Autorin Mithu Sanyal
Interview

Autorin Mithu Sanyal: "Es wird mindestens einen Orgasmus geben"

Die deutsche Autorin Mithu Sanyal schreibt über Identitätspolitik, Rassismus und Sexualität. Hier erzählt sie, wie man mit alten Geschlechtermythen bricht und warum man Frauen nicht vor Sexualität beschützen muss.

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profil: Ihr Bestseller "Identitti" widmet sich den Fragen der Identität, Rassismus und Sexualität. Wie passt das zusammen?
Sanyal: Es geht vor allem darum, wie es ist, in Deutschland zu leben und "mixed-race" zu sein-wir sprechen hier immerhin von einem Viertel der Bevölkerung. Wahrscheinlich werden es in absehbarer Zeit 70 Prozent sein. In der Literatur findet man uns jedoch kaum wieder. Dabei sind das ja die Kernthemen von Literatur: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was ist meine Geschichte-und wie könnte meine Zukunft aussehen?

profil: Ein zentraler Aspekt in Ihrer Arbeit ist die sexuelle Selbstbestimmung.
Sanyal: Sexualität ist ein Teil unseres Lebens, und deshalb wollte ich, dass sich das auch in meinen Büchern widerspiegelt. Es gibt das Vorurteil: Feministinnen wollen Frauen vor Sexualität beschützen. Das war auch in der #Me-Too-Debatte ein beliebter Unterton. In den USA ging es so weit, dass Alkohol bei Weihnachtsfeiern verboten wurde, damit sich Menschen nicht küssen. Dabei möchte ich nicht vor Sexualität beschützt werden, sondern ich möchte eine selbstbestimmte Sexualität.

Meine Protagonistin ist eine junge Frau, natürlich denkt sie die ganze Zeit an Sex."

profil: Sie brechen mit der Vorstellung, dass Männer immer Sex wollen, während Frauen das Gegenteil sind. Warum hält sich der Mythos so lange?
Sanyal: Wir alle sind sexuelle Wesen, und wir wollen alle, dass unsere Grenzen respektiert werden, aber aus irgendeinem Grund gendern wir das ganz merkwürdig. Nämlich so, als ob nur Männer Sex wollten, und es Frauen nur darum ginge, ihre Grenzen schützen. Das geht so weit, dass wir bei Konsenstrainings Mädchen beibringen, Nein zu sagen, und Jungs, dieses Nein zu akzeptieren. Und das war's. Das ist aber noch keine positive Sexualität. Und ganz nebenbei ist es sexistisch in alle Richtungen.

profil: Warum wird oft noch immer so getan, als sei die weibliche Lust inexistent?
Sanyal: Das hat sehr viel mit der Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu tun, die den Sexualtrieb beim Mann als aktiv definiert hat und bei der Frau als nicht existent. Auch in der deutschsprachigen Literatur gibt es im Vergleich erschütternd wenig weibliche Orgasmen. Deshalb war für mich klar: In meinem Buch wird es mindestens einen Orgasmus geben. Meine Protagonistin ist eine junge Frau, natürlich denkt sie die ganze Zeit an Sex.

 

profil: Bekannt geworden sind Sie mit kulturwissenschaftlichen Büchern über die weibliche Sexualität und über die Kulturgeschichte der Vergewaltigung. Wie schwer ist es, die richtigen Worte zu finden?
Sanyal: Uns allen fehlen die Worte. Schlimm ist das nicht. In meinem Buch über die “Vulva” von 2009 verwende ich Worte, die ich jetzt nicht mehr verwenden würde. Das ist ein Zeichen dafür, dass das Weltwissen gewachsen ist. Bewusstsein. Ich denke auch, dass wir Begriffe wie People of Colour in fünf oder zehn Jahren wahrscheinlich nicht mehr verwenden werden. Wir leben in einem ständigen Spannungsverhältnis: Worte müssen auf die Diskriminierungsgeschichte hinweisen und auf die Utopie. Wenn wir in der Sprache zu sehr auf die Geschichte verweisen, reduzieren wir uns auf unsere Schmerzen. Wenn wir zu sehr auf die Zukunft verweisen, leugnen wir den existierenden Rassismus. 
 
profil: Wie würde eine ideale Welt aussehen?
Sanyal: Meine Utopie wäre, in einer Welt zu leben, in der wir Menschen vor allem als Menschen wahrnehmen, mit all unseren individuellen Unterschieden – natürlich sind wir nicht alle gleich – aber nicht mehr sagen: Männer sind so, Frauen sind so – und Menschen mit Migrationshintergrund sind gefährlicher. Das ist das sexistische und rassistische Wissen, mit dem wir bis heute sozialisiert werden. Die Aufgabe ist, Migration nicht nur als Manko zu sehen, sondern ihren Wert für die Gesellschaft zu erkennen. Migration ist eine Bereicherung, wenn wir das zulassen.
 
profil: Wie merken Sie das im Alltag?
Sanyal: Ich lebe in einem Stadtteil, in dem mein Sohn auf der Straße ständig von der Polizei kontrolliert wird, während seinen weißen Schulfreunden das nie passiert ist. Diese Erfahrungen ziehen sich durch ein ganzes postmigrantisches Leben: Warum bekommen Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund signifikant schwerer einen Job oder eine Wohnung? Es gibt Forschung, dass sie im Gesundheitssystem weniger ernst genommen werden etc.

Ich habe keine moralische Verpflichtung zur Panik. In den achtziger Jahren hieß unser politische Motto noch: Ihr müsst für den Weltfrieden weinen! Geholfen hat es nicht."

profil: Im aktuellen Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine wird aktuell gerne argumentiert, dass die Situation mit 2015 nicht vergleichbar sei, da jetzt hauptsächlich Geflüchtete aus Europa kommen würden. Ist diese Debatte nicht vergiftet?
Sanyal: Es ist schmerzhaft. Einerseits ist es schön zu sehen, wie groß die Willkommenskultur aktuell ist, vor allem auch in Polen, einem Land, dass in den letzten Jahren nicht durch seine migrationsfreundliche Politik aufgefallen ist. Aber all die anderen Menschen, die Schutz in Europa suchen, brauchen natürlich ebenfalls eine solche Willkommenskultur. Unsere Verantwortung hört nicht bei weißen, christlichen Geflüchteten auf. 
 
profil: Nach zwei Jahren Pandemie und einem Krieg in Europa: Können Sie dennoch positiv nach vorne blicken?
Sanyal: Ich habe keine moralische Verpflichtung zur Panik. In den achtziger Jahren, der Zeit meiner Jugend, hieß unser politische Motto noch: Ihr müsst für den Weltfrieden weinen! Geholfen hat es nicht. Wir dürfen nicht vergessen: Wenn es uns selbst gut geht, sind wir besser in der Lage, anderen Menschen zu helfen. Außerdem wissen wir, dass Angst nicht zu besseren politischen Entscheidungen führt. In der Zukunft wird es auch wichtig sein, die Pandemiejahre aufzuarbeiten. Wesentliche Fragen sind: Wie weit darf sich der Staat in private Entscheidungen einmischen? Wie können wir eine neue Form von Gemeinsamkeit aufbauen? In den letzten beiden Jahren haben wir gelernt: Solidarität heißt, wenn wir alle nach Hause gehen und die Türe abschließen. Wie können wir aufhören, unser Gegenüber und uns selbst als Gesundheitsrisiko zu sehen und wieder wahrnehmen, dass wir einander existentiell brauchen.

Mithu M. Sanyal

1971 in Düsseldorf als Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters geboren, ist Kulturwissenschafterin und Autorin. Ihr Roman "Identitti" schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021. Bei Leykam ist jetzt der Sammelband "Laut und selbstbestimmt. Wie wir wurden, wer wir sind" mit einem ausführlichen Porträt Sanyals erschienen. Die Wiener Journalistin Sandra Jungmann führte Gespräche mit Feministinnen, Aktivistinnen und Künstlerinnen wie Melisa Erkurt, Verena Altenberger oder Katharina Rogenhofer.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.