Gesellschaft

Tabuthema Langeweile: Wie fad ist Ihnen? Und warum?

Die Langeweile ist ein schwer unterschätztes Gefühl – und ein Tabuthema. Wer sich langweilt, gilt als langweilig. Dabei entsteht sie selten aus eigenem Versagen. Es ist wichtig, das zu wissen. Denn man kann sich auch zu Tode langweilen.

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Sieben Uhr morgens, Frühherbst 2005, in einem Industriegelände im Ruhrgebiet: Die 19-jährige Silke Ohlmeier betritt ihr Büro in dem Busunternehmen, bei dem sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert. Sie weiß schon: Das wird heute wieder nichts. Und zwar: nichts in einem großen, existenziellen Sinn. Nichts im Sinne von: noch einer dieser ewigen, nicht vorübergehenwollenden Tage, angefüllt mit Arbeit, die nirgendwohin führt; trostlos ausgeschmückt mit ausgedehnten Toilettenbesuchen und Jauseneinkäufen. „Allein saß ich in meinem Büro und war nicht nur dem Schlaf, sondern auch den Tränen nahe“, erinnert sich Ohlmeier. Drei Jahre hielt sie die Tortur durch, dann machte sie aus dem Trauma im Job einen Traumjob: Ohlmeier studierte Soziologie und spezialisierte sich auf die Langeweile. Heute arbeitet sie an der Universität des Saarlandes und ist Mitglied der International Society for Boredom Studies. Gerade ist ihr Buch „Langeweile ist politisch“ erschienen.

Gut, aber warum „politisch“? Weil Langeweile, so die Soziologin, eben nicht nur eine private Empfindung ist, sondern in gesellschaftlichen Umständen entsteht, die sie entscheidend prägen. Der alleinerziehenden Mutter ist anders langweilig als der Unternehmensberaterin, dem Praktikanten anders fad als dem Frühpensionisten – und zwar aus jeweils sehr verschiedenen Gründen. Am Telefon erklärt Silke Ohlmeier die These näher: „Es ist immer eine Frage der Zeit, wie wir Langeweile verstehen, etwa: Ist sie eher ein Privileg der Reichen oder ein Stigma ärmerer Menschen? Ob jemand denkt, Nichtstun ist langweilig oder im Gegenteil pure Entspannung, liegt nicht nur in dem Gefühl selbst. Es ist auch eine Frage des gesellschaftlichen Kontexts.“

Klassenfrage Langeweile

Der alleinerziehenden Mutter ist anders langweilig als der Unternehmensberaterin, dem Praktikanten anders fad als dem Frühpensionisten – und zwar aus jeweils sehr verschiedenen Gründen.

Die freie und die unfreie Zeit

Jeder Mensch erkennt Langeweile, wenn er sie verspürt. Eine genauere Definition fällt den meisten schon schwerer. Führende Langeweileforscher vergleichen sie mit einem Mir-liegt’s-auf-der-Zunge-Moment: Etwas fehlt. Aber was eigentlich? Gleich hab ich’s! Langeweile ist eine schreckliche Mischung aus Antriebs- und Rastlosigkeit, an die man sich kaum gewöhnen kann. Und wenn man es macht, tut man sich nichts Gutes. Denn die Langeweile ist eben kein entspanntes Nichtstun, keine freie Zeit. Sondern eine, die angefüllt ist mit dem Wunsch nach etwas anderem: nach dem Ende der Langeweile. Langeweile ist nicht gleichgültig und schon gar nicht angenehm. Sie ist auch nicht in einem depressiven Sinn antriebslos. Versuch einer Definition: „Langeweile ist die unangenehme Erfahrung, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können.“

Und: Sie ist ein Tabu.

Über die eigene Langeweile sprechen heißt Fehler einzugestehen. Offenbar ist man nicht nützlich genug, um einen produktiven Job zu besetzen, oder nicht motiviert genug, um richtig Spaß bei der Arbeit zu haben. Vielleicht ist man auch zu blöd, seine freie Zeit besser zu nutzen, oder zu arm, um sich ein spannendes Leben zu leisten. Langeweile, so Ohlmeier, „steht konträr zum Leistungsimperativ unserer Gesellschaft“, und außerdem in einem „Spannungsfeld zwischen starker Verbreitung und permanenter Verdrängung“. Jeder hat sie, keiner gibt es gern zu. Langeweile ist ein Stigma. Kein Fun ist ein Stahlbad.

Gelangweilte Eltern

Dazu hat die Langeweileforscherin ein gutes Beispiel auf Lager: Für eine Studie wertete sie Forenbeiträge von Jungeltern aus, in denen diese unter anderem über ihre Langeweile berichteten. Mit dem nicht rasend überraschenden Ergebnis, dass man sich mit Kleinkindern auch einmal langweilt, und wenn es die eigenen sind. Zwei Stunden auf dem Spielteppich können sich ziemlich ziehen. Entscheidend war aber ein weiteres Resultat der Untersuchung, nämlich dass sich fast alle Eltern in dieser Situation allein fühlten und ein schlechtes Gewissen entwickelten: Ich liebe mein Kind, aber ich langweile mich. Die Formulierung ist verräterisch: Als würde Langeweile die Elternliebe infrage stellen.

„Langeweile ist nicht nur eine Frage der Tätigkeit an sich, sondern auch eine Frage der gesellschaftlichen Deutung“, meint Silke Ohlmeier. Wobei Langeweile von alleinerziehenden Frauen oder diskriminierten Gruppen tendenziell weniger ernst genommen wird als von hoch bezahlten Managern. Aber natürlich langweilen sich auch diese. In einer Studie unter Unternehmensberatern fanden die Wirtschaftswissenschafterin Jana Costas und der Organisationsforscher Dan Kärreman ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen dem glamourösen Image der Berufsgruppe und der gähnenden Langeweile von Excel-Sheets und Corporate-Standards-Richtlinien. Der Widerspruch erwies sich in den untersuchten Fällen übrigens als besonders bedrückend, weil Anspruch und Wirklichkeit so eklatant auseinanderklafften – und damit auch das quälende Tabu der Langeweile umso stärker wirken konnte.

Bestimmte Rollenvorstellungen erzeugen also Langeweile – weil sie eben nicht mit den persönlichen Vorstellungen und Motiven der beteiligten Menschen zusammenpassen. Dazu kommt noch das schlechte Image von Langweile, die häufig im selben Topf steckt wie Faulheit und Versagen. Ohlmeier: „Gerade die Langeweile bei der Arbeit ist ganz schwer zu artikulieren. Wir werden ja bezahlt fürs Tun und nicht fürs Nichtstun.“ Darum hört, wer sich über Langeweile beschwert, auch so häufig den meist halb gelogenen Konter: „Ich wünschte, mir wäre einmal langweilig. Ich hab ja immer Stress.“

Tatsächlich aber verursacht dauerhafte, unauflösbare Langeweile ganz erheblichen Stress. Psychologen sprechen von Hypostress, der aus Unterforderung entsteht, aber ähnliche Auswirkungen hat wie jener, der aus der Überforderung erwächst. Im Extremfall kann andauernde Langeweile zum sogenannten Boreout führen, einer psychischen Erkrankung, deren Symptome mit dem Burnout – vulgo: Erschöpfungsdepression – verwandt sind. Man kann sich – im Extremfall – tatsächlich zu Tode langweilen. Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm erklärte schon Jahre vor der Erfindung der Unternehmensberatung: „Es gibt nur wenige Dinge, die in gleicher Weise quälend und unerträglich sind wie die Langeweile.“

Langeweile bedeutet eine Erschöpfung, die aus dem Nichts kommt und die zunächst die Psyche trifft, aber auch den Körper kaputtmachen kann. Als problematisch empfundene Langeweile geht häufig mit ebenso problematischen Bewältigungsstrategien einher, mit Alkoholismus oder Essstörungen. Chronisch gelangweilte Menschen leiden oft unter sozialer Vereinsamung, Angst und Depression. Langweile ist dabei in der Regel nicht die Ursache, hat aber eine verstärkende Wirkung.

 

Langeweile - was ist das eigentlich?

Langeweile ist eine schreckliche Mischung aus Antriebs- und Rastlosigkeit, an die man sich kaum gewöhnen kann. Und wenn man es macht, tut man sich nichts Gutes. Denn die Langeweile ist eben kein entspanntes Nichtstun, keine freie Zeit. Sondern eine, die angefüllt ist mit dem Wunsch nach etwas anderem.

Das Ende der Langeweile?

Jetzt könnte man, als nicht existenziell von Langeweile bedrohter Arbeitnehmer, die These wagen, dass Langeweile vom Aussterben bedroht sei. Ich kann, sobald ich auch nur den Hauch von Ennui verspüre, auf mein Handy schauen und sofort Teil der globalen Entertainment-Industrie werden. Nur wird mir das leider nicht helfen. Um das zu verstehen, ist es wichtig, zwischen situativer, chronischer und existenzieller Langeweile zu unterscheiden. Die erste wäre die, die uns beim Warten auf den Bus erwischt – kurz und auf eine konkrete Situation bezogen. Die chronische umfasst längere Zeiträume und weite Lebensbereiche, etwa eine dauerhaft unbefriedigende Jobsituation. Existenzielle Langeweile wäre schließlich eine, die das gesamte Leben umfasst, eine Art tief wurzelnde Sinnkrise.

Wenn wir nun aber jeden Mini-Moment der situativen Langeweile mit unserem Handy bekämpfen, kann sich das unter Umständen sogar zu einer chronischen Langeweile auswachsen, weil wir damit immer auch entscheidenden Fragen ausweichen, zum Beispiel: Wie möchte ich mein Leben verbringen? Oder: Was macht mich wirklich froh? Langeweile ist weniger eine Frage von Beschäftigung als eine des Sinns: Ich bin beschäftigt, aber das, was ich da mache, empfinde ich für mich nicht als sinnvoll, es fordert mich nicht, bringt mich nicht weiter, und irgendwie langweilt es mich. Diese Aspekte der Langeweile kann auch das neueste Handy nicht bekämpfen. Dauernde Smartphone-Berieselung stärkt Konzentration und Sinnstiftung ja gerade nicht; eben diese beiden wären aber für ein langeweilefreies Leben essenziell. Es besteht ein Unterschied zwischen gefüllter und erfüllter Zeit.

Die Smartphones haben es gut: Sie langweilen sich nicht. Behauptet zumindest der Chatbot in meinem Handy: „Als künstliche Intelligenz habe ich keine Emotionen oder Bedürfnisse, sodass ich nicht in der Lage bin, Langeweile zu empfinden. Allerdings verstehe ich, dass Langeweile ein Gefühl ist, das viele Menschen erfahren können, und ich kann versuchen, nützliche Tipps oder Ideen zu geben, wie man Langeweile überwinden kann.“

Na gut, bitte um Hinweise! Chat-GTP liefert sofort zehn Ideen: „1. Entdecke neue Hobbys: Versuche etwas Neues auszuprobieren, wie zum Beispiel eine neue Sportart, eine neue kreative Tätigkeit oder ein neues Instrument zu erlernen. 2. Geh raus und erkunde: Geh spazieren, besuche einen Park, gehe in eine Kunstgalerie oder besuche eine neue Stadt. Es gibt viele Orte zu entdecken und zu erkunden, die dich inspirieren können. 3. Verbringe Zeit mit Freunden und Familie: Organisiere ein Treffen mit Freunden und Familie, um gemeinsam etwas zu unternehmen.“ Offenbar weiß die Maschine wirklich nicht so genau, was Langweile ist. Mit guten Tipps gegen Langeweile derart zu langweilen, muss man auch erst einmal schaffen.

 

Tabuthema Langeweile

Über die eigene Langeweile sprechen, heißt Fehler einzugestehen. Offenbar ist man nicht nützlich genug, um einen produktiven Job zu besetzen oder nicht motiviert genug, um richtig Spaß bei der Arbeit zu haben. Vielleicht ist man auch zu blöd, seine freie Zeit besser zu nutzen oder zu arm, um sich ein spannendes Leben zu leisten.

Das Geheimnis des „Mittagsdämons“

Langeweile existiert seit Jahrtausenden. Sie betrifft Menschen in aller Welt und zu allen Zeiten, aber – wie gesagt – nicht immer im gleichen Maß und mit den gleichen Auswirkungen. Denn Langweile entsteht immer in einem kulturellen Zusammenhang. Dieser kann auch bedeuten, dass Langeweile als nicht besonders bemerkenswert empfunden wird, oder andersherum sogar als Privileg, nämlich derjenigen, die sie sich überhaupt erst leisten können, weil sie nicht mehr um ihr Leben rackern müssen. Mittelalterliche Mönche schlugen sich mit dem Phänomen der Acedia herum, auch „Mittagsdämon“ genannt, weil zu der Tageszeit das klösterliche Leben offenbar einen deutlichen Durchhänger hatte, sodass viele Ordensleute eine dämonische Trägheit verspürten, die das Vergehen der Zeit quälend verlangsamte. Insgesamt ist Langeweile seit dem 19. Jahrhundert zunehmend zum Unterschichtsymptom geworden. Erst mit dem Aufkommen von „Freizeit“ wurde Langeweile massentauglich, gleichzeitig fielen spätestens im 20. Jahrhundert viele traditionelle Sinnquellen wie Religion oder Tradition weg; auch die im klassisch-marxistischen Sinn entfremdete Arbeit war neu – und langweilig. Im modernen Roman ist die Langeweile eine zentrale Emotion, man kann sich Emma Bovary oder Hans Castorp ruhig als gelangweilte Menschen vorstellen. Kierkegaard und Heidegger machten sich ihre Gedanken über die Langeweile, Kurt Cobain sehr viel später auch. Heute leiden Fließbandarbeiterinnen unter Langeweile oder Nachmittags-TV-Konsumenten, Pensionisten oder Security-Mitarbeiterinnen, ganz besonders auch Geflüchtete und Asylwerbende mit unklarer Arbeitsbewilligung und Aufenthaltsstatus. Und dann kam, im März 2020, die Langeweile, die wir alle kennen: der rasende Stillstand der Corona-Lockdowns, die frustrierend gedämpfte Betriebsamkeit in Homeoffice und Heimschule.

Brauchen Kinder Langeweile?

Gerade Letztere stellte eine altbekannte Frage noch einmal ganz neu zur Debatte: Brauchen Kinder Langeweile? Macht sie kreativ, fördert sie die kindliche Selbstständigkeit? Die Langeweile-Forscherin Silke Ohlmeier hält diesen beliebten Erziehungsratgeber-Topos für ein Klischee: „Ob Langeweile kreativ macht oder nicht, ist nicht abschließend geklärt und hängt von vielen individuellen und psychosozialen Faktoren ab.“ Es kommt also tatsächlich darauf an. „Auch bei einem Kind signalisiert Langeweile einen Veränderungsbedarf und zeigt, dass es nicht im Einklang mit seinen individuellen Fähigkeiten und Interessen ist. Und offensichtlich schafft es das Kind gerade nicht, dies zu ändern.“ Man soll Kinder nicht aus den falschen Motiven in dieser Zwangslage lassen. Das heißt nicht, dass man sie mit falschen Angeboten bespaßen möge und ihnen ein Smartphone überreichen, sobald das erste „Mir ist fad!“ ertönt. „Es ergibt keinen Sinn, Kinder aus der falschen Hoffnung, sie würden dadurch kreativ werden, dazu zu zwingen, Langeweile auszuhalten. Gleichzeitig ist es unmöglich, Langeweile ständig von Kindern fernzuhalten. Es ist wichtig, Kindern beizubringen, Langeweile in gewissem Ausmaß zu tolerieren, anstatt ihnen ununterbrochen Entertainment und Ablenkung zu bieten.“ Langeweile ist kein produktives Gefühl, das Kreativität erzeugt. Aber es kann produktiv sein, kreativ mit der Langeweile umgehen zu lernen.

Das wiederum gilt nicht nur für Kinder, sondern zum Beispiel auch für Wahlberechtigte. Denn wenn Langweile politisch ist, dann ist sie das in einem durchaus real- bis parteipolitischen Sinn. Die Langeweile benachteiligter Gruppen kann auch bei Wahlen durchschlagen. Studien zeigen, dass Menschen, die stark von Langeweile betroffen sind, eher politische Extreme wählen. Langeweile wirkt aktivierend, und das Schauspiel, das Leute wie Donald Trump bieten, wird auch aus einem Gefühl von Langweile heraus attraktiv; weil sie gegen das bleierne Establishment auftreten. Langeweile ist ein Ausdruck von prekären Lebensumständen und ein Symptom von sozialer Ohnmacht. Etwas soll sich ändern, egal was. Make Everything Fun Again.

Langeweile kann also die Welt verändern. Wir sollten sie ernst nehmen.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.