Sozialarbeiter Ahmat Mitaev (links) und Fabian Reicher (stehend, zweiter von rechts) mit Jugendlichen im Plenarsaal des Parlaments
Reportage

„Gemma Parlament“: Wütende Burschen im Hohen Haus

profil war mit Jugendlichen, die der Koran mehr interessiert als Wahlen, im Maschinenraum der Demokratie unterwegs.

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Die Burschen mit ihren verkehrt herum aufgesetzten Käppis, den aufgekrempelten Cargohosen, schwarzen Hoodies und T-Shirts sind durch den Security-Check, spiegeln sich im Foyer in der Kunstinstallation von Eva Schlegel, drücken sich in der Säulenhalle des Parlaments an einer honorigen Juristentagung vorbei und gruppieren sich schließlich um den imposanten, ovalen Tisch im historischen Sitzungssaal.

Ein parlamentarischer Mitarbeiter versucht ihre Aufmerksamkeit auf den restaurierten Stuccolustro, den falschen Marmor an den Wänden, zu lenken. Doch die 14- bis 16-Jährigen haben bloß Augen für die Konferenzmikrofone. Das erste geht an. Ein Jugendlicher spricht hinein: „FPÖ wählen! Für ein besseres Österreich!“ Aus dem zweiten Mikrofon tönt es: „Zuwanderung stoppen und Flüchtlinge raus!“ Bald hat auch der Letzte den Einschaltknopf entdeckt. Es schlürft, schmatzt und schnalzt aus allen Lautsprechern.

Lehrlinge, Schülerinnen, Studenten, die auf Lehrpfaden durch das institutionelle Herz der Demokratie wandeln, sieht man im frisch herausgeputzten Parlament in diesen Wochen und Monaten ständig. Doch die Besuchergruppe, die vergangenen Montag durch die Korridore streift, gehört zu den unwahrscheinlichsten, die das Hohe Haus empfangen hat, seit es Anfang des Jahres neu eröffnet wurde.

Feindliches Terrain

Fabian Reicher, Jugendsozialarbeiter bei der „Beratungsstelle Extremismus“ (und Co-Autor des Sachbuchs „Die Wütenden“, das von fünf Dschihadismus-Aussteigern und den Gefahren radikalisierter Jugendszenen handelt), begleitet die Exkursion. Sie führt Hilal, Jussuf, Kadir, Dariusz, Jonas und Ismail (Namen von der Redaktion geändert) auf unvertrautes, wenn nicht feindliches Terrain, denn die Jugendlichen entstammen, wie der Sozialarbeiter es formuliert, „eher demokratieskeptischen Milieus“.

Einigen gilt Demokratie gar als „Schirk“, als Götzendienst und Abgötterei, für Muslime der einzige Sündenfall, der ihnen nie verziehen werden würde und so etwas wie das Gegenteil von Tauhīd. „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter“, lernen Muslime von klein auf. Die Ideologen eines globalen Neo-Salafismus eigneten sich diese Formel für ein Leben in absolutem Einklang mit der Scharia an und verwerfen jede politische Ordnung, die sich nicht auf Gott bezieht. Etwa die Demokratie.

Auch der rechte Zeigefinger, den die Jugendlichen beim Gruppenfoto in die Höhe strecken, soll bezeugen, dass es neben Allah keinen anderen Gott gibt. Weil in den Propagandafilmen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ auch dessen Anhänger gerne mit dem Tauhīd-Finger posieren, wird er fälschlicherweise oft für ein IS-Erkennungszeichen gehalten. Hilal stellt sein „Tauhīd“-Bekenntnis wie ein cooles Label auf seiner Umhängetasche zur Schau. Mit 15 ist Provokation alles. Als die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, zur Gruppe stößt und den Burschen zur Begrüßung ihre Hand hinstreckt, weichen zwei von ihnen zurück und legen ihre Hand aufs Herz. Die Geste geht mit einem Lächeln einher und hat etwas Zaghaftes, als übten sich die Jugendlichen darin, den Handschlag zu verweigern, ohne das Gegenüber völlig zu verstören. Ernst-Dziedzic lächelt zurück.

Wütende Micro-Influencer

Im subkulturellen städtischen Milieu in Wien oder Linz blüht eine neue Jugendszene auf, die sowohl kriminell als auch islamistisch ausgerichtet ist, den Staat und seine Institutionen ablehnt, toxische Männlichkeit auf sozialen Medien inszeniert und von Jugendzentren und Streetworkern kaum noch zu erreichen ist. Als „Wütende“ beschreibt Reicher diese Klientel in seinem im Vorjahr erschienenen Buch.

Inzwischen wurden „Die Wütenden“ zum Label für Video- und Fotoshootings mit Micro-Influencern mit einer kleinen, dafür umso eingeschworeneren Gefolgschaft, außerdem zur Online-Plattform für Jugendarbeit und zum Hashtag auf TikTok und Instagram. Wenn Hilal, Jussuf, Kadir, Dariusz und Ismail die Holzbänke der 183 Mandatare nach dem Platz von FPÖ-Chef Herbert Kickl absuchen, während Jonas den präsidialen Vorsitz ansteuert und sich gönnerhaft grinsend „Herr Präsident“ nennen lässt, sind der Fotograf Christopher Glanzl und der Videoproduzent „Calimaat“ stets in ihrer Nähe. Sie produzieren jene Bilder und Clips, die das „Gemma Parlament“-Unterfangen auf Instagram und TikTok bekannt machen sollen – und bei Gefallen von Hilal und den anderen Burschen auf ihren eigenen Kanälen geteilt werden. So geht Jugendarbeit anno 2023.

Falafel und Buchteln mit Vanillesauce

Vergangenen Montag gibt die Grüne Ernst-Dziedzic den Part der nahbaren Politikerin so perfekt, dass Frage auf Frage auf sie einprasselt: „Wie wird man Politiker?“, „Ich habe Schwierigkeiten mit der Polizei, geht das trotzdem?“, „Wenn Sie nicht einverstanden sind mit dem, was die FPÖ macht, sagen Sie: ‚Wir hassen euch?‘“, „Für was ist das da vorn?“ (ein Finger zeigt auf das Rednerpult), „Wer sind diese Herren?“ (mit Blick auf die überlebensgroßen Statuen von Dichtern und Philosophen im historischen Sitzungssaal), „Welche Schimpfworte sind im Parlament nicht erlaubt?“, „Wie früh stehen Sie auf?“, „Haben Sie jeden Tag Arbeit?“, „Und schließlich: „Warum ist es so schwer, die Staatsbürgerschaft zu bekommen?“
 

Die Debatte darüber geht im Bistro „Kelsen“ im Dachgeschoss bei Falafel-Sandwich und Buchteln mit Powidleis und Vanillesauce weiter. Nur zwei der Burschen sind österreichische Staatsbürger. Einer von ihnen, Jussuf, dürfte nächstes Jahr wählen, doch er will gar nicht: „Politik ist für mich sehr schwierig“, sagt er. Und noch einmal, leise und bekümmert: „Sehr schwierig.“

Der Tschetschene Ahmad Mitaev ist inzwischen 23. Als er in Jussufs Alter war, hätten ihn keine zehn Pferde auf Parlamentsexkursion gebracht. Und wie Jussuf war auch er gegen die Demokratie und für eine gerechtere Gesellschaft, die sich am Koran ausrichtet; gegen Gesetze, die der Mensch, ein schwaches, fehlbares Wesen, sich selbst gibt und die gegen Übel wie Drogen, Armut, Rassismus und Krieg nichts vermögen; und natürlich auch dagegen, sich bei Wahlen zu beteiligen. Heute ist er Jugendarbeiter – und einer der wenigen, auf die Burschen wie Jussuf überhaupt noch hören.

Doch Österreich macht es dem jungen Tschetschenen schwer. Seit fast dreieinhalb Jahren wartet Mitaev auf eine erste Anhörung für seine Einbürgerung: „Kann das daran liegen, dass ich Tschetschene bin?“ Die Grünen-Politikerin bietet an, ihn zur zuständigen Magistratsabteilung zu begleiten. Auch Hilal sucht ihre Unterstützung. Seine Eltern haben keinen österreichischen Pass, er hätte gerne einen. Die Politikerin teilt Visitenkarten aus. Dariusz, der im Plenum eine spontane Rede hielt, in der Sätze wie „Blut ist Blut, es ist doch egal, woher man kommt“ fielen und sich vorstellen kann, eine eigene Partei zu gründen, weil keine der bestehenden genug gegen die „Ungerechtigkeit in der Welt“ unternimmt, kündigt an, ihr ein Mail zu schreiben. Und auch Jonas, der einen Nachmittag lang „Präsident“ von eigenen Gnaden war – ein „Präsident ohne Staatsbürgerschaft“, wie er bemerkt – möchte irgendwann dazugehören. Österreicher sein.
 

Der halbe Tag im Parlament versöhnt keinen der Burschen mit den Verwerfungen ihrer Wirklichkeit, mit schlechten Erfahrungen mit Lehrerinnen oder Polizisten. Auch darüber könnten sie lange reden. Doch am Ende fällt ihr Fazit unvermutet versöhnlich aus: „Krass, dass alles hier so alt und immer noch da ist.“ „Interessant, wofür Politiker einstehen, wo wer genau sitzt.“ „Es war nicht unangenehm.“

Zeit, sich zu verabschieden. Jonas geht mit weit ausgestrecktem Arm auf die Grünen-Politikerin zu. Sie nimmt seine Hand und schüttelt sie. Beide lächeln.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges