Musik

Ein Sommer wie damals: Warum so viele Popsongs wie altes Zeugs klingen

Der Erfolg von TikTok treibt immer mehr Menschen in die 1990er-Jahre-Nostalgie: Nachrichten aus einer Unterhaltungsindustrie im Umbruch.

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Sie hätten irgendwie einfach Ideen verwendet, die neu waren zu jener Zeit, und „versucht, etwas zu machen, das keiner sonst gemacht hat“. Also hat Nestor Alexander Haddaway, geboren auf Trinidad, damals wohnhaft in Köln (heute bei Kitzbühel), anno 1993 eben „What Is Love“ gemacht, einen Song, der schon in den 1990er-Jahren nicht besonders neu klang, aber halt sehr eingängig war und immer noch nachhallt, nicht zuletzt im Formatradio und auf dem Konto von David Guetta.

Das ist nicht ganz selbstverständlich, lässt sich aber erklären.

Zeitgenössische Popmusik ist heute tendenziell genreavers. Sie lässt sich nicht mehr so einfach auf bestimmte Zeiten oder Formen festlegen, auf entweder HipHop oder Dancehall, Songwritertum oder Rock oder EDM, sondern bleibt fluide. Die Schnittmenge zwischen Ed Sheeran und Dua Lipa ist größer, als sie scheint, denn Purismus und Eindeutigkeit sind keine sehr angesagten Eigenschaften mehr. Identitätspolitik heißt in der digitalen Jugendkultur immer auch: Verwirrung stiften. Das Internet kennt keine Schubladen.

Das bringt wiederum ein Problem mit sich, an dem vor allem etwas ältere Menschen leiden, die nicht im Internet aufgewachsen sind und in der Kunst Halt suchen, weil ohnehin alles andere schon verwirrend genug ist. Woran festhalten? Genres dienen traditionell der Orientierung, genauso wie Hitparaden: Angesagt ist, was oben ist. Charts sind immer auch Gravitationszentren, die aktuelle Nummer 1 so etwas wie ein Lagerfeuer: Man versammelt sich darum und tanzt Macarena.

Diese Schwerkraft löst sich in den sozialen Medien allerdings auf. Deren Algorithmen führen nicht zu einem gemeinsamen, populärgesellschaftlichen Zentrum, sondern zu sehr vielen verschiedenen Streams und Ansichten, die zwar Genregrenzen verschwimmen lassen, aber ihre Hörer auseinanderdividieren. Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Popmusik droht, sich auf zu splittern, denn jeder Stream ist einzigartig, der Algorithmus von Spotify steht quer zur Logik der Ö3-Charts.

Radio-Rotationen

Solche Charts sind in diesem Zeitgeist insgesamt eher beliebig geworden und spiegeln auch nicht zwangsläufig das wider, was in den Rotationen der großen Radiosender läuft. Sicher, es gibt Taylor Swift, Harry Styles, The Weeknd oder RAF Camora, die jeweils breite Publikumsschichten erreichen und auf gewisse Weise auch verbindend wirken, aber dann gibt es eben auch Künstlerinnen wie die New Yorkerin Bebe Rexha, die neben ihrem eigenen, sehr erfolgreichen Gebrauchspop auch Songs für Eminem, Selena Gomez und Florida Georgia Line schrieb, also zwischen Rap und Pop und Country alle möglichen Grenzen überschritt, sich nicht festlegen lässt – und zuletzt tatsächlich in den 1990er-Jahren gelandet ist:

Gemeinsam mit David Guetta legte Rexha „I’m Good (Blue)“ vor, eine Bearbeitung des klassischen Sommerhits „Blue (Da Ba Dee)“ von Eiffel 65 aus dem Jahr 1999. Guetta hat diesbezüglich gerade überhaupt einen ziemlichen Lauf, auf „I“m Good (Blue)“ folgten soeben „Be My Lover“ (eine Bearbeitung von La Bouches 1995er-Hit) sowie „Baby don’t hurt me“ (alias „What Is Love“, siehe oben unter: Haddaway).

Beide Songs haben, historisch erwiesenermaßen, das Zeug zum Sommerhit. Was man als gute Nachricht begreifen kann, jedenfalls im Vergleich zum vorigen Sommer, in dem die sexistische Stumpfstampf-Nummer „Layla“ von dem deutschen Ballermann-Duo DJ Robin und Schürze über den Umweg einer aufgelegten Cancel-Culture-Debatte bis in die seriösen Nachrichten hinein strahlte und (leider viel zu spät) von Nina Chubas wirklich einwandfrei sommerhitmäßigem „Wildberry Lillet“ abgelöst wurde).

Früher-war-alles-besser-Lamento

Aber der Sommer ist, andererseits, ohnehin nicht mehr ganz unangefochten die schönste Zeit des Jahres, weil er seit einigen Jahren auch zunehmend bedrohliche Seiten zeigt, für die der Ballermann nur sehr indirekt verantwortlich zu machen wäre. Ein Weg aus dieser Erkenntnis führt in die Nostalgie, ins Früher-war-alles-besser-Lamento, was im Bezug auf das Klima ganz sicher stimmt, in puncto Nummer-1-Hits eher nicht. Trotzdem hat die Retromanie, die sich schon seit einigen Jahren stark auf die 1990er-Jahre richtet, die Ironieschwelle längst überwunden. Man interessiert sich heute allen Ernstes für Eiffel 65 und Dr. Alban, weil ja am Ende auch die Ironie diese unangenehme Ungewissheit verbreitet: Man weiß nie ganz genau, wie was gemeint ist. Wenn also am kommenden Wochenende auf der Wiener Donauinsel ein großes Nineties-Festival (mit Dr. Alban, Snap!, Rednex und anderen) stattfindet, dann trifft es der etwas gelackte Marketing-Claim tatsächlich sehr eindeutig: „Begleite uns zurück in die geilste Zeit deines Lebens!“

Das betrifft nicht nur jene, die vor 25 Jahren gerade erwachsen wurden, sondern längst auch deren Kinder, Menschen also, die die 1990er-Jahre nur vom Hörensagen kennen. Tatsächlich ist diese Rückwärtsgewandtheit gut nachvollziehbar, die 1990er waren nicht nur das Jahrzehnt der Arschgeweihe und Tamagotchis, sondern auch tatsächlich ziemlich hoffnungsfroh: Kalter Krieg beendet, Internet noch neu und spannend, Wirtschaftswachstum, Love Parade. Ja, auch in den 1990er-Jahren wurden Kriege geführt, einer davon sogar mitten in Europa, aber man begegnete dieser Tatsache immerhin als Gemeinschaft: Nachbar in Not, keine Diskussion. Falls die Gesellschaft damals schon gespalten war, dann hat man es zumindest nicht so gemerkt.

Diesem angenehmen Gefühl jagen Mottopartys und Kultfilmabende schon länger hinterher; denn eigentlich sind die Neunziger nie wirklich zu Endegegangen. Das hat technische Gründe: Am Übergang zum neuen Jahrtausend ging Google in den Vollbetrieb und hinterlegte die Vergangenheit in seinen Serverfarmen, machte sie dauerhaft und jederzeit verfügbar. Die Geschichte als kontinuierliches Hintereinander war zu Ende, ihr folgte eine ständige smartphonegestützte Gleichzeitigkeit.

Allerdings findet die Retromanie seit einigen Jahren unter noch einmal veränderten technologischen Rahmenbedingungen statt. TikTok ist das neue MTV – mit dem Unterschied, dass es Inhalte nicht nur verbreitet, sondern auch ganz wesentlich beeinflusst. Die chinesische Kurzvideo-Plattform hat nicht nur den Vertrieb von Popmusik neu definiert, sondern prägt auch deren Entstehung. Was auf TikTok viral wirkt, steckt das traditionelle Geschäftsfeld „Musikindustrie“ an. Komponiert wird, was funktioniert, Popsongs müssen innerhalb von Sekunden klicken und werden häufig wie Memes konstruiert. Die US-Sängerin Gayle Rutherfurd (alias Gayle) etwa ließ sich von ihren TikTok-Anhängern das Stichwort für ihren Hit „abcdefu“ diktieren (Ergebnis: 970 Millionen Spotify-Streams, Doppelplatin in Österreich, Jahrescharts: Platz 2), bedeutende TikTok-Influencerinnen wie Charli D’Amelio oder Bella Poarch werden von Plattenfirmen heftig umgarnt, etwa mit privaten Vorab-Listening-Sessions, teils sogar direkter Involvierung in die Produktion, teils wohl auch mit simpler finanzieller Vergütung. Poarch ist inzwischen selbst ins Musikgeschäft eingestiegen. Ein typischer Fall: Ihr Song „Build a Bitch“ kam in den US-Charts über Platz 56 nicht hinaus, ist aber trotzdem wahnsinnig erfolgreich: Auf Spotify wurde das Stück 394 Millionen mal gestreamt, auf YouTube 456 Millionen mal. Inzwischen drängt TikTok noch stärker in den Musikmarkt, der kulturelle Einfluss wird zunehmend auch ökonomisch verwertet: 2022 startete TikTok die Musikvertriebs-Plattform SoundOn, die sich zu einem eigenen Streaming-Dienst auswachsen soll.

Digitale Bots

Aber dieses radikal neue popkulturelle Ökosystem ist nun auch schon wieder bedroht. Die Gefahrenquellen sind, natürlich, technologischer Art: Fake-Streams und KI-generierte Musik. Vor wenigen Tagen berichtete die „Financial Times“, dass Spotify Zehntausende Songs aus seiner Datenbank entfernt hatte, die von der KI-Plattform Boomy hochgeladen worden waren, weil der Verdacht bestehe, dass deren Reichweite durch automatisierte Fake-Streams aufgebläht worden wäre, also durch digitale Bots, die menschliche Hörer:innen simulieren. Boomy hat damit nicht ursächlich zu tun, ist aber aus künstlerischen Gründen nicht unproblematisch: Das kalifornische Start-up hat eine Plattform entwickelt, auf der Songs nach einfachen Vorgaben (Stil, Stimmung, Tempo) von einer künstlichen Intelligenz erstellt werden. Das funktioniert prächtig. Bis dato sind auf diesem Weg rund 14 Millionen Musikstücke entstanden. Ein ohnehin voller Markt wird geflutet, die Unübersichtlichkeit ins Unendliche gestreckt. Ungefähr 100.000 Songs werden täglich neu auf Spotify hochgeladen. Wie soll man da noch den Überblick bewahren, geschweige denn sich auf den nächsten Sommerhit einigen?

Früher hätte es das nicht gegeben.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.