„Die Doppelresidenz ist eine modische Übertreibung“
Von Sebastian Hofer
Schriftgröße
Wir würden gerne mit Ihnen über die ungerechte Behandlung von Vätern in Sorgerechtsfällen sprechen.
Klaar
Das überrascht mich jetzt doch ein wenig, denn die Zeiten, in denen Väter in Pflegschaftssachen benachteiligt wurden, sind lange vorbei. Wir haben momentan eher den gegenläufigen Trend.
Viele Väter werden Ihnen da gerne widersprechen.
Klaar
Ja, das sind die Väter. Wenn die im Sommer vier Wochen von den Ferien kriegen und die Mutter fünf Wochen, dann sagen sie, sie seien benachteiligt. Das kommt tatsächlich vor, ja. Aber die Praxis bei den Gerichten geht schon dahin, dass Väter grundsätzlich so behandelt werden, als wären sie die idealen Väter. Wovon in der Praxis leider die meisten noch weit entfernt sind.
Die Praxis bei den Gerichten geht schon dahin, dass Väter grundsätzlich so behandelt werden, als wären sie die idealen Väter.
Helene Klaar
Familienrechtsanwältin
Aber es gibt doch sehr viele Väter, die ihren Kindern tatsächlich und ehrlich sehr zugetan sind.
Klaar
Sicher gibt es Familien, in denen an einem Abend die Mutter die Kinder ins Bett bringt und am nächsten der Vater. Allerdings lassen sich solche Paare viel seltener scheiden. Denn es ist ja meistens der Streit um die Kinder, der zur Scheidung führt, und nicht die dämonische Liebhaberin. Und zweitens einigen sich diese Familien sehr oft auch ohne Anwalt auf eine geteilte Betreuung.
Für viele Väterrechts-Aktivisten stellt sich die Situation anders dar: Das sogenannte Betreuungselternteil ist in aller Regel die Mutter, und diese sitzt im Konfliktfall am längeren Ast. Egal was kommt – die Väter haben keine Handhabe.
Klaar
Ganz am Anfang meiner Berufstätigkeit war es selbstverständlich, dass das Kind nach einer Scheidung bei der Mutter bleibt – und dass die Kontakte mit dem Vater nur am Samstag oder am Sonntag stattfanden. Das war natürlich keine gute Regelung.
Heute werden in der Regel mehr Kontaktrechte zugestanden.
Klaar
Genau, zunächst wurde erweitert auf ganze Wochenenden, und jetzt kommt da noch mindestens ein Nachmittag während der Woche dazu, womit sich manche Väter schon schwertun, vor allem aus beruflichen Gründen. Ein Lkw-Fahrer kann nicht jeden Mittwoch mit dem Kind spazieren gehen. Erweiterte Besuchsrechte sind eigentlich ein Fall für die besser Situierten. Aber ein Wochenende von Freitagnachmittag bis Sonntagabend, das ist einfach Standard, das kriegt jeder. Weniger gibt es fast nicht. Bei den Männern, die sich beschweren, weil sie weniger Kontaktrecht haben, dürfte es schon auch an ihnen selber liegen.
Und nicht an der Mutter?
Klaar
Dass die Mutter bestimmen könnte, ob das Besuchsrecht eingeschränkt wird, ist ein greller Scherz. In Wahrheit sind die Gerichte aus irgendeinem Grunde der Meinung, dass das väterliche Besuchsrecht überhaupt immer nur ausgeweitet werden muss.
Dass ein Besuchsrecht auch einmal eingeschränkt wird, kommt nicht vor?
Klaar
Ich habe gerade einen Fall, da ist das Kind zehn Jahre alt und hat nach langem Zögern dann doch irgendwann gesagt, dass es während der Woche lieber keinen Kontakt mit dem Vater will, weil er es immer so überlädt mit Aktivitäten, dass es nachher ganz fertig ist. Aber es hat nichts genützt: Für das Gericht ist der Vater bemüht, will nur das Beste für das Kind, das also gefälligst hingehen soll, auch wenn ihm nachher die Zunge herausfällt.
Wie häufig wird bei Gericht ein echtes Fifty-Fifty-Modell zuerkannt?
Klaar
Das Fifty-Fifty-Modell war eine Zeit lang häufiger, aber mittlerweile haben die Psychologen und auch ein Teil der Richter verstanden, dass es nur in Ausnahmen funktioniert. Dafür braucht es in Wirklichkeit ein sehr gutes Einvernehmen zwischen den Eltern. Und die Eltern müssen auch nahe beieinander wohnen. Außerdem müssten sie eine ähnliche Vorstellung von Erziehung haben. Und solche Leute, ich wiederhole mich, lassen sich selten scheiden. Eine Doppelresidenz, die bei Gericht erstritten wird, funktioniert nicht.
Aber der grundsätzliche Wunsch nach so einem Modell ist doch verständlich?
Klaar
Entscheidend ist, dass der Wunsch nicht nur darauf beruht, es der Ex mal so richtig zu zeigen. Es würden sich ja gar nicht so wenige Frauen auf eine Doppelresidenz einigen, wenn es mit dem Vater möglich wäre. Es kommen viele Frauen zu mir und sagen: Ich will, dass die Kinder die Hälfte der Zeit bei ihm sind. Aber je länger sie diese Modelle probieren, desto klarer wird ihnen: Es funktioniert nicht.
Sie haben in einem profil-Interview einst sehr kritische Worte zur gemeinsamen Obsorge verloren. Was spricht dagegen?
Klaar
Ich bin eine Anhängerin der Broda’schen Familienrechtsreform. Darin wurde festgehalten: Die Obsorge hat derjenige, der die Kinder in seinem Haushalt betreut. Kontrolle durch Arbeit, feministisches Prinzip, das war mir viel sympathischer als die heutige Regel, dass auch die Väter die Obsorge haben können, obwohl die Kinder bei der Mutter wohnen – nur damit die Väter sich nicht kränken. Die Obsorge sollte nicht nur ein theoretisches Recht sein, sondern sollte verbunden sein mit einer tatsächlichen Betreuung der Kinder.
Aber welche negativen Auswirkungen hat die gemeinsame Obsorge denn?
Klaar
Damit kann ein Vater, der das Kind in Wirklichkeit nur alle 14 Tage zum Wochenende sieht, mitbestimmen, in welche Schule es geht. Und der glaubt vielleicht, weil das Kind mit vier Jahren Lokomotivführer werden wollte, will es noch immer Lokomotivführer werden. Aber in Wirklichkeit will es eine Forstschule besuchen. Der alte Zustand von vor der Familienrechtsreform wurde wiederhergestellt: Die Mutter muss sich mit dem Vater einigen.
Die eigentliche Idee war, dass die Väter, wenn sie die Obsorge haben, sich mehr um ihre Kinder kümmern.
Klaar
Was natürlich nicht passiert ist. Bitte entschuldigen Sie, dass ich „natürlich“ sage. Ich war schon einmal idealistischer, als die Familienrechtsreform in Kraft getreten ist. Damals war ich 30 und habe mir vorgestellt, in zehn bis 20 Jahren werden nach der Scheidung ungefähr gleich viele Kinder beim Vater bleiben wie bei der Mutter. Das habe ich damals ernstlich geglaubt. Die Berufspraxis hat mich gelehrt: Die Väter haben gar kein Interesse.
Das Gesetz macht zunächst einmal ja gar keinen Unterschied zwischen den Elternteilen.
Klaar
Nein, aber de facto ist es halt so, dass die Frauen diejenigen sind, die in Karenz gehen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Aber an der Rechtsprechung am Familiengericht schon?
Klaar
Da hat sich enorm viel geändert. Da gehen wir von der Fiktion aus, dass jeder Vater ein engagierter Vater ist, der sich schon vor der Trennung sehr um die Kinder gekümmert hat und das auch danach so halten möchte. Wobei bei der letzten Familienrechtsreform 2013 etwas eingeführt wurde, das ich für vernünftig halte: Seither ist im Gesetz ausdrücklich vorgesehen, dass die Kontaktzeiten des nicht hauptbetreuenden Elternteils nicht nur die Freizeit, sondern auch den Alltag umfassen sollen. Denn bis dahin ging der Vater am Wochenende mit den Kindern in den Prater, und die Mutter machte am Mittwoch die Aufgaben und am Donnerstag den Zahnarztbesuch. Keine Frage, welches Elternteil sich da beim Kind beliebter macht.
Viele Väter, mit denen wir gesprochen haben, würden gern ein echtes Doppelresidenz-Modell haben, in denen die Kinder 50 Prozent der Zeit beim Vater, 50 Prozent der Zeit bei der Mutter verbringen.
Klaar
Hier bin ich besonders skeptisch, weil ich bezweifle, dass Kinder das wirklich wollen. Wer will schon zwei Zuhause haben? Die Doppelresidenz halte ich für eine modische Übertreibung. Die meisten Kinder verweigern sie auch, sobald sie ein gewisses Alter erreichen. Außer, die Eltern sind in einer Weise zerstritten, dass die Kinder aus Angst, dass der Streit wieder losgeht, sich opfern und den Blödsinn mitmachen. Aber natürlich wissen heute alle Männer: Wenn der Vater viel Kontakt hat, muss er keinen Unterhalt zahlen.
Das halten Sie für das Motiv?
Klaar
Ja, natürlich. Das wird auch ganz offen so kommuniziert. Nur bei Gericht hängen sie sich dann einen Rauschebart um und erzählen, wie sehr sie sich nach ihren Kindern sehnen.
Sebastian Hofer
schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur. Ist seit 2020 Textchef und seit 2025 stellvertretender Chefredakteur dieses Magazins.