Christoph Baumgartner und David Alaba freuen sich über Österreichs 1:0 gegen die Ukraine
Fußball-EM

Liebe ist ...

... so was Ähnliches wie Fußball. Sebastian Hofer über eine heiße EM-Woche in Violettblaugrüngelborangerot.

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Wie es um die prophetischen Fähigkeiten des Zweitplatzierten in der Herrentennis-Weltrangliste Daniil Medwedew steht, wissen Sie ja inzwischen. Wir können an dieser Stelle - aus Gründen des Redaktionsschlusses, der bei profil auch während einer Fußball-EM eisern am Freitagabend stattfindet - nur hoffen, dass sie einigermaßen intakt sind. Bei einer - aus nicht näher bekannten Gründen durchgeführten - Umfrage unter Tennisprofis hat Medwedew das österreichische Nationalteam in der vergangenen Woche jedenfalls zur potenziellen Überraschungsmannschaft der EURO 20/21 ernannt: "Ich glaube, sie sind eine sehr gute Mannschaft mit tollen Einzelspielern, sie könnten es bis ins Halbfinale schaffen." Und er meinte wohl wirklich Wembley, nicht Wimbledon.

Tatsächlich hat das Nationalteam auch schon vor dem historischen Achtelfinalmatch gegen Italien für einige erbauliche Überraschungen gesorgt, und manche davon waren sogar fußballerischer Natur, was die Mannschaft einerseits angenehm von den negativen Überraschungen dieses Turniers (Türkei, Deutschland, Spanien) abhebt, aber andererseits natürlich nicht heißt, dass Letztere am Ende nicht doch wesentlich bessere Resultate verbuchen könnten (Ausnahme: Türkei). Aber es geht ja ab dem Achtelfinale eigentlich ohnehin nur mehr ums Dabeisein (Ausnahme: Deutschland). Und natürlich darum, dass der Livestream nicht im entscheidenden Moment buffert, wobei es an entscheidenden Momenten in den kommenden Tagen nicht mangeln wird, weil: Willkommen in der Verlängerung!

Endlich kann das Spiel wieder mehr als 90 Minuten haben, was man sich, zugegeben, während der Vorrundenpartie zwischen Schweden und Polen eher nicht gewünscht hätte, aber so ein Elferdrama hat halt schon seine Reize. Kehrseite der Medaille: Die Dramen finden ab sofort ausnahmslos nach 18 Uhr statt, die Zeit des zwanglosen Nachmittagsfußballs ist schon wieder vorbei. Zum Glück hat die Tour de France gerade begonnen, und Wimbledon läuft ja auch demnächst an, unsere Nachmittage bleiben also auch ohne Gruppenphase einigermaßen sportlich.

Politisch sowieso. Nach der sehr kurzfristig sehr heißen Affäre Arnautović hatte diese pandemisch-paneuropäische EURO in ihrer zweiten Spielwoche schon die nächste außersportliche Aufregung im Programm. Diesmal wurzelte das Drama nicht in milieubedingten Unmutsäußerungen, sondern in der Turnierbürokratie. Die UEFA erwies sich wieder einmal als weltanschaulich extrem flexibel und untersagte jegliche regenbogenartige Tätigkeit im Rahmen des Vorrundenspiels zwischen Deutschland und Ungarn, was postwendend mit einem monsunartigen Unwetter in München sowie einem erheblichen digitalen Miststurm beantwortet wurde (und einem Spiel, in dem die Deutschen ganz schön ins Schwimmen kamen, aber das hatte eher keine politischen Gründe). Die Europäische Fußball-Union ist also allen Ernstes über die Frage gestolpert, ob ein simples Zeichen der Solidarität mit LGBTQ die eigene politische Neutralität verletze; aber es ist ja auch sonst eine Europameisterschaft der Eigentore: acht Stück allein in der Vorrunde, das sind mehr als bei allen anderen EM-Endrunden dieses Jahrhunderts zusammengerechnet.

Womöglich haben nicht nur die Fußballfunktionäre ein Problem mit der Orientierung. Oder es ist den Beteiligten schlicht zu heiß. Dafür gibt es neuerdings immerhin Abkühlpausen (laut UEFA-Regularien: Sobald die Lufttemperatur unmittelbar vor dem Match 32 Grad Celsius überschreitet, ist pro Halbzeit nach jeweils 25 Minuten eine 90-sekündige Trinkpause zu ermöglichen). Vielleicht könnte man für zukünftige Turniere auch die Sinnhaftigkeit von Nachdenkpausen diskutieren, etwa für den Fall, dass irgendwelche nationalistische Emotionen hochkochen oder die Moderatoren nicht mehr ganz mitkommen. Das Spiel ist ja, wie jeder weiß, schneller geworden und die Welt als solche heißer. Wobei diese Entwicklung auch nicht so dramatisch sein dürfte, wie man glaubt, zumindest wenn man Lothar Matthäus glaubt, der in einem (ganz ehrlich!) herrlichen Interview mit dem "Zeit Magazin" erklärt hat: "Ich kann das nie nachvollziehen, wenn die Spieler heute immer sagen, hohe Belastung',, Hitze',, englische Wochen'. Das haben wir früher alles selber gehabt." Seinen Kollegen von damals hat Matthäus, wie er weiter ausführt, dafür auch einen ganz besonderen Platz in seinem Leben eingeräumt: "Die alten Mitspieler stehen übrigens nicht mit ihrem Nachnamen in meinem Handy, sondern als Legende." Also: "Legende Rudi, Legende Jürgen, Legende Guido." Legende Lothar bleibt einfach unschlagbar.

Das kann man von der Konferenzschaltung gleichzeitig angesetzter Spiele im ORF leider nicht behaupten, wie sie ja gerade in der späten Gruppenphase eine erhebliche Dramatik entwickeln können, beziehungsweise könnten. Leider begnügte man sich sogar noch am letzten Spieltag der Gruppe F mit lapidaren Parallelspielstandsdurch sagen, wo doch in Wirklichkeit alles drin und sogar ein vorzeitiger Abschied Deutschlands, ja selbst ein Ende von Cristiano Ronaldos europäischen Ambitionen möglich gewesen wäre, was aber durch drei Elfmeter und den selbstlosen Einsatz des Bochumer Fußballprofis Leon Goretzka vereitelt wurde, der nach seinem entscheidenden Tor in beinahe letzter Minute den bestimmt völlig unpolitisch homophoben ungarischen Hooligans auch noch ein herrlich provokantes Herzchen schenkte. Aber das läuft wohl unter: internationale Härte.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.