Gastbeitrag

Richard David Precht und Harald Welzer: Überhitzungsspiele

Das neue Buch von Richard David Precht und Harald Welzer attackiert angeblich übermächtige Leitmedien, die nach Bedarf Stimmung machen. Bernhard Pörksen fragt: Was lässt sich aus der laufenden Debatte lernen?

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Es gibt eine boshaft-grimmige Glosse von Kurt Tucholsky, die den Titel trägt: „Ratschläge für einen schlechten Redner“. Darin liefert er jede Menge Tipps, um einen Auftritt unter Garantie zu ruinieren, eine sinnvolle Diskussion schon im Ansatz zu ersticken und den Diskurs zu veröden. Es gelte, heißt es bei Tucholsky, maximal langatmig zu sein, umständlich zu präsentieren und gelegentlich misstrauisch bei der eigenen Vorlese-Stunde – die freie Rede ist selbstverständlich verboten – aufzublicken, ob die Zuhörenden überhaupt noch da oder längst in eine Art Wachkoma abgedriftet sind. Tucholskys Glosse ist als das gedacht, was in der Psychotherapie eine paradoxe Intervention genannt wird: Man verlangt und tut, was man eigentlich unbedingt verhindern will.

In diesen Tagen sorgt das Buch von Richard David Precht und Harald Welzer für Aufsehen, das sich Tucholskys paradoxe Ratschläge sehr zu Herzen genommen hat. Hier geht man maximal aufmerksamkeitsstrategisch vor: dramatische Befunde, scharfe, plakative Attacken, kurze, schnelle Sätze, Ausrufezeichen – Gottfried Benn nannte sie „Lärmstangen“ – in Serie. Worum geht es? Die Zentralthese dieser Streitschrift lautet, dass der politische Journalismus in Deutschland in bedeutsamen Debattenfragen – Flüchtlingskrise, Pandemie, die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine – eine Art Scheinkonsens simuliert, seine Positionen absolut setzt, Andersdenkende ausgrenzt und die Politik vor sich hertreibt. Und dass er gleichzeitig – Vorsicht, Widerspruch – viel zu sehr mit politischen Eliten kungelt und ihre Narrative gedankenlos übernimmt.

Und dass er überdies – Vorsicht, Widerspruchsverdacht – aus eigener Angst vor dem Bedeutungsverlust und dem Auflagenschwund dabei eigentlich von einer inkompetenten, zuspitzungssüchtigen, hemmungslos moralisierenden Twitter-Meute getrieben wird, der es gelungen sei, die öffentliche Debatte mit ihrer dumpfen Freund-Feind-Logik zu infizieren. Am Ende regiere die vorauseilende Anpassung der Politik, nicht das mutige Zukunftsdenken. Am Ende herrsche Angst im Diskurs. Und die vielfältige, offene Diskussion erlischt im Stichflammenspektakel des Moments. 

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun).

Was ist davon zu halten? In dieser Pauschalität nicht viel, um ehrlich zu sein. Denn strikt empirisch betrachtet, sind die Befunde nicht so klar, wie die Autoren meinen. Weder im Fall der Flüchtlingskrise noch im Fall der Pandemie hat es die eindeutige Mehrheitsmeinung und den hegemonialen Scheinkonsens von Leitmedien im Feld der journalistischen Berichterstattung in dieser Form gegeben. Und für die Ukraine-Krise gibt es – jenseits gefühlter Realitäten – noch keine aussagekräftigen Studien. Medientheoretisch gesehen gilt des Weiteren, dass die Autoren zwei Paradigmen miteinander verschrauben, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Sie attackieren zum einen – in der Linie von Thomas Meyers Essay über „die Unbelangbaren“ (2015) – mächtige politische Journalistinnen und Journalisten, die sich als Treiber und Influencer aufspielen.

Hier argumentiert man letztlich vordigital, im Denkhorizont rostiger, einseitig deterministischer Kampagnentheorien aus den 1970er-Jahren, die schon Meyer ohne allzu große Erkenntnisgewinne wieder aufgewärmt hat. Und hier übersieht man die eigentümliche Grausamkeit, die in der medialen Situation einer zunehmenden Transparenz selbst liegt und die den angeblich übermächtigen Polit-Journalismus gar nicht braucht. Darüber hinaus kritisieren die Autoren – eben das ist das zweite Paradigma – tektonische Verschiebungen der Medienwelt. Und liefern eine Analyse vernetzter Kommunikation, die in eine ganz andere Richtung weist. Hier agieren die Journalisten und Medienmacher eben gerade nicht durch die publikumsferne, elitäre Setzung ihrer eigenen Weltsicht, wie gerade eben noch moniert. Hier reagieren sie, wie dann kritisiert wird, durch Anbiederung und Anpassung. Liefern Nonsens-Aufreger. Produzieren Spektakel-News. Betreiben sinnloses Clickbaiting zur möglichst lukrativen Erregungsbewirtschaftung. Nun geht es also nicht mehr um eine hermetisch isolierte Konsens-Simulation, sondern eigentlich um eine fluktuierende, durchlässige, sich an speziellen Milieus orientierende Dissens-Produktion, die in Zeiten wegbrechender Anzeigenmärkte zur ökonomischen Selbsterrettung taugen soll. Man fragt sich daher am Schluss dieses Buches: Aber was denn nun? Geht es um mächtige Individuen in Gestalt von aktivistischen Polit-Journalistinnen und -Journalisten oder um eine systemische Analyse in Wirkungsnetzen, die alle, wirklich alle in Getriebene verwandelt?

Jetzt gibt es keine Debatte über Medienmacht und die Kommerzialisierung der Diskursräume, sondern über peinliche Talkshow-Momente und gekränkte Eitelkeiten.

Mal kurz persönlich gesprochen: Es ist, denke ich, ein Jammer, dass dieses so zupackend geschriebene Buch offenbar so hastig entstanden und damit so leicht angreifbar ist, weil es den Moment hätte markieren können, in dem eine fundierte, nicht auf Vernichtung, sondern auf Verbesserung zielende Medienkritik den Mainstream der Großöffentlichkeit erreicht. Jetzt gibt es keine Debatte über Medienmacht und die Kommerzialisierung der Diskursräume, sondern über peinliche Talkshow-Momente, gekränkte Eitelkeiten, freihändig zusammenmontierte Behauptungen. Jetzt geht es nicht um Ideologien und Ideen, sondern um Fragen der intellektuellen Integrität. Und jetzt lässt sich eine manchmal einfach erschütternde Lust beobachten, die beiden Autoren irgendwie zur Strecke zu bringen. Ist Precht gar kein „echter“ Philosoph, so lautet die Frage? Hat Harald Welzer – den ich persönlich kenne und schätze – nicht (jenseits von ein paar kritikwürdigen Talkshow-Momenten) in den letzten Jahrzehnten eine mitfühlende Zeitgenossenschaft und ein öffentliches Engagement gezeigt, das seinesgleichen sucht? Wem ist eigentlich durch die Konstruktion von Schrumpfbiografien gedient, die womöglich auf Dauer ein Image prägen?

Noch einmal: Wir erleben am Beispiel dieses Buches ein weitgehend sinnloses Überhitzungsspiel, an dem letztlich alle ihren Anteil haben – die Autoren, die Kritiker, die Talkmaster, die melancholischen Medienanalytiker vom Spielfeldrand, die für profil ein paar Zeilen notieren. Fast könnte man meinen, dass sich aus dem laufenden Geschehen, frei nach Kurt Tucholsky, Ratschläge für misslingende Diskurse destillieren ließen – zum Beispiel: Übertreibe! Formuliere steil! Sei schrill! Bediene das Konfrontainment-Spiel im Dienst von Auflage und Quote, von Klicks und Likes! Aber was wäre, wenn man – jenseits des Lichts der Kamerascheinwerfer und der hektisch formulierten Pauschalangriffe – der Frage nachginge, wie eine non-binäre, intellektuell tatsächlich unberechenbare Debattenkultur aussehen könnte, eine implizite und explizite Feier der Nuance und des Zwischentons, die auch von eigenen Verletzungen und Ängsten nicht schweigt? Und was würde passieren, wenn man beginnen würde, ein ganz anderes Spielfeld zu suchen? Ein Spielfeld, in dem man – jenseits von Dominanz-Wille, Marketing-Getöse und Positionierungseifer – für einen Moment tatsächlich miteinander spricht, explorierend und nicht vorschnell definierend, also insgesamt weniger sicher? So gesehen könnte bei aller Kritik das aktuelle Buch von Richard David Precht und Harald Welzer ein willkommener, einigermaßen paradox eingefädelter Auftakt sein, um endlich in der Breite der Gesellschaft über die Maßstäbe und die Notwendigkeit einer Diskurs- und Medienkritik zu disputieren, die es tatsächlich unbedingt braucht.

Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt. 
S. Fischer. 288 S., EUR 22,70