Ingrid Thurnher, österreichische Journalistin und Fernsehmoderatorin, seit 1. Jänner 2022 Radiodirektorin des ORF, aufgenommen am 4. Juli 2023 in ihrem Büro im ORF-Zentrum auf dem Wiener Küniglberg, Hugo-Portisch-Gasse, 1130 Wien
Interview

ORF-Radiodirektorin Ingrid Thurnher: „Das ist die Frage aller Fragen“

Im aufgelassenen ORF-Sendegebäude in der Wiener Argentinierstraße wurde Radiogeschichte geschrieben. Was passiert mit dem Funkhaus?

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Frau Thurnher, weshalb haben Sie sich den Knochenjob einer ORF-Radiodirektorin angetan?
Thurnher
Weil es gerade der tollste Job der Welt ist.
Weshalb denn „gerade“?
Thurnher
Vor sechs Jahren war der tollste Job der Welt ORF-III-Chefredakteurin. Davor „Im Zentrum“-Sendungsleiterin zu sein und die „Zeit im Bild“ zu moderieren.
Ist das klassische ORF-Schule, jeden Job zum allerbesten zu adeln?
Thurnher
Nein. Ich wäre nicht Radiodirektorin geworden, wenn ich diesen Job nicht für fantastisch hielte.
Vor knapp 30 Jahren wechselten Sie vom Radio zum Fernsehen. Haben Sie für Ihren neuen Posten eine Art Radio-Auffrischungskurs gemacht?
Thurnher
Ich nähere mich dem Medium nun aus völlig neuer Perspektive. Ich beschäftige mich mehr strategisch als programmlich mit Radio, was in einer Zeit, in der sich das Nutzungsverhalten der Menschen radikal verändert, eine große Herausforderung darstellt. Wir werden unser Angebot anpassen müssen, um aktuell und fürs Publikum relevant zu bleiben.
Wie nah geht Ihnen als ehemaliger Funkhaus-Mitarbeiterin das Aus für das Haus in der Argentinierstraße?
Thurnher
Den Großteil meines Arbeitslebens habe ich auf dem Küniglberg verbracht. Ich kenne viele Ö1Kolleginnen und -Kollegen aus dem Funkhaus, die anmerken, es sei großartig, in Hietzing zu sein, weil sie jetzt nicht mehr so allein seien. Es herrscht, ohne das verklären zu wollen, unter den Radiomenschen am Küniglberg ein kooperativer Geist. Meine Idealvorstellung wäre, dass man sich als Ö1ler, FM4lerin oder Ö3ler begreift – gleichzeitig als radio lover, der von Ö1 rüber zu Ö3 schaut und vice versa. Ich bin keineswegs sentimental, was das Funkhaus betrifft. Es bleibt im Kern erhalten und trägt als Kulturstandort die Identität des ORF mit.
Ein Teil dieses Kerns ist das Radio-Symphonieorchester Wien (RSO), das eine Bestandsgarantie nur bis Ende 2026 hat. Für ein Orchester dieser Größe bedeutet das nicht gerade eine sorgenfreie Zukunft.
Thurnher
Der Gesetzgeber hat den RSO-Bestand für drei Jahre garantiert. Medienministerin Susanne Raab betonte, die Regierung werde sich bis dahin ein Zukunftskonzept überlegen. Wer den Orchesterbetrieb kennt, weiß, dass drei Jahre schnell vergehen. Die Zeit drängt. Wir werden alles tun, um die Regierung bei allfälligen Überlegungen, die sie in diese Richtung anstellt, zu unterstützen. Wir wollen das Beste für das RSO erzielen.
Wie ist es um die Zukunft des RadioCafés bestellt?
Thurnher
Das Kaffeehaus im Funkhaus soll demnächst wieder in Betrieb gehen. Nach dem Umbau wird es wieder als Restaurationsbetrieb und Spielstätte fürs Radio aufsperren.
Was wird aus dem Funkhaus?
Thurnher
Einen Gebäudeteil verantwortet der neue Eigentümer. Beim denkmalgeschützten Abschnitt rund um den Großen Sendesaal, der weiterhin ORF-Eigentum und ein wichtiger stadtnaher ORF-Standort ist, wird eine Art Kulturcluster entstehen. Die Argentinierstraße bleibt fest in ORF-Hand.
Gibt es Garantien, dass am Ende nicht alles am Küniglberg zentriert sein wird?
Thurnher
Derzeit ist nichts dergleichen angedacht. Irgendwann geht auf dem Küniglberg auch der Platz aus.
„Synergie“, das Zauberwort, das fast alles ermöglicht, wird so bald nicht aus dem Hut gezaubert werden?
Thurnher
Man kann nicht alles unter dem Synergie-Faktor erledigen. Es gilt, das kulturelle Erbe des ORF zu berücksichtigen.
Insider sprechen davon, die Sanierung der Räumlichkeiten im Funkhaus könne bis zu 20 Millionen Euro kosten. Bestätigen Sie diese Zahl?
Thurnher
Nein. Es gibt derzeit unterschiedlichste Überlegungen und Berechnungen. Beschlossen ist noch nichts.
Radio Wien und „Wien heute“ werden übergangsweise ins ehemalige Ö3-Gebäude am Wiener Stadtrand übersiedeln – kolportierter Kostenpunkt in diesem Fall: neun Millionen Euro.
Thurnher
Dazu sind mir keine Zahlen bekannt, das Landesstudio Wien fällt nicht in meinen Bereich.
Vergangene Woche wurde im Nationalrat das neue ORF-Gesetz beschlossen. Es wird die Haushaltsabgabe kommen, zugleich ist der ORF angehalten, 330 Millionen Euro einzusparen. Wie werden Sie bei den ORF-Radios Kosten sparen?
Thurnher
Das ist die Frage aller Fragen. Anders als beim Fernsehen, bei dem viel an den Produktionskosten hängt, ist im Radio Geld gleich Personal. Wir stehen vor der Quadratur des Kreises: Wir sollen mehr Programm für die digitalen Ausspielkanäle liefern – und zugleich Einsparungen schaffen. Ein möglicher Weg dahin wäre, Produktionskosten nur einmal entstehen zu lassen. Das Prinzip dahinter lautet: Content gehört allen.
Wie ist das zu verstehen?
Thurnher
Sobald eine Abteilung im Haus eine aufwendige Recherchearbeit macht, muss der generierte Inhalt allen anderen zur Verfügung stehen. Jeder und jede kann anschließend kanal-, produkt- und sendergerecht sein und ihr Ding machen. Damit können wir die Effizienz steigern – auch wenn ich dieses Wort im Grunde nicht mag, weil es im Journalismus stets einen Hautgout hat. Mit dieser neuen Kultur der Kooperation ist jede journalistische Kreativität weiterhin möglich, ohne dass dieselben Inhalte drei- bis viermal recherchiert werden müssen. Davon versprechen wir uns sehr viel.
Ihre Bemerkung im „Standard“, wonach auf Ö1 künftig mehr „Content, weniger Köchel-Verzeichnis“ zu hören sein soll, stieß auf heftige Kritik. Bereuen Sie die Mozart-Anleihe?
Thurnher
Aus dem Umstand, dass ich in der stärksten morgendlichen Publikumszeit einen Wissenschaftsbeitrag etablieren wollte, ein derart großes Ding zu machen, fand ich beachtlich.Es ging um drei Minuten Sendezeit.
Sendungen wie „Zeit-Ton“, „Passagen“ und „Rudi! Der rasende Radiohund“ seien von der Einstellung betroffen, hieß es. Wie lange darf Rudi noch bellen?
Thurnher
Das ORF-Kinderprogramm kommt dorthin, wo es am meisten Sinn ergibt –auf einen eigenen Kinderkanal, bei dem alle Eltern sicher sein können, dass sich die Kinder in einer geschützten Zone aufhalten. Dort sind die Kinderprogramme des ORF am besten aufgehoben. Das betrifft sowohl Fernseh- wie Audioangebote.
Welche Pläne sind für FM4 vorgesehen?
Thurnher
FM4 entwickelt sich gerade weiter, ich unterstütze diesen Kurs der Öffnung und Durchhörbarkeit. Es werden keine Revolutionen stattfinden. Solche Produkte verändert man nicht schlagartig von heute auf morgen.
Wird man dereinst von einer Ära Thurnher sprechen?
Thurnher
Das ist mir nicht wichtig. Wir befinden uns an einem turning point. Es wird sich vieles für den ORF verändern. Ich will unsere Radiosender möglichst gut positionieren.

 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.