Flitzer Mario Ferri bei der WM in Katar
WM-Tagebuch

Fußball-WM der Herren in Katar: Trauerspiele

Die WM in Katar ist sportlich mau, aber politisch brisant wie nie. Die Sportschau wird zum Weltjournal. Was macht das mit dem romantischen Fußballspiel?

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Es hätte auf keinen Fall passieren dürfen, passierte dann aber natürlich doch: Die von den katarischen Scheichs (und deshalb auch von der Fifa) gefürchtete Regenbogenfahne landete mitten auf dem Fußballplatz. Während die Partie Portugal gegen Uruguay ihr Publikum einschläferte, lief ein Flitzer mit dem Symbol der Vielfalt aufs Feld. Immerhin die Ordnungshüter waren hellwach: Sie entfernten den Störenfried, und der iranische Schiedsrichter höchstpersönlich durfte das bunte Unding einkassieren.

Eine Fußball-WM, so viel wissen wir nun, muss nicht hauptsächlich von Fußball handeln. Es genügen Regenbogenfarben. Alles Bunte scheint in Doha und Umgebung mittlerweile verboten zu sein. Menschen mit bunten Hüten, Armbinden und Schals werden von katarischem Sicherheitspersonal aus dem Verkehr, zumindest aus dem Stadion  gezogen.

Fußball gespielt wird aber auch. Das bisher brisanteste WM-Duell? Nein, nicht Spanien gegen Deutschland, sondern: USA gegen Iran. Schon das Vorspiel zwischen den Erzfeinden war ruppig. Auch hier ging es um Fahnen. Der US-Verband hatte die iranische Nationalflagge ohne das Zeichen der islamischen Republik dargestellt – um „die protestierenden Frauen in Iran zu unterstützen“. Iranische Männer forderten daraufhin den WM-Ausschluss der USA. Auf der Pressekonferenz gingen die Scharmützel weiter: US-Kapitän Tyler Adams wurde von einem iranischen Reporter für seine falsche Aussprache des Iran gemaßregelt – und musste sich entschuldigen. Ein anderer wollte wissen, wie sich der US-Fußballer als Vertreter eines Landes fühle, in dem Schwarze diskriminiert würden.

Die Sportschau wird zum Weltjournal. Schlagzeilen lauten: „Israelische Journalisten in Katar angefeindet“ oder „Kroatische Anfeindungen gegen serbischstämmigen Kanada-Goalie“. Iranischen Fußballern dürfte laut CNN nahegelegt worden sein, „sich zu benehmen“, um Familien „Folter und Haft“ zu ersparen. Deutsche Fußballer würden da ja zu Protesten neigen. Weil aber Gelbe Karten drohen, neigen sie zu Obrigkeitstreue. Dazu hat die Bundesrepublik gerade einen Gas-Deal mit Katar abgeschlossen – eine bunte Protestarmbinde, wie sie zuletzt die deutsche Innenministerin neben dem Fifa-Boss trug, könnte da schnell erbärmlich wirken.

Sport und Politik können nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden. Das ist gut, weil Sportfernsehen nun politische Hintergründe vermittelt und auf Menschenrechtsvergehen hinweist. Genussvolles Fußballschauen ist aber kompliziert geworden. Nicht nur die Fifa, Katar, Iran und Saudi-Arabien sind böse. Der brasilianische Neymar unterstützt einen rechtsextremen Politiker, der argentinische Messi wurde wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Politische und wirtschaftliche Verstrickungen betreffen so gut wie alle Sportverbände. Der globale Fußballbetrieb müsste bei genauer Betrachtung einem ganzheitlichen Protest erliegen.

Das Fußballspiel selbst verliert damit aber seinen ursprünglichen Sinn. Es kann trösten, ablenken, erfreuen. In vielen Armenhäusern der Welt ist das Ballgeschiebe ein Rettungsanker. Die 90 Minuten auf dem Feld (oder, dank neuer Berechnung der WM-Nachspielzeiten, eher 105 Minuten) erschaffen eine Fantasiewelt, die ihren Fans als Rückzugsrefugium dient.

Superstar Cristiano Ronaldo versuchte, ganz in diesem Sinn, beherzt den Sport (und natürlich ein wenig sich selbst) in den Mittelpunkt zu rücken: Er posierte wie ein Gladiator, spielte den Ball mit der Schulter, mit der Ferse oder (wie zuletzt gegen Uruguay) gar nicht – und erzielte auf wundersame Weise trotzdem ein Tor. Jedenfalls dachte er das für einen Moment, deutete stolz auf seine Haarspitze und jubelte vorsorglich in allen Variationen. Dabei war der Ball über Ronaldo, der sich vergeblich gereckt und gestreckt hatte, ins Tor geflogen – der Treffer wurde schließlich seinem Mitspieler Bruno Fernandes gutgeschrieben. Nach der Hand Gottes (Maradona, WM 1986) also doch keine Haarspitze des Heilands. Immerhin: Die Szene brachte einen dringend nötigen Gag im politischen Trauerspiel unter. Doch es durfte nur kurz gelacht werden. Ronaldo soll ein unterschriftsreifes Angebot vorliegen, das ihm 200 Millionen Euro pro Saison einbringen würde. Der Absender: das Königreich Saudi-Arabien.