Buchkritik

Ja dürfen s'denn des? Ein Knigge für die Gegenwart

Turnschuhe bei der Angelobung, Zoomkonferenz in der Take-away-Schlange, unerwünschte Insta-Komplimente-von der Krise der Umgangsformen und ein paar neuen, guten Ratschlägen.

Drucken

Schriftgröße

Wie gravierend sich die Welt in den vergangenen zehn, 15 Jahren verändert hat, kann man auch daran erkennen, dass heute wirklich kein Mensch mehr bei Knigge oder Elmayer nachschlagen würde, wenn er im Umgang mit anderen Menschen unsicher wird. Nicht, weil wir nicht mehr höflich oder zuvorkommend wären. Wir sind es eben anders, unter anderen Umständen. Wie und warum, weiß leider noch niemand ganz genau. Henriette Kuhrt, Stil-Kolumnistin der "NZZ am Sonntag", und die Berliner Start-up-Managerin Sarah Paulsen füllen diese Lücke nun mit ihrem Ratgeber "Im Dschungel des menschlichen Miteinanders". Es geht also nicht mehr darum, mit welcher Hand der Herr der Dame die Tür aufhalten sollte, sondern wie er ihr auf Instagram am besten ein Kompliment macht, das niemand falsch versteht, und schon gar nicht die Komplimentierte selbst.

Gesellschaftliche Rollen und soziale Zuschreibungen sind flüssiger geworden, Handlungsoptionen vielfältiger, was sich nicht besonders gut mit klaren Handlungsanleitungen verträgt. Die Autorinnen sind denn auch kaum dogmatisch, aber doch in einer Frage streng: Rücksichtsloses oder unsoziales Verhalten bleibt unverzeihlich. Aber man kann natürlich auch mit bestem Vorsatz alles falsch machen: "Ein Kompliment bleibt immer minimalinvasiv, es bedeutet immer, dass man sich das Recht herausnimmt, über den anderen zu urteilen." Ganz darauf zu verzichten, wäre natürlich auch trostlos. Man sollte also weiterhin Komplimente, sich davor aber zumindest ein paar Gedanken machen.

Es ist Kuhrt und Paulsen hoch anzurechnen, dass sie die Probleme der neuen sozialen Umgangsformen nicht nur benennen, sondern dort, wo es möglich ist, auch praktisch lösen. Das ist manchmal schrecklich kompliziert, manchmal aber gar nicht so schwierig. Stichwort U wie "Unsicherheit beim ersten Date": "Sie wissen nicht so recht, ob Sie Ihr Gegenüber sexy finden? Wir schon: nicht." Stichwort Smart Casual, vulgo: Turnschuhe beim Präsidenten: "Smart Casual ist der Dresscode der flachen Hierarchien, der Versuch, Menschen auf verschiedenen Ebenen auf einen Nenner zu bringen." Gut, aber: "Wichtig ist, dass Smart Casual nicht mit 'smart und casual' verwechselt wird. Vermeiden Sie Kombinationen von den Außenrändern des Formalitätsspektrums, etwa einen Anzug mit Turnschuhen oder, Gott bewahre, einem Kapuzenpullover."

Henriette Kuhrt, Sarah Paulsen: Im Dschungel des menschlichen Miteinanders. Ein Knigge für das 21. Jahrhundert. Goldmann Verlag, 256 S., EUR 18,50

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.