeinsam mit dem Nahost-Experten Daniel Gerlach das Beratungsnetzwerk zenithCouncil zu Fragen von Recht und Staat in der arabischen Welt. Er ist auch Forschungs- und Projektleiter bei der Candid Foundation in Berlin.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.