Bewegungen besser verstehen
Was bedeutet Binnenmigration?
Marton Karsai: Sie bezieht sich auf die Bewegung von Menschen innerhalb eines Landes – also wenn Menschen in Österreich ihre Adressregistrierung von einem Standort zu einem anderen ändern, ohne ins Ausland zu gehen.
Warum gibt es hier so wenige detaillierte Studien?
Tiago Peixoto: Um die Binnenmigration umfassend verfolgen zu können, benötigen Wissenschafter*innen Zugang zu Registrierungsdaten. In Österreich werden diese von der Statistik Austria verwaltet. Erst kürzlich hat die Agentur den Wissenschafter*innen den Zugang dazu gestattet, jedoch unter strengen Kontrollen zum Schutz der Daten.
Wie gehen Sie bei Ihrem Forschungsprojekt vor?
Marton Karsai: Wir analysieren die Muster der Binnenmigration in Österreich über einen Zeitraum von 20 Jahren mithilfe von Methoden aus der Netzwerkforschung – einem interdisziplinären Bereich, der verstehen will, wie Dinge miteinander verbunden sind. Stellen Sie sich ein soziales Netzwerk wie Facebook vor: Menschen sind „Knoten“, und ihre Freundschaften sind „Verbindungen“, die sie miteinander verknüpfen. Die Netzwerkforschung nimmt diese Idee und wendet sie auf viele Phänomene an – von der Ausbreitung von Krankheiten zwischen Menschen über das Verbreiten von Gerüchten in sozialen Medien bis hin zum funktionalen Zusammenspiel von Stromnetzen oder Gehirnzellen. Wir wollen Migration auf die gleiche Weise modellieren: Standorte, etwa Gemeinden, sind Knoten in einem Netzwerk, und der Fluss von Menschen zwischen ihnen bildet die Verbindung. Durch das Hinzufügen verfügbarer demografischer Informationen wie Einkommen, Geschlecht, Nationalität, Beruf usw. zielen wir darauf ab, ein umfassendes Bild davon zu erhalten, warum Menschen umziehen.
Wo stehen Sie derzeit?
Tiago Peixoto: Wir haben einige auffällige Muster identifiziert, die von vorherigen Forschungen nicht erkannt wurden. Die Menschen neigen dazu, mehr zwischen städtischen Zentren und ländlichen Gebieten umzuziehen, als es gemäß den akzeptierten Modellen zu erwarten wäre. Darüber hinaus konnten wir Trends identifizieren, die darauf hinzudeuten scheinen, dass die Menschen im Laufe der Zeit längere Distanzen zurücklegen, und wir können den Einfluss des Zuzugs von Migranten aus Syrien und der Ukraine auf die interne Migration deutlich messen.
Wem können die Erkenntnisse nützen?
Marton Karsai: Wir hoffen, die sozioökonomischen Faktoren zu identifizieren, die für bestimmte Muster der internen Migration verantwortlich sind, sowie zu verstehen, wie sich die Migration selbst auf die sozioökonomische Entwicklung auswirkt. Wir erwarten, dass diese Erkenntnisse für die Politik von Nutzen sind, etwa bei der Gestaltung gezielter Programme zur regionalen Entwicklung, der Verbesserung der Infrastruktur in Gebieten mit hoher Migration und der Ausarbeitung von Arbeitsmarktpolitiken, die sowohl die abgebenden als auch die empfangenden Gemeinschaften unterstützen. Sie können auch helfen, Ungleichheiten zu bekämpfen, die Urbanisierung effektiver zu steuern und ein inklusives Wirtschaftswachstum zu fördern.
Das Forschungsprojekt
„MOMA: Multiscale network modelling of migration flows in Austria“ wurde vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) und dem Land Niederösterreich gefördert.
Beteiligt waren: Univ.-Prof. Tiago Peixoto, IT:U Austria & Central European University, Univ.-Prof. Marton Karsai, Central European University, Univ.- Prof. Mathias Czaika, Universität für Weiterbildung Krems, Dr. Martina Contisciani, Central European University, Dr. Anna Malek, Universität für Weiterbildung Krems, Thomas Robiglio, IT:U Austria