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Kann man Persönlichkeitsstörungen heilen?

Ein Gespräch mit dem Psychiater Stephan Doering über die Häufigkeit von psychiatrischen Fehldiagnosen und die Instrumentalisierung von psychischer Erkrankungen

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Toxisch, Borderline, narzisstisch: In den sozialen Medien wird mit psychiatrischen Diagnosen nur so um sich geworfen. Trägt dieses voreilige „Labeling“ zur Offenheit für psychische Störungen bei oder ist es kontraproduktiv?

Stephan Doering

Diese Tendenz gab es früher auch, um zu stigmatisieren, auszugrenzen und zu entwerten. Durch die sozialen Medien hat sie aber natürlich einen ganz anderen Verbreitungsgrad. Früher gebrauchte man eben andere Phrasen, in der Art wie „Der ist ein solcher Psycho!“ oder „Die ist völlig hysterisch“. Inzwischen sind neue Diagnosen in Mode gekommen wie Autismus, ADHS, Narzissmus. Wenn jemand mit dem Ziel der Entwertung ein solches Label aufgeklebt bekommt, sollte das einen Aufschrei nach sich ziehen – genauso wie bei Diskriminierungen gegen Geschlecht, Rasse oder Religion.

Ein anderer Aspekt ist jedoch, dass psychische Störungen oder Erkrankungen als Teil der Selbstinszenierung auf Instagram oder TikTok zu beobachten sind.

Doering

Dazu stehe ich ambivalent. Das Positive überwiegt jedoch, weil es wesentlich zur Entstigmatisierung beiträgt. Wenn ein berühmter Schauspieler oder Sportler sich öffentlich zu Depressionen bekennt, dann kann das insofern hilfreich sein, als dass ein ebenso Betroffener sagt: „Wenn der das sagt, dann traue ich mich das auch.“

Und wie sehen Sie die negative Seite?

Doering

Manche Betroffene instrumentalisieren eine psychische Erkrankung – meist unbewusst – als Entschuldigungsgrund, nach dem Motto: „Ich bin Borderliner, Autist oder leide an ADHS. Daher kann man das nicht von mir verlangen, es liegt an meiner Erkrankung.“ Was da mitschwingt, bezieht sich eben auch oft die Haltung und Einstellung einer Person. Das ist eben manchmal nur zum Teil richtig. Wenn es in entsprechenden Situationen gelingen könnte, eine adäquate Motivation zu erzeugen, würde es vielleicht doch gehen, und ein Fortschritt wäre geschafft.

Wird diese Form der Rücksichtnahme auch auf Schulen und Universitäten eingefordert?

Doering

Natürlich gibt es auch die Vorwürfe, dass manche Studierende sich unberechtigt Sonderkonditionen bei Prüfungen verschaffen würden. Aber auch hier überwiegt das Positive: Denken wir an Kinder, die an an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden. Wie viele hochbegabte Kinder sind deswegen in der Schule durchgefallen und wurden als minderbemittelt stigmatisiert! Destigmatisierung, Rücksichtnahme und Unterstützung sind durchwegs zu begrüßen. Möglicherweise missbraucht ein kleiner Prozentsatz solche Entwicklungen, das Gros benötigt aber sehr wohl Hilfe und Unterstützung.

Jetzt gibt es in der Gendermedizin schon lange Debatten und mittlerweile auch ein Umdenken, dass sich psychische Erkrankungen bei Frauen und Männern in der Symptomatik anders äußern können – wie zum Beispiel bei Depressionen oder ADHS.

Doering

Grundsätzlich stimmt das natürlich, aber nicht bei allen Erkrankungen und nicht bei jedem. Wir sehen zum Beispiel, dass Frauen viel häufiger internalisieren, das heißt die Symptomatik gegen sich selbst und nach innen richten.

Deshalb haben Frauen wahrscheinlich auch eine höhere Rate an Selbstverletzungen als Männer, oder?

Doering

Ja, da würde ich einen Zusammenhang sehen. Das selbstverletzende Verhalten wie zum Beispiel bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist bei Männern zwar auch vorhanden, aber häufiger beobachten wir ein fremdaggressives, externalisierendes Verhalten, das zerstörerisch und entwertend ist. Depressive Männer hingegen wirken gelegentlich gar nicht so traurig, sondern oft sogar missmutig oder aggressiv.

Wie sehr spielt die Persönlichkeit eine Rolle in der Ausformung einer psychischen Erkrankung?

Doering

Wenn jemand von vornherein dazu neigt, sich schwer zu regulieren, dann wird es natürlich in der Depression noch schwerer. Jemand, der vorher ganz sicher in seiner Regulation und niemals destruktiv gegen andere war, wird das in der Depression auch nicht so schnell sein. Jeder Mensch bringt etwas mit, das dann durch die Erkrankung akzentuiert und deutlicher sichtbar wird.

Gibt es bei psychiatrischen Diagnosen viele Mischformen – in dem Sinn, dass sich verschiedene Krankheitsbilder zu einem individuellen Ganzen formen?

Doering

Das ist eine fast schon philosophische oder zumindest eine anthropologische Frage: Kann ich zehn psychische Krankheiten haben oder habe ich immer nur eine? Das kommt natürlich darauf an, aus welcher Perspektive man auf den jeweiligen Menschen schaut. Wenn ich „von unten“, von der Wurzel her schaue, was wir als Psychoanalytiker eher tun, sagen wir: Der Mensch hat Lebens- und Beziehungserfahrungen und hat diese und jene Form von Stress und Trauma hinter sich gebracht. Und all das führt in der Folge wie bei einem Vulkan an drei bis vier Stellen zur Eruption. Ich kann natürlich „von oben“ auf die Symptome schauen – dann sehe ich möglicherweise vier Vulkane. Die einfache Antwort ist: Jeder Mensch ist anders, und deswegen ist auch jede Depression, jede Persönlichkeitsstörung anders, nämlich hoch individuell.

Welche psychische Erkrankung hat in der Diagnostik die höchste Fehlerquote?

Doering

Ich glaube, das Schwierigste ist die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. Vor allem deswegen, weil es den Betroffenen oft nicht bewusst ist. Man muss sich wirklich genau auskennen und sich lange mit den Patienten auseinandersetzen, bis man dahinterkommt und die Störung versteht. Deshalb legen wir auch einen Schwerpunkt in der Ausbildung auf dieses Gebiet, denn in psychiatrischen Kliniken haben bis zur Hälfte der Patienten zumindest auch Persönlichkeitsstörungen.

Wie kann man als Partner oder Elternteil erkennen, dass man es mit einem Angehörigen zu tun hat , der an einer Persönlichkeitsstörung leidet?

Doering

Die Übergänge sind meist fließend. Wenn sich das innere Erleben und Verhalten eines Menschen so verändert, dass es von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, oder bei jemandem Impulskontrolle, Affekte und Beziehungsgestaltung nicht mehr im sozialen Kontext ablaufen, ist er oder sie gefährdet.

Ist eine Persönlichkeitsstörung etwas, was von vornherein in einem Menschen angelegt ist?

Doering

Wir gehen heute davon aus, dass Veranlagung – zum Teil erblich, zum Teil durch frühe Beziehungserfahrungen – von vornherein da ist. Trotzdem kann es sein, dass jemand jahrzehntelang nicht auffällt. Aber dann, durch eine veränderte Lebenssituation wie eine Jobkündigung oder den Verlust eines Menschen, kann sich die ganze Symptomatik plötzlich intensivieren. Es kann aber auch umgekehrt sein, nämlich dass ein Mensch durch ein Erlebnis wieder besser zurechtkommt.

Und jetzt die Gretchenfrage: Kann man Persönlichkeitsstörungen heilen?

Doering

Die Antwort ist ein klares Jein! Vielleicht sollte ich zuerst sagen: Wir wissen inzwischen recht genau, dass bei der Persönlichkeit und auch bei den Persönlichkeitsstörungen gut die Hälfte genetisch angelegt ist. Beim Narzissmus ist sie Studien zufolge am höchsten. Wenn die Eltern sehr liebevoll und verständig damit umgehen, können sie es kompensieren. Aber es wird immer eine gewisse Tendenz bleiben, ohne dass es pathologisch werden muss. Diese Disposition werden wir auch mit Psychotherapie nicht verändern, und mit Medikamenten schon gar nicht. Ein ängstlich-vermeidender Mensch wird es nie zu einem Stand-up-Comedian oder zu einem Startänzer bringen; ein Narzisst wird nie zur Mutter Teresa werden. Insofern stellt sich die Frage: Was heißt Heilung? Ist das ein normativer Begriff? Muss man so sein wie ein Ideal? Muss man so sein wie alle anderen, wie der Durchschnitt?

Einigen wir uns vielleicht auf die Frage, ob jemand mit einer akuten Persönlichkeitsstörung wieder in der Lage sein wird, ein sozial verträgliches Leben zu führen und andere Menschen nicht so zu irritieren, dass sie das Weite suchen …

Doering

Da sprechen wir lieber von Besserung oder Remission statt von Heilung, im Sinne von: Jemand hört auf, sich selbst zu beschädigen, jemand hört auf, andere zu schädigen, jemand leidet nicht mehr so, und die anderen kommen mit diesem Menschen besser klar. Ja, Persönlichkeitsstörungen sind behandelbar. Nicht alle gleich gut, aber meistens deshalb, weil die Leute nicht gleich in Psychotherapie kommen. Wir wissen aus Studien, dass zum Beispiel bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung in etwa die Hälfte aller Patienten durch Therapie Besserung erfahren hat. Jetzt nicht bis zum völlig symptomfreien Dasein, das ist nur ein kleiner Prozentsatz, aber mit einer spezialisierten Psychotherapie kann man durchaus viel erreichen.

Stephan Doering

geboren 1966 in Rotterdam, ist ein deutscher Psychiater,  Psychoanalytiker, Arzt, Universitätsprofessor und seit 2011 Vorstand der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Er absolvierte mehrere Forschungsaufenthalte am Personality Disorders Institute der Cornell University, New York, und studierte dort beim  während der NS-Zeit emigrierten Otto Kernberg, dem gebürtigen Wiener, der als weltweite Kapazität auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen und Narzissmus gilt.

Angelika Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort