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Dick doof: Die Gewinner der Pandemie

Raubt uns die Pandemie schrittweise den Verstand? Sind Pflanzen wirklich intelligenter als wir? Und wieso treffen auch kluge Menschen oft völlig idiotische Entscheidungen? Über einen klaren Gewinner dieses Jahres: die Dummheit.

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Einer der weitsichtigsten österreichischen Schriftsteller und klügsten Essayisten zum Thema Dummheit starb völlig verarmt und nahezu vergessen 1942 in Genf an einem Gehirnschlag. Sein Meisterwerk "Der Mann ohne Eigenschaften" konnte Robert Musil nicht mehr vollenden. Die "seelischen Abenteuer und Irrfahrten" des jungen Intellektuellen Ulrich in "Kakanien", so Musils Begriff für die morbide, dem Untergang geweihte k. u. k. Monarchie galt jahrelang als das Vorzeige-Lieblingsbuch diverser SPÖ-Kapos: Es war das Buch, das Altbürgermeister Michael Häupl auf die berühmte Insel mitnehmen wollte; auch die früheren Kanzler Fred Sinowatz und Viktor Klima entschieden sich bei einschlägigen Umfragen für den 1040-Seiten-Wälzer als Lektüre-Favoriten, möglicherweise im nacheilenden Gehorsam, denn den Anfang hatte schon Bruno Kreisky gemacht. Es blieb die Frage: Hätten sie ein Trivia-Quiz über diesen Roman in Würde überlebt?
 

Dagegen musste natürlich Erwin Prölls legendäre Lieblingsbuch-Wahl, die auf Karl Mays "Der Schatz im Silbersee" fiel, zur Lachnummer werden. Vordergründig. Denn bei genauerem Nachdenken war möglicherweise die volksnahe, bodenständige Variante im Hinblick auf Wählerstimmen als sympathietragendes Element wirklich die politisch klügere Wahl als die sperrig-elitäre Bildungsbürgertrophäe, die sich die SPÖ-Granden ans Revers hefteten.

Allerdings liegt Intelligenz in der Regel nicht, wie die Schönheit, "im Auge des Betrachters", sondern ist (zumindest in Teilaspekten) mit unterschiedlichen Varianten sogenannter IQ-Tests gut messbar. Messverfahren für die verschiedenen Facetten der Dummheit stehen noch aus, obwohl die vergangenen zwei Jahre ein reiches Experimentierfeld geboten haben. Wir sind der Schauermärchen, die im Zuge der Frei-,Quer-und Nichtdenker-Bewegung an die Oberfläche schwappten, ja wohl alle schon ein bisschen müde, oder schlimmer, wir haben uns daran als einen Teil der aktuellen Alltagskultur gewöhnt: Entwurmungsmedikamente für Pferde und intravenös gespritzte Desinfektionslösungen als Anti-Covid-Medikamente. Nur weil der ehemalige US-Präsident Donald Trump gegenwärtig in einer geschmacksbefreit gestalteten Villa in Palm Beach sitzt und nicht mehr die Welt, sondern nur mehr sein Personal terrorisiert, ebbt die Welle der Virologen von eigenen Gnaden hinter den Polit-Kanzeln nicht ab. Uns bleibt immer noch Kickl, der trotz eigener Corona-Erkrankung weiter Anti-Impf-Belladen anstimmt; die Bewohner von Florida haben ihren Mini-Trump in Gestalt des Gouverneurs Ron DeSantis, der in seinem Präventionszirkus wider die "Medizinfaschisten" auf Insektenschutz und Maskenfreiheit in Schulen setzt.

Der strahlende Star unter den zeitgenössischen Schauermärchen bleibt aber die Story von den Kindern, die in einer Höhle gefangen gehalten werden, um aus ihrem Blut Adrenochrom zu gewinnen; eine Substanz, die arrogante Eliten als Verjüngungsmedizin trinken. Im Gegensatz dazu mutet der Aluhut, jenes frühe It-Accessoire der Corona-Leugner, wie ein Scherzartikel von orientierungs- und harmlosen Spätentwicklern an. Jeder siebente Amerikaner glaubt laut einer Umfrage des "Public Religion Research Institute" an die satanische Weltverschwörung einer pädophilen Elite, die zu den Motiven der QAnon-Bewegung gehört, jener Gedankensekte im Umfeld rechtsextremer Trump-Anhänger. Lässt das den Rückschluss zu, dass jeder siebente Amerikaner ein kognitiver Schwachmatiker ist? Oder, wie Steven Pinker in seinem neuen Buch fragt: "Wie kann eine rationale Spezies nur so irrational agieren?"

Pinker ist Harvard-Professor, Bestsellerautor und unverdrossener Apologet von Aufklärung und Rationalität. Zuletzt erschien seine dringend notwendige "Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstands" unter dem Titel "Mehr Rationalität" (bei S. Fischer). In einem "Zeit"-Interview meinte Pinker, dass unsere Spezies verlernt habe, "mit Ambivalenzen zu leben":"Wir denken zu viel in Schwarz-Weiß, dabei ist die Welt grau." Die zunehmende "Verzerrtheit des Verstandes" sei aber auch ein Produkt der "rechten Trollkultur" mit ihren "alternativen Realitäten", die sich in einer übersteigerten Form von "Ideologie und Zynismus" breitmache.

Eine These, die Robert Musil in seinem legendären Wiener Vortrag "Über die Dummheit" für den "Österreichischen Werkbund" im März 1937, als seine Bücher schon auf dem Berliner Bebelplatz verbrannt worden waren, in groben Zügen vorwegnahm.

Große Passagen dieses Textes lassen sich nahtlos über die Gegenwart stülpen: Dummheit ist für Musil nicht "bloß oder vornehmlich ein Mangel an Verstand",auch "in blindem Aktionismus" lasse sie sich erkennen. Während die "ehrliche Dummheit", die mit den "roten Wangen des Lebens",für Musil durchaus "eine Künstlerin" ist mit ihrer "eigentümlichen Freude am Geist",der durchaus auch etwas Poetisches anhafte, sieht er in der "höheren Dummheit" eine "Bildungskrankheit":Diese Krankheit sei aus den Zutaten "Unbildung, Fehlbildung, falsch zustande gekommene Bildung und einem Missverhältnis zwischen Stoff und Kraft der Bildung" zu einem toxischen Cocktail vermischt. Die Hybris könnte man vielleicht aus heutiger Sicht noch hinzufügen, denn die viel zitierten Chatprotokolle rund um den gefallenen Sebastian-Kurz-Adlatus Thomas Schmid zeigen nicht zuletzt auch, dass gegenüber Eitelkeit und Narzissmus die Intelligenz oft mit leeren Händen dasteht.

Willkommen auf dem Planeten Realität, wo sich die von Musil skizzierte Bildungskrankheit gegenwärtig seuchenartig verbreitet.

Sind Sie übrigens der Überzeugung, dass die Erde tatsächlich rund ist? Sind Sie sicher kein Mitglied der "Flat Earth Society", jener Community, die darauf beharrt, dass die Erde eine Scheibe sei? Trotz des tragischen Todes von "Mad Mike" Hughes, eines 64-jährigen Stuntman und "Flat Earthers",der im Februar 2020 beim Versuch, mit einer selbst gebastelten Rakete in den Weltraum zu gelangen, um so den Foto-Beweis seiner These antreten zu können, in der kalifornischen Wüste zerschellte, wird der Obskuranten-Club der Flacherdler noch immer auf 200.000 Mitglieder geschätzt.

Die "Flat Earthers" sind nur ein Beispiel für jene "Pseudodebilität", die die Linzer Psychiaterin Heidi Kastner in ihrem neuen Essay-Band "Dummheit" (Kremayr& Scheriau) näher erläutert und die die Gesellschaft derzeit in eine regressive Intelligenzkurve lenkt. Der Begriff geht auf den Wiener Psychoanalytiker Otto Fenichel, einen später verdammten Jünger des Zirkels um Sigmund Freud, zurück, der diese Pseudodebilität mit einer "die Urteilskraft unterminierenden Anstrengungsverweigerung" gleichsetzt: Jeder Intellekt laufe Gefahr "zu schwächeln", wenn Emotionen ins Spiel kommen und wenn, so Kastner ergänzend, "das Verstehen Angst-oder Schuldgefühle auslösen oder ein bestehendes neurotisches Gleichgewicht gefährden würde". Möglicherweise liegt hier eine Antwort auf die Frage, die sich die letzte Überlebende des Frauenorchesters von Auschwitz, die 96-jährige Anita Lasker-Wallfisch, bis heute stellt: "Es bleibt mir noch immer ein ungelöstes Rätsel: Wie konnten gebildete, intelligente und studierte Menschen zu solchen Akten der Barbarei fähig sein?"

Alles, was das gefestigte Weltbild ins Wanken bringen könne, also etwa Ethik, Moral, Verstand oder Anstand, wird ausgeblendet, um sich nicht inneren Konflikten und ideologischen Umbauarbeiten aussetzen zu müssen. Je größer die jeweilige Gruppe ist, desto stärker sind Emotionen in der Lage, solche Faktoren der Intelligenz auszuhebeln, wie man beim Sturm auf das Kapitol in Washington, einem Bilderbuchbeispiel des von Robert Musil erwähnten "blinden Aktionismus",in dramatischer Deutlichkeit erleben konnte.

Der französische Mediziner und Psychologe Gustave Le Bon setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Werk "Psychologie der Massen" mit psychodynamischen Prozessen innerhalb von Gruppen auseinander. Die Macht und Durchsetzungskraft einer Idee hänge vor allem davon ab, ob sie "ins Unbewusste eindringen kann" (Le Bon) und "zur Transformation eines Gefühls" (Kastner) fähig sei. Menschen, "für die die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zentrale Bedeutung für ihre Identität hat" (Steven Pinker), werden für ihre Überzeugungen "ins Grab" gehen, also sehr schnell tiefe, unerschütterliche Gefühle mobilisieren können.

Je tiefer jemand in den Kaninchenbau irrationaler Überzeugungen vorgedrungen ist, desto sinnloser wird es, ihn mit rationalen Argumenten wieder hervorlocken zu wollen. Chancen, mit Fakten, Statistiken und Studienergebnissen einen konstruktiven Diskurs auszulösen, bestünden nur dann, so die Verschwörungsforscherin Katharina Nocun, solange sich das Gegenüber "noch zwischen zwei Welten bewegt und schwankt".

Dass in Wirtschaftskrisen, Pandemien und Kriegen Angst und Verunsicherung verlässlich wie Brandbeschleuniger bei der Zerstörung von Ratio, Vernunft und Logik wirken, zeigen uns die Geschichtsbücher quer durch die Jahrhunderte.

Doch schon vor der Extremsituation der Corona-Pandemie haben Intelligenzforscher rote Flaggen aufgestellt, was die Entwicklung des gesellschaftlichen IQ-Durchschnittswerts betrifft. 2015 hatte das österreichische Psychologen-Duo Jakob Pietschnig und Martin Voracek von der Universität Wien eine frohe Botschaft zu verkünden, die in der Wissenschaftswelt Aufsehen erregte: In einer groß angelegten Metastudie durchforsteten die beiden Forscher sämtliches verfügbares Datenmaterial zur Intelligenz-Diagnostik; 219 Studien mit insgesamt vier Millionen Teilnehmern aus 31 Ländern flossen in die Analyse ein. Deren Fazit trotzte allem Kultur-und Fortschrittspessimismus: Der Durchschnitts-IQ der Menschheit ist im Erhebungszeitraum von 1909 bis 2013 um insgesamt 30 Punkte gestiegen. Der neuseeländische Politologe und Intelligenzforscher James Flynn hatte schon Mitte der 1980er-Jahre belegen können, dass sich die IQ-Werte in 14 ausgewählten Ländern bei gleichen Testverfahren innerhalb einer Generation um 20 bis 25 Punkte verbesserten. Diese Erkenntnis ging unter dem Terminus Flynn-Effekt in die Wissenschaftsgeschichte ein.

Verantwortlich für diese positive Entwicklung waren Faktoren wie Bildung, Ernährungsbewusstsein und medizinische Versorgung, wobei Nationen wie Österreich und Deutschland durch die Kriegstraumatisierung und die damit verbundenen Versorgungsengpässe im Vergleich zu anderen Industrienationen dem Durchschnitts-IQ länger hinterherhinkten.

Seit dem Jahr 2019 sieht sich die Wissenschaft jedoch mit einer Art Anti-Flynn-Effekt konfrontiert, der sich freilich schon in den Jahren davor abzeichnete, wie Jakob Pietschnig in seinem neuen Buch "Intelligenz: Wie klug sind wir wirklich?"(Ecowin) aufzeigt. Die Ursachen für diesen "Retourgang der Intelligenz" seien noch nicht wissenschaftlich geklärt, "weil die Forschung der letzten 40 Jahre zwar Theorien zur Erklärung des IQ-Zuwachses, nicht aber für dessen Abnahme entwickelt hat", so Pietschnig.

Als eine mögliche Erklärung sieht der Psychologe den sogenannten "Sättigungs"-Effekt, also die Tatsache, dass alle positiven Auswirkungen eines bestimmten Faktors bereits erreicht sind: "Ein optimal ernährtes Kind wird durch noch mehr Nahrung beispielsweise nicht intelligenter, sondern nur noch dicker." Ein Zeitalter, in dem weniger Universalwissen als Spezialisierung gefragt ist, würde den Retourgang der Intelligenz zusätzlich beschleunigen: "Nehmen wir das Beispiel des Zehnkampfs her: Trainiert man in einer Disziplin weit mehr als in anderen, erzielt man zunächst ein besseres Gesamtergebnis, wobei die vernachlässigten Sparten auf lange Sicht zu größeren Verlusten beim Endresultat führen."

Wie kommen wir nun aber wieder aus der Sackgasse der Intelligenz heraus?

Der italienische Professor für Neurobiologie und Autor des Bestsellers "Die Intelligenz der Pflanzen", Stefano Mancuso, erklärte in einem TV-Interview die seiner Ansicht nach einzige Möglichkeit, die Menschheit vor dem durch Dummheit bedingten Aussterben zu bewahren: Sie müsse lernen, das Lebensprinzip der Pflanzen zu imitieren. Von der Vorstellung, dass "das menschliche Hirn einen evolutionären Vorteil" böte, hat sich Mancuso verabschiedet. Pflanzen hingegen "verbrauchen im Gegensatz zu uns niemals mehr Ressourcen, als ihnen zur Verfügung stehen." Ihr oberstes Ziel sei das Überleben ihrer Spezies, ihr wichtigstes Erfolgsrezept der Gemeinsinn. "Wir hingegen", so Mancuso, "tun so, als ob uns diese Ressourcen unendlich zur Verfügung stehen, was eine typische Ausprägung menschlicher Dummheit ist." Oder ihrer kleinen Schwester, der Ignoranz, frei nach dem Motto: "Was nicht sein soll, ist auch nicht." Die Pandemie sei also nichts als "ein Wink mit dem Zaunpfahl angesichts weitaus bedrohlicherer Szenarien" gewesen.

Angesichts akuter Apokalypseszenarien kann man einen kleinen Ablenkungsspaziergang durch die sozialen Medien gut gebrauchen. Dort könnte man beispielsweise der 17-jährigen Charli D'Amelio bei einem Tänzchen im Supermarkt zum Song "Blurred Lines" zuschauen, so wie 107 Millionen Tik-Tok-Mitbürger weltweit. Oder ein kleines Makeup-Tutorial bei Zoella auf YouTube einlegen (5,3 Millionen Klicks). Oder sich einen Clip von einem mit Koi-Karpfen schmusenden chinesischen Baby auf einem Instagram-Reel (acht Millionen Aufrufe) reinziehen. Angesichts der geballten Ladung von Schwachsinnigkeiten, die mit minimalem Aufwand einen Millionenschwarm von Followern nach sich ziehen, wundert einen der fortschreitende Anti- Flynn-Effekt dann auch nicht mehr so sehr.

Über die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser geistiges Niveau streiten sich Kulturpessimisten und Fortschrittsoptimisten derweil noch ohne endgültiges Ergebnis, eine Studie widerspricht der nächsten. Dass zu viel Zeit im Netz unserer Konzentrationsfähigkeit nicht gerade förderlich ist, ist aber bereits amtlich. Der amerikanische Neurowissenschafter Daniel Levitin schreibt in seinem Buch "The Organized Mind" über die permanente Torpedierung durch Mini-Impulse in Form von Twitter, WhatsApp oder Instagram: "Der bleibende Effekt in unserem Hirn ist dieser: Wir werden dafür belohnt, dass wir uns nicht mehr konzentrieren können und ständig nach neuen Stimuli von außen sehnen."

Aber wahrscheinlich gilt für das Netz dasselbe wie für alle Suchtmittel: Nicht die Droge per se ist dumm, sondern nur die Art, wie wir sie benutzen.

"Die Erschöpfung ist dort am größten", begründete der Philosoph Friedrich Nietzsche geistige Ermüdungserscheinungen, "wo am unsinnigsten gearbeitet wird."

Und gelebt, könnte man hinzufügen.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort