Ausland

Wie zwei Linzer den Taliban entkamen

Mehr als 100 Österreicher haben es bisher geschafft, der Hölle der Taliban zu entkommen. Abdullah und Najib sind zwei von ihnen. profil haben die Linzer ihre Geschichte erzählt - auch, welche Rolle Ungarn bei ihrer Rettung spielt.

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von Siobhán Geets, Manfred Maurer und Franziska Tschinderle

Als Abdullah diesen Donnerstag gegen Mittag aufwacht, kann er es immer noch nicht fassen. Er ist zu Hause. In Sicherheit. Das erste Mal seit Wochen muss er sich nicht fürchten. Nach einem Monat in Afghanistan ist er in den frühen Morgenstunden in seine Heimatstadt Linz zurückgekehrt. Seine Reise hätte er fast mit dem Leben bezahlt, dennoch würde er es wieder tun. Der Grund, warum er all das riskiert hat, liegt neben ihm: Amira.

„Hätte ich meine Frau dort gelassen“, sagt Abdullah, „ich hätte es bis zum Ende meines Lebens bereut.“

Amira, Abdullah und sein jüngerer Bruder Najib haben eine regelrechte Odyssee hinter sich. Zuerst die Flucht innerhalb Afghanistans, dann das tagelange Bangen um die Rettung aus Kabul.

Doch von Anfang an.

Ende Juli versinkt Afghanistan im Chaos. Während immer mehr Menschen das Land verlassen, treten zwei Brüder aus Linz den umgekehrten Weg an: Abdullah N., 28, und sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Najib N. (Namen geändert). Der Jüngere, österreichischer Staatsbürger seit 2018, hat vor kurzem seinen Grundwehrdienst beim Bundesheer beendet. Der Ältere arbeitet als Elektriker und besucht nebenbei die HTL für Elektrotechnik. Österreicher ist er seit 2016.

Die Brüder kennen die Reisewarnungen des Außenministeriums. Sie wissen um die Gefahren, die in ihrer alten Heimat lauern. Ihr Vater wurde einst von Unbekannten ermordet. Das, so erzählen sie es, sei vor zehn Jahren auch  der Fluchtgrund für ihre Familie gewesen. Abdullah kehrte dennoch zurück, das letzte Mal vor zwei Jahren, um nach verschollenen Verwandten zu suchen. Damals, als die Situation noch sicherer war als im Sommer 2021, verliebt sich Abdullah in die damals 19-jährige Amira.

Unzählige Male haben sich die beiden seither über Skype gesehen. Nun wollen sie heiraten. Am 24. Juli steigt Abdullah ins Flugzeug nach Kabul, wenige Tage später kommt Najib nach. „Wir sind geflogen, weil ich Angst um meine Frau hatte“, sagt Abdullah zu profil.

24. Juli, Samstag

Als er am 24. Juli in Kabul ankommt, hat die afghanische Regierung gerade eine nächtliche Ausgangssperre über 31 der 34 Provinzen des Landes verhängt, um die Bewegungsfreiheit der Taliban einzuschränken. Sie wird den Feind nicht mehr stoppen. Seit die Amerikaner und ihre internationalen Partner mit dem Abzug der Truppen begonnen haben, nehmen die Taliban jeden Tag neue Gebiete ein. Ende Juli kontrollieren sie bereits mehr die Hälfte des Landes sowie wichtige Grenzübergänge. Tausende Menschen sind auf der Flucht, auch in Kabul wächst die Angst vor den Radikalislamisten. Westliche Geheimdienste schätzen noch Anfang August, dass die Hauptstadt innerhalb der nächsten 30 bis 90 Tage an die Taliban fallen könnte. Es ist die eklatanteste Fehleinschätzung in den Tagen vor dem Fall Kabuls.

Daheim in Österreich verschärft die Regierung den Grenzschutz. Man fürchtet eine Fluchtwelle aus Afghanistan. Bis zu 400 zusätzliche Soldaten sollen an die Grenzen zur Slowakei, zu Slowenien und Ungarn geschickt werden. „Es kann nicht sein, dass Österreich und Deutschland für die EU das Afghanistan-Problem lösen“, sagt Innenminister Karl Nehammer.

In diesen Tagen reisen Abdullah und Najib von Kabul Richtung Westen nach Herat – mehr als 800 Kilometer quer durch ein Land, in dem Krieg tobt. In Herat wollen die Brüder nach verschollenen Verwandten suchen – und endlich Amira treffen. Rund um die Stadt haben sich bereits die Taliban formiert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Herat einnehmen.

8. August, Sonntag

Für Abdullah und Amira ist es endlich so weit. Zwei Jahre waren sie verlobt, nun feiern sie Hochzeit in Herat. Dort leben auch viele schiitische Hazara, eine Minderheit, die in Afghanistan seit Jahrhunderten unterdrückt wird. Mit dem Vorrücken der Taliban ist diese Volksgruppe, der auch die Linzer angehören, besonders gefährdet. Den Hazara drohen Folter, Hinrichtung oder Zwangskonvertierung.

Abdullahs und Amiras Hochzeit wird ein großes Fest – rund 400 Gäste sind geladen. Es wird getanzt und gegessen, die Menschen feiern in dem Wissen, dass es das letzte Mal sein könnte. „Man hat die Schüsse schon gehört“, sagt Abdullah, „aber wir haben uns die Feier nicht versauen lassen“. Es ist das letzte Aufbäumen in einer Welt, die es so bald nicht mehr geben wird.  Wenige Tage später, am 12. August, nehmen die Taliban die Stadt ein. Für die Islamisten ist es ein Riesenerfolg: Mit rund 600.000 Einwohnern ist Herat die drittgrößte Stadt des Landes. Sie erobern sie Stück für Stück –  den Gouverneurspalast, das Gefängnis, die Polizeistation. Die Taliban machen Selfies und verbreiten die Bilder in sozialen Netzwerken, um ihre Macht zu demonstrieren.

„Vier Stunden vor der Eroberung Herats durch die Taliban haben die Behörden die Heiratsurkunden ausgestellt“, sagt Abdullah. Das frischgebackene Ehepaar und der Bruder dürfen jetzt keine Zeit verlieren. Sie ergreifen die Flucht, die schönen Hochzeitskleider bleiben zurück, werden durch unauffällige Landeskleidung ersetzt. Sie haben eine lange Busfahrt nach Kabul vor sich und dürfen nicht auffallen. Sie haben alle Fotos und ausländische Kontakte auf ihren Handys gelöscht. Die SIM-Karten verstecken sie in den Sohlen der Schuhe, ihre österreichischen Dokumente unter Amiras Hemd, denn die Taliban durchsuchen Frauen in der Regel nicht.

In der Nacht hält der Bus immer wieder an und Taliban steigen ein. „Sie haben allen ins Gesicht geleuchtet um zu sehen, wer Hazara ist“, sagt Abdullah. Die Hazara, häufig erkennbar an ihren Gesichtszügen, müssen sich ausweisen.

Dem Linzer klopft das Herz bis zum Hals, doch er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Die Taliban dürfen nicht erfahren, dass die Brüder Europäer sind. Deshalb zeigen sie ihnen ihre afghanischen Geburtsurkunden. Die Täuschung funktioniert, die drei können weiterfahren. Nach etwa 16 Stunden kommen sie völlig erschöpft in Kabul an.

In der Hauptstadt wollen die drei Amiras Verwandte besuchen – und die Heimreise nach Wien über Pakistan organisieren. In Islamabad, so der Plan, soll Amira einige Zeit bei Bekannten wohnen und die Rot-Weiß-Rot-Karte beantragen. Sie spricht bereits gut Deutsch und will im September am Goethe-Institut in Islamabad die A1-Prüfung ablegen.

Doch dann kommt alles anders. Am Sonntag, den 15. August, erobern die Taliban Kabul. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani flüchtet Hals über Kopf in die Vereinigten Arabischen Emirate. „Der Krieg in Afghanistan ist vorbei“, verkündet Taliban-Sprecher Mohammed Naim an jenem Abend über den TV-Sender „Al Jazeera“.

In der Bevölkerung bricht Panik aus. Ehemalige Helfer der ausländischen Truppen wie Übersetzer, aber auch Frauen, Richterinnen und Journalisten, fürchten die tödliche Rache der Taliban. Tausende brechen zum Flughafen auf, dem letzten Nadelöhr, um außer Landes zu gelangen. Das Areal ist jetzt eine von US-Truppen gesicherte Festung, umzingelt von den Taliban, jener Terrorgruppe, die vor zwanzig Jahren erstmals besiegt wurde und nun zurück ist.

Der Abzug wird zur panikartigen Flucht. Es ist eine demütigende Niederlage für die USA und ihre Verbündeten. Mit dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist das Versagen des Westens besiegelt.

Dramatische Bilder gehen um die Welt. Zu sehen sind verzweifelte Menschen, die sich an eine abhebende US-Air Force Maschine klammern und aus schwindelerregenden Höhen in den Tod stürzen.

Auch Abdullah, Amira und Najib versuchen in diesen Tagen immer wieder, zum Flughafen zu gelangen. In den Menschenmassen fallen Schüsse. Jeder will nach vorne, die Menschen drängen, es ist unerträglich. Die Brüder nehmen Amira in die Mitte und versuchen, sie so gut es geht, zu schützen. „Ich habe gesehen, wie ältere Frauen und Kinder hingefallen sind und erdrückt wurden“, erzählt Abdullah. „Sie hatten keine Chance mehr, aufzustehen.“ Ein anderes Mal sieht der Linzer, wie die Köpfe der Kinder in der Menschenmasse untergehen: „Sie waren zu klein. Sie haben keine Luft mehr bekommen und sind erstickt.“

Während die ganze Welt schockiert auf Afghanistan blickt und fieberhaft daran gearbeitet wird, möglichst viele Menschen zu retten, verstrickt die ÖVP Österreich in eine Abschiebungsdebatte. „Faktum ist, dass wir weiterhin Staatsbürger aus Afghanistan abschieben“, sagt Außenminister Alexander Schallenberg drei Tage nach der Eroberung Kabuls. Weil niemand mehr nach Afghanistan zurückgebracht werden kann, will die ÖVP nun Abschiebezentren in den Nachbarländern einrichten.

„Damit zu argumentieren ist unerträglich“, sagt Klaus Luger. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Linz weiß um die Verzweiflung der beiden Brüder. Er ist in die Frage, wie es die drei nach Österreich schaffen kann, indirekt eingebunden. „Das iranische Regime und die anderen Nachbarstaaten werden die Menschen nicht aufnehmen. Man sollte mit solchen realitätsfremden Lösungen nicht Politik machen“, sagt er. „Da werden die Menschen für dumm verkauft.“

Während in Österreich debattiert wird, tauchen Abdullah, Amira und Najib in Kabul unter. Aus Angst, von den Taliban entdeckt zu werden, wechseln sie immer wieder ihr Versteck.

19. August, Donnerstag

Am vergangenen Donnerstag erreicht die drei ein E-Mail aus Wien.

„Liebe Österreicherinnen und Österreicher, bitte begeben Sie sich morgen bis spätestens 08:00 Uhr zum North Gate des Hamid Karzai International Airport zur UNGARISCHEN FLAGGE…“, steht da. Es bestehe die Möglichkeit einer „Evakuierung österreichischer Staatsbürger*innen mittels ungarischer Militärmaschinen nach Buchara, Usbekistan“. Um die Weiterreise von dort nach Österreich hätten sich die Geretteten selbst zu kümmern, heißt es in der Nachricht aus dem Außenministerium.

Am nächsten Tag, einem Freitag, bricht das Trio auf. Der Versuch zum Flughafen zu gelangen scheitert – überraschenderweise aber nicht an den Taliban. Eigentlich hätten ungarische Soldaten vor das Gate kommen und allen, die sich als österreichische Staatsbürger ausweisen, ein T-Shirt mit ungarischer Flagge übergeben sollen, eine Art tragbaren Passierschein. So war es den Brüdern vom Außenministerium in Wien mitgeteilt worden. Abdullah, Amira und Najib warten seit sechs Uhr morgens – vergeblich. „Die deutschen Soldaten am Gate haben uns einfach ignoriert“, sagt Abdullah. Auch US-Soldaten erweisen sich nicht als Hilfe, im Gegenteil: „Sie schießen mit Maschinengewehren und gehen mit Tränengas vor“, schreibt Abdullah auf WhatsApp an profil.

In diesen Stunden geht es den beiden Österreichern und ihrer afghanischen Gefährtin wie Tausenden anderen verzweifelten Menschen, die im Staub zwischen Stacheldrahtzäunen und Betonsperren vor dem Flughafen ausharren. Einen Platz in einer der Maschinen zu ergattern, kann über Leben und Tod entscheiden. Es ist eine Achterbahnfahrt zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Daheim in Linz wird der Freundeskreis der Brüder aktiv, um die drei aus Afghanistan zu holen und Druck auf die Politik zu machen. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen wird um Unterstützung gebeten. Doch die Brüder aus Linz sind nicht die einzigen, die dieser Tage aus Kabul um Hilfe rufen. In einer Antwort vom 19. August verweist die Präsidentschaftskanzlei auf „derzeit viele Hilfeersuchen wie das Ihre“. Eine Sprecherin Van der Bellens hält fest, „dass dem Bundespräsidenten hier keine unmittelbaren Veranlassungen möglich sind“. Van der Bellen habe jedoch „den Auftrag gegeben, sowohl das Bundesministerium für Inneres als auch das Außenministerium auf ihr Schreiben aufmerksam zu machen“.

22. August, Sonntag

Am Abend – ein Lichtblick. Vom Außenministerium in Wien kommt die Empfehlung, es beim Flughafen gelegenen Hotel Baron zu versuchen. Vier  Tage später, als die beiden bereits in Sicherheit sind, wird dort eine Bombe detonieren. Nicht weit entfernt liegt das sogenannte „Abbey Gate“ – auch hier sprengt sich am Donnerstag ein Selbstmordattentäter des „Islamischen Staats“ in die Luft. Dorthin, so das Außenministerium in einer Nachricht an die Brüder, sollten sich die Österreicher in Gruppen mit anderen EU-Bürgern begeben. Die konkrete Aufforderung lautet, sich mit Rufen wie „Hungary, Magyar“ oder „Ungarn“ bemerkbar zu machen. Doch so weit kommen die meisten gar nicht.

„Nahe dem Hotel Baron kamen wir an zwei Taliban-Checkpoints vorbei, zehn Meter vor dem dritten ist dann eine Massenpanik ausgebrochen. Es gab Verletzte und Tote“, schildert Abdullah die schrecklichen Szenen. Er befindet sich in einer Gruppe aus 15 Personen, darunter zwei Frauen, und versucht, zum nur 20 Meter entfernten Gate zu gelangen. Doch die Menschen werden immer wieder von Taliban-Kämpfern auseinander getrieben. Das deutsche Außenamt warnt Festsitzende über einen Messenger-Dienst: „Es kann vor dem Hotel und auf dem Weg zum Abbey Gate kein Schutz gewährt werden.“

23. August, Montag

Nach sechs gescheiterten Versuchen, den Airport zu erreichen, haben Abdullah, Najib und Amira die Hoffnung auf einen Flug in die Freiheit verloren.

„Psychisch geht es uns nicht gut“, sagt Abdullah in der Früh am Telefon zu profil. In Kabul machen Gerüchte über einen drohenden Anschlag des Islamischen Staats die Runde. Haben die Amerikaner es in die Welt gesetzt, um den Andrang auf den Flughafen einzudämmen oder ist die Gefahr real? Die drei sind sich nicht sicher. Drei Tage später werden tatsächlich Bomben explodieren.

Weil das North Gate mittlerweile geschlossen ist und es auch beim Abbey Gate kein Durchkommen gibt, überlegen Abdullah, Najib und Amira in ihrer Verzweiflung eine Flucht über den Landweg nach Pakistan. Dafür haben sie mit Unterstützung von Freunden sowie der österreichischen Botschaft in Islamabad Vorbereitungen getroffen. Letztere hat einen Schutzbrief geschickt, in dem die pakistanischen Behörden „freundlich ersucht“ werden, die Einreise der drei zu gewähren.

Rund 300 Kilometer sind es von Kabul nach Pakistan – eine Strecke, die man unter normalen Umständen an einem Tag schaffen sollte. Doch in diesen Tagen ist nichts normal. Bald stellt sich heraus: Die Fahrt gleicht einem Himmelfahrtskommando. Die Grenze ist dicht, ein  Übertritt viel zu gefährlich.

Bei Abdullah, Najib und Amira wächst die Verzweiflung. Die drei sitzen immer noch in Kabul fest – und die Zeit drängt. Die USA planen nach wie vor, bis Ende August abzuziehen. Und die Taliban haben bereits festgehalten, dass sie einer Ausdehnung der Frist nicht zustimmen werden. Der 31. August sei die rote Linie, eine Überschreitung würde Konsequenzen nach sich ziehen.

Am Nachmittag erreicht die drei Wartenden endlich eine gute Nachricht: Unter den in Kabul verbliebenen Europäern spricht sich herum, dass die Chancen, auf den Flughafen zu gelangen, in der Nacht gut sein sollten. Am Abend machen sie sich ein siebtes Mal auf den Weg zum Abbey Gate. Um 21 Uhr schreibt Abdullah seinen Freunden in Linz: „Kann wer da anrufen und fragen, wann die Ungarn kommen?“ Keine 20 Minuten später kommt die Antwort: „Hab sie erreicht – morgen um 7 Uhr kommen die Ungarn raus (zum Gate Abbey).“

Unauffällig in traditionelle afghanische Gewänder gekleidet kommen Abdullah, Amira und Najib gegen halb elf in der Nacht am Gate an. Überall sind Taliban. Die drei gehen die Mauer entlang, die sie vom Flughafengelände trennt. Schließlich entdeckt Najib einen ungarischen Soldaten. „We are from Austria!“, ruft der 28-Jährige und hält seinen Pass in die Höhe. Jetzt müssen die drei in einen Graben und durch den Kanal, der entlang der Mauer verläuft. Das Wasser ist schwarz vor Dreck, Abdullah trägt zuerst Amira und dann seinen Bruder auf die andere Seite. Dort hilft ihnen der ungarische Soldat über die Mauer. Sie haben es geschafft.

24. August, Dienstag

Noch ist die Flucht aber nicht zu Ende. Abdullah, Amira und Najib sitzen am Flughafen fest. Wann sie nach Usbekistan reisen können, ist unklar.
Das Zeitfenster für Evakuierungen schließt sich. Zwei bis drei Tage bleiben den Menschen noch, um das Land zu verlassen. Gegen Ende der Woche dürften die verbliebenen US-Truppen ihren eigenen Abzug einleiten, heißt es am Dienstag. Den Flughafen weiter zu betreiben ist ohne die rund 5800 amerikanischen Soldaten nicht möglich.

Eines wird in diesen Tagen immer deutlicher: Es wird sich in den wenigen Tagen, die bis Ende August bleiben, nicht ausgehen, alle Schutzbedürftigen und ausländische Staatsbürger auszufliegen.

Vor dem G7-Gipfel am Dienstag setzen sich Großbritannien, Deutschland und Frankreich für eine Verlängerung der Rettungsmission ein. Doch die Taliban schließen das nach wie vor aus.

Am Abend geht die Videokonferenz der G7 ohne Überraschungen zu Ende. Nach stundenlanger Verzögerung tritt Biden in Washington vor die Presse. Es wird keine Verlängerung des Rettungseinsatzes geben – im Gegenteil. Es klingt eher, als wolle Biden die verbliebenen US-Truppen früher abziehen als geplant. Jeder Tag vor Ort erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs durch die Terrormiliz Islamischer Staat auf den Flughafen, sagt der US-Präsident – und verschwindet wieder, ohne eine einzige Journalistenfrage zu beantworten.

In Kabul ist die Nacht angebrochen. Die Taliban haben den Flughafen für Afghanen gesperrt, es werden jetzt nur noch Ausländer durchgelassen. Abdullah, Najib und Amira haben Glück gehabt, es noch rechtzeitig geschafft zu haben. Wenige Stunden später wäre das wohl nicht mehr möglich gewesen, denn Amira ist afghanische Staatsbürgerin. Auch, wenn sie im Schutzbrief der österreichischen Botschaft in Islamabad als Österreicherin ausgewiesen wird: Über einen Aufenthaltstitel oder gar einen Pass verfügt sie nicht.

Gegen Mitternacht hat das Warten für die drei endlich ein Ende: Sie ergattern einen Platz in einer Maschine nach Buchara, Usbekistan.

25. August, Mittwoch

Abdullah, Najib und Amira warten auf die Weiterreise nach Budapest. Siebenhundert Kilometer liegen jetzt zwischen ihnen und dem Horror von Kabul. Dort warten immer noch Tausende auf die rettende Ausreise, darunter auch österreichische Staatsbürger.

Außenminister Schallenberg spricht in der ZIB 2 von „zwei bis drei Dutzend“ Österreichern, die sich noch in Afghanistan befinden. Andere Länder, darunter Deutschland und Großbritannien, haben ihre Leute teils mit Spezialeinheiten aus der Stadt geholt. Das Außenministerium in Wien hat zwar einen Krisenstab in die Region geschickt, mit dem  Staatsbürger telefonisch in Kontakt treten können. Doch dort heißt es nur, dass man noch abwarten müsse.  Bei der Flucht sind die Brüder weitgehend auf sich alleine gestellt.

26. August, Donnerstag

Ein Uhr nachts, Donnerstag. Die drei sind am Flughafen in Budapest gelandet und machen sich auf den Weg in die österreichische Botschaft, um die Formalitäten zu klären. Danach fahren sie nach Wien, wo ein Freund auf sie wartet. Vor Linz steigen sie aus dem Auto und machen ein Foto von sich vor dem Ortsschild. Sie sehen unglaublich erleichtert aus.

Für Abdullah, Amira und Najib ist die Geschichte gut ausgegangen. Weil sie mit einem Österreicher verheiratet ist, muss die 21-Jährige Amira nicht um Asyl ansuchen, sondern kann einen unbefristeten Aufenthaltstitel beantragen.

In Österreich will Amira zuerst die Matura nachholen und dann studieren. Was, das weiß sie noch nicht.

Mehrere Tage lang stand profil mit den Brüdern in Kontakt, telefonierte mit ihnen und ihren Freunden daheim in Linz. Nach ihrer Rückkehr wollten wir sie auch persönlich zum Interview treffen. Doch am Ende blieb es aufgrund der nach der Einreise nötigen Quarantäne bei Telefonaten.

Für die Familie gibt es ein Happy End. Für viele andere gilt das leider nicht. Mehr als 95.0000 Menschen haben die USA und ihre Verbündeten bis Freitag aus Afghanistan evakuiert. Doch viele Tausende mehr müssen nun die Verfolgung durch die Taliban fürchten. Für die Frauen Afghanistans sieht Abdullah schwarz. „Die Taliban versprechen jetzt einiges, aber sie haben sich nicht geändert“, sagt er.  Die Radikalislamisten würden den Frauen die Bildungschancen nehmen: „Sie werden kein Leben mehr haben und sich verstecken müssen.“

Abdullah will sich bedanken. Bei der österreichischen Regierung. Und bei den ungarischen Soldaten, die ihn, seinen Bruder und seine Frau über die Mauer ins Flughafengelände gezogen haben. „Die ungarischen Soldaten“, sagt er, „sind unsere Helden.“

Abdullah und Najib haben eine Odyssee hinter sich. Was denkt er jetzt, nach all dem Horror, über seine Entscheidung, während des Siegeszuges der Taliban nach Afghanistan zu reisen? Würde er es wieder tun?

„Für Amira, ja“, sagt er. „Ich würde keine Sekunde zögern.“