Interview

Wiederaufbau in der Ukraine: „Russland soll bezahlen“

Der Krieg in der Ukraine ist nicht vorbei, doch Pläne für den Wiederaufbau gibt es längst. Wie soll das finanziert werden? Erin McKee von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit hat eine eindeutige Antwort darauf.

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Wer sich ein Bild über die Zerstörung in der Ukraine machen will, muss nur einen Blick auf die Satellitenbilder werfen. Seit mehr als 14 Monaten bombardiert die russische Armee das Nachbarland, trifft Wohngebiete und zivile Infrastruktur, Krankenhäuser und Kindergärten. Ganze Städte liegen in Schutt und Asche, Tausende Zivilisten wurden getötet, Tausende Kinder verschleppt, unzählige Frauen vergewaltigt. Millionen Menschen mussten das Land verlassen.

Wie kann der immense Schaden, den Russland der Ukraine zugefügt hat, beziffert werden? Zuletzt gab es mehrere Versuche, die Summe der Schäden zu quantifizieren. Schätzungen reichen von 350 Milliarden bis zu mehr als einer Billion US-Dollar – bisher. Noch deutet nichts auf ein rasches Ende des Krieges in der Ukraine hin. Und die Kosten – menschliche wie materielle – steigen jeden Tag.

Deshalb hat der Europarat nun ein sogenanntes Schadensregister ins Leben gerufen. Aufgelistet werden sollen darin alle materiellen und immateriellen Schäden, die Russland durch seinen Angriffskrieg zu verantworten hat: Bei Gebäuden und Infrastruktur dürfte das recht einfach zu beziffern sein. In das Schadensregister aufgenommen werden soll aber auch das individuelle Leid, das Menschen durch Kriegsverbrechen wie sexuelle Gewalt oder Verschleppung zugefügt wurde. Aufgelistet werden auch geplünderte und zerstörte Kunstschätze sowie Schäden an der Umwelt.

Spätestens beim Gipfel des Europarats in Reykjavik Mitte Mai soll klar sein, welche Länder sich an dem Instrument beteiligen.

Österreich unterstütze die Bemühungen zur Errichtung eines Registers für Kriegsschäden in der Ukraine, heißt es auf Anfrage aus dem Außenministerium. Damit darf Wien mitbestimmen, was als Schaden in das Register aufgenommen wird.

Bleibt die Frage, wer am Ende für den Wiederaufbau in der Ukraine bezahlen soll.

Eine Möglichkeit wäre, Geld aus Russland einzusetzen. Allein in der EU sind 300 Milliarden Euro an Vermögenswerten der russischen Zentralbank und 19 Milliarden Euro von russischen Oligarchen eingefroren. Rechtlich ist das aber umstritten. „Etwas einzufrieren, ist etwas anderes, als es wegzunehmen“, sagt dazu der Experte für internationales Recht Ralph Janik. Die Enteignung könnte als Gegenmaßnahme zur russischen Völkerrechtsverletzung begründet werden, „einfach wird das aber nicht“. Sollten die russischen Vermögenswerte konfisziert werden, hätte das Folgen: Russland und andere Staaten parken ihr Geld im Westen, weil es dort bisher sicher war. Bei einer Enteignung dürfte sich das rasch ändern. Befürchtet wird, dass Staaten wie China und Russland dann ein alternatives internationales Finanzsystem aufbauen könnten.

Etwas einzufrieren, ist etwas anderes, als es wegzunehmen.

Ralph Janik

Experte für internationales Recht

Deshalb hat die EU-Kommission eine abgeschwächte Form der Nutzung russischer Vermögenswerte vorgeschlagen: Die blockierten Mittel sollten so investiert werden, dass die Gewinne in die Ukraine fließen können.

Der Wiederaufbau der Ukraine ist eine Generationenaufgabe. In bestimmten Bereichen, etwa in der Versorgung mit Wasser und Energie, muss aber sofort Hilfe geleistet werden. Koordiniert werden die Hilfen auf der Geber-Plattform der G7-Staaten. Gemeinsam mit der Ukraine wird entschieden, wo die Mittel am besten eingesetzt werden. Hilfszusagen gibt es auch von der Europäischen Union, der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und anderen.

Die USA haben die Ukraine zusätzlich zu den bisher rund 35 Milliarden Dollar an Militärhilfen mit 26 Milliarden Dollar an humanitärer Hilfe, Entwicklungshilfe und Budgethilfen unterstützt. Eine tragende Rolle hat dabei die Behörde der Vereinigten Staaten für Entwicklungszusammenarbeit, die „United States Agency for International Development“ (Usaid). Vergangene Woche war die für Europa und Eurasien zuständige Usaid-Botschafterin Erin McKee zu Besuch in Wien. profil traf sie im Hotel Le Méridien zum Interview.

Die USA sind einer der wichtigsten Unterstützer der Ukraine. Ist diese militärische und humanitäre Unterstützung in den kommenden Jahren gesichert – unabhängig davon, wer 2024 die US-Präsidentenwahlen gewinnt?
McKee
In den USA unterstützen beide Parteien die Ukraine. Die Herausforderung ist, für nachhaltige Hilfe zu sorgen. Wie Präsident Joe Biden sagte: Wir sind für die Ukraine da, solange es nötig ist. Am wichtigsten ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, deshalb steht die militärische Unterstützung an erster Stelle. Mindestens genauso wichtig ist aber, den Frieden sicherzustellen. Deshalb helfen wir der Ukraine, ihr Land wiederaufzubauen und sich der EU anzunähern. Dafür gibt es die Reformagenda. Alle Unterstützer, nicht nur die USA, arbeiten an diesem gemeinsamen Ziel.
Die größte Sorge der Ukraine ist, dass ein möglicher Präsident Trump die Hilfen für die Ukraine zurückfährt oder gar stoppt.
McKee
Ich kann nicht in die Zukunft blicken, aber versichern, dass wir unsere Ressourcen für Programme nutzen, die jetzt greifen, und für ein Fundament sorgen, egal was passiert. Dazu gehören eine Modernisierung und Diversifizierung des Energiesektors. Die Investments, die wir heute tätigen, können nicht rückgängig gemacht werden. Sie sind ein Fundament für die Zukunft, unabhängig davon, wie lange der Krieg dauert oder wer nächster Präsident der USA wird.
Im Anti-Korruptions-Index steht die Ukraine in Europa auf dem vorletzten Platz hinter Russland. Die EU hat die 18 Milliarden Euro, die heuer in Hilfen für die Ukraine fließen, an strenge Anti-Korruptions-Maßnahmen geknüpft. Wie ist das mit den Geldern aus den USA?
McKee
Wir halten Auflagen für die Budgetunterstützung derzeit nicht für sinnvoll. Unsere makroökonomische Budgetunterstützung unterliegt keinen Auflagen, sie basiert auf Kostenerstattung in bestimmten Kategorien: Gehälter für Beamte, Lehrer, Care-Worker und sozial schwache Bevölkerungsgruppen wie Pensionisten. Dafür übernehmen wir die Kosten. Unabhängige Stellen überprüfen, ob die übermittelten Zahlen korrekt sind. Was die Reformagenda betrifft, konzentrieren wir uns seit 2014 darauf, den Kreislauf von Kleptokratie und Korruption zu durchbrechen. Es geht um Rechtsstaatlichkeit – im Bereich der Justiz ist noch viel zu tun –, Anti-Korruptions-Maßnahmen und die Unterstützung sogenannter Watchdogs aus der Zivilgesellschaft wie unabhängige Journalisten, um Korruption aufzudecken. Es geht auch um Transparenz: Wir haben bei der Gründung des E-Government-Systems „ProZorro“ geholfen sowie bei der Entwicklung einer App, mit der Bürgerinnen und Bürger staatliche Services abfragen können. Im Kampf gegen Korruption geht es darum, das politische Wirtschaftsmodell zu ändern, das die Ukraine von der Sowjetunion geerbt hat.
Der Europarat hat vor Kurzem die Etablierung eines Schadensregisters für die Ukraine beschlossen. Werden sich die USA diesem Programm anschließen?
McKee
Das werden wir in den kommenden Tagen erfahren. Sicher ist: Für die USA ist die Dokumentation von Verbrechen eine Priorität. In den wichtigsten Fragen arbeiten wir mit der EU zusammen, wir sitzen alle im selben Boot. Bereits vor der Invasion hatten wir ein Programm für rechtliche Beratung im ganzen Land. Jetzt hilft dieses Netzwerk dabei, im Krieg Beweise zu sammeln. Wir haben bisher mehr als 20.000 Fälle von Kriegsverbrechen und Zerstörung in die Datenbank der Ukraine einfließen lassen. Am Ende geht es darum, Russland zur Verantwortung zu ziehen.
Die Ukraine wird diese Daten demnächst an den Europarat übergeben. Doch es ist nicht einfach, das Ausmaß der Zerstörung zu beziffern. Können wir das Geld, das Oligarchen und die Russische Zentralbank in den USA und in der EU geparkt haben, ohne Weiteres für den Wiederaufbau in der Ukraine nutzen?
McKee
Die Frage der Rechenschaft nach dem Ende des Krieges ist eine der wichtigsten überhaupt. Unabhängig davon, wie Russland zahlen wird: Russland soll bezahlen. Unklar ist, ob die russischen Gelder im Westen dafür genutzt werden können. Doch die Villen und Jachten der Oligarchen im Westen werden nicht ausreichen.
Bei der Frage, wie Russland für seinen Angriff auf die Ukraine zur Verantwortung gezogen werden kann, geht es auch um eine mögliche Strafverfolgung. Um Putin und seine Top-Leute anzuklagen, wäre ein internationales Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression erforderlich. Unterstützen die USA ein solches Vorhaben?
McKee
Putin und Russland müssen für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung gezogen werden. Die Frage ist, auf welchen Rahmen sich die unterschiedlichen Parteien einigen. Wir helfen beim Sammeln der Beweise, doch ich kann keine Antwort darauf geben, wo Russland zur Verantwortung gezogen wird. Sicher ist: Die USA glauben fest daran, dass Putin und Russland am Ende zur Rechenschaft gezogen werden.
Um Putin selbst für das Verbrechen der Aggression anzuklagen, ist ein Sondertribunal nötig. In einer idealen Welt wäre der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zuständig dafür, doch das haben mächtige Länder, darunter die USA, verhindert. Die USA sind dem IStGH zudem bis heute nicht beigetreten. Steigen mit dem Krieg die Chancen, dass sich das ändert?
McKee
 Das ist eine gute Frage, die ich nicht beantworten kann.
Nach Ihrem Besuch hier in Wien reisen Sie weiter in die Republik Moldau. Worum geht es dort?
McKee
Wir helfen der Republik Moldau dabei, sich von seiner Abhängigkeit vom russischen Energiesektor zu lösen und sich dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (Entso-E) anzuschließen. Wir arbeiten mit der Ukraine und Nachbarländern wie Moldau zusammen. Es geht darum, die nötigen Änderungen und Reformen für die Annäherung an die EU sowie die Transformation Richtung erneuerbare Energien voranzutreiben. Die Energieproduktion soll unabhängig von Russland stattfinden. Daran hängt auch die demokratische Zukunft.
Da könnten Sie gleich hier in Österreich anfangen. Wir sind, anders als Deutschland, nach wie vor abhängig von den Gaslieferungen aus Russland.
McKee
Ich habe mich in Wien mit Vertretern der Energy Community (Internationale Organisation der EU und mehrerer Drittstaaten, Anm.) getroffen, mit der wir schon lange zusammenarbeiten. Es geht darum, den Wandel hin zu erneuerbaren Energien voranzutreiben – nicht nur in Ländern wie der Ukraine und Moldau, sondern in ganz Europa, in den Westbalkanländern und im Kaukasus. Energiesicherheit ist keine bilaterale Angelegenheit, wir hängen alle zusammen. Ein diversifizierter Energiemarkt schafft Sicherheit für die Zukunft.
Aber was ist mit Ländern, in denen es kein wirkliches politisches Interesse dafür gibt, weil das Billiggas aus Russland so verlockend ist, wie in Österreich?
McKee
Wir fordern niemanden dazu auf, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Doch Alternativen reduzieren die Möglichkeiten Putins, Druck auf Länder auszuüben. Genau das versuchen wir hier zu schaffen: einen resilienten, modernen und robusten Energiemarkt, der unabhängig agieren kann.
Ist Usaid ein rein humanitärer Akteur oder auch ein politischer?
McKee
 Wir unterstützen nicht nur durch humanitäre Hilfe, sondern auch durch langfristige Entwicklungshilfe im Sinne einer demokratischen Zukunft. Wir arbeiten mit Ländern zusammen, die unsere Ideale teilen und Freiheit, Wohlstand und Sicherheit anstreben. Wir sind nicht politisch in dem Sinn, dass uns lediglich die Politik antreibt, denn wir helfen allen, die Hilfe brauchen – unabhängig von der Politik. Das ist Teil unserer Werte. Das Prinzip der Güte und Hilfsbereitschaft sollte niemals für politische Zwecke genutzt werden.
Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort und gehört zum "Streiten Wir!"-Kernteam.