Fotos retrato abstracto de emoción negativa

Emotional Baggage, Trauma, Sad Girl Culture. Über psychiatrische Mode- und Fehldiagnosen

Sind wir nur traurig oder schon depressiv? Wissen Menschen, die mit Begriffen wie „Borderliner“ oder „Narzisst“ um sich werfen, auch wirklich, was das ist? Und wie hoch ist die Fehlerquote bei psychiatrischen Diagnosen?

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Volle Ortung von „manipulativem Gaslighting“ seitens des Fahrscheinkontrolleurs. „Das hat voll bei mir transgenerationale Traumen hervorgetriggert!“ „Ganz typisch für den Avoidment Attachment Type!“ „Gefällt mir aber gut, wie du dein emotional baggage jetzt nach außen trägst.“ Der österreichische Comedian @_grindig_, seines Zeichens Werbetexter und ehemaliger Krankenpfleger, und seine Kollegin, die „Cat Lady“ Alisa Florentina, bekamen für ihren Clip „Wenn deine Freunde nur mehr im Theraspeak mit dir sprechen“ nahezu 50.000 Likes auf Instagram. 

Tatsächlich scheint bei der Gen Z und den Millennials ein weitaus höheres Bewusstsein für seelische Befindlichkeiten und Anfälligkeiten zu herrschen als unter „Gen-Xlern“ und Babyboomern, die seelische Zustände jenseits der Norm aus Angst vor Stigmatisierung und Außenseitertum eher unter den Teppich kehren. Keiner wollte früher mit Labels wie „nicht alle Tassen im Schrank“, „plemplem“ oder „ein Fall für den Irrenarzt“ versehen werden. Heute wird das „emotional baggage“, also biografisch bedingte psychologische Altlasten und genetische Dispositionen, analysiert, interpretiert und in den sozialen Medien auch in die Selbstinszenierung integriert.

Wenn Prominente wie Justin Bieber oder Britney Spears verstörendes Verhalten an den Tag legen, haben die Hobbypsychiater auf Instagram und TikTok sofort eine Störungsmeinung bereit.

Schnelle (Fern-)Diagnosen wie „totale Vermeidungshaltung“, „female ADHS, deswegen lange übersehen“, „voll die Borderlinerin“ „toxisch-narzisstisch“, „manipulativer Picturebook-Lovebomber“ haben sich in der Bubble der gebildeten „Zler“, also der Geburtsjahrgänge von 1995 bis 2010, längst zum Alltagsjargon verfestigt. T-Shirts mit Aufschriften wie „Undiagnosed, but something ain’t right“ (nicht diagnostiziert, aber irgendetwas stimmt nicht) oder „I’m on the spectrum“, als Referenz auf das „neurodivergente“ Spektrum zwischen Autismus und ADHS, sind bei zahlreichen Anbietern online bestellbar.

Und wenn Prominente wie Justin Bieber oder Britney Spears verstörendes Verhalten an den Tag legen, haben die Hobbypsychiater auf Instagram und TikTok sofort eine Störungsmeinung bereit. Bieber selber beweist aber auch eine fast schmerzhafte Offenheit bezüglich „meinen Kämpfen um mentale Gesundheit“. Auf Instagram ließ er seine 290 Millionen Follower (neben etwas seltsamen Jesus-Sprüchen) kürzlich wissen: „Manchmal habe ich das Gefühl, ich ertrinke.“ Oder: „Wenn ich etwas tun muss, um geliebt zu werden, ist das keine Liebe.“ Dass der Song „Anxiety“, in dem die US-Rapperin Doechii ihre Angst thematisiert, die „wie ein Elefant auf mir steht“, viral ging und zum TikTok-Phänomen wurde, für das auch ein eigener Tanz-Move kreiert wurde, zeugt von dem Bedürfnis, solche Dinge auch offen aussprechen zu können.

Laut dem jüngsten „Austrian Health Report“ des Pharmakonzerns Sandoz, durchgeführt vom Meinungsforschungsinstitut IFES im vergangenen Sommer, beurteilen nur 54 Prozent der unter 30-Jährigen in Österreich ihre psychische Gesundheit als sehr gut oder gut.

Angelika Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort