Diego Alary ist der weltweit erfolgreichste TikTok-Koch mit 2,5 Millionen Jüngern.

Junges Gemüse: Wenn Kochen auf TikTok und Instagram zum Kult wird

Vegane Hipster, Gucci-Models, charismatische Millennials und italienische Omis rühren vor einer riesigen Follower-Herde. Warum ihre Gericht-Shows so meditativ wirken.

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Das 25-jährige Gucci-Model Pierce Abernathy liebt frische Tomaten. Allerdings serviert er auf Instagram seine toskanische Brotsuppe mit einer „Pappa al pomodoro“ aus der Dose. „Wascht euch die Hände, bevor ihr in diese Herrlichkeit greift!“, mahnt er seine 340.000 Follower und mischt Zwiebel, Knoblauchzehen, Brotkrumen und Basilikum in die Sauce. Nach der ersten Löffelprobe schüttelt er nur den Kopf: „Leute, ich würde am liebsten sofort zu weinen anfangen, so gut ist das.“ 

Nahezu 18.000 Menschen „gefällt das“, obwohl das Rezept weder neu noch sonderlich originell ist. Inzwischen ist der Amerikaner Pierce Abernathy, der bei Gucci nicht nur Model ist, sondern auch Öko-Projekte mitgestaltet, hauptberuflich „Rezept-Entwickler“ geworden. Häufig verneigt er sich auch bei der Wahl seiner Gericht-Shows vor seiner armenischen „Tante Lala“, die in den 1970er-Jahren das Kochbuch „Please Pass The Pilaf“ verfasst hatte, und fabriziert schrittweise ihre Spezialität  „Dolmas“, gefüllte Weinblätter. „Nichts gibt einem mehr Trost“, seufzt er in seiner minimalistischen Küche in Brooklyn, „als den Geschmack der Kindheit auf der Zunge zu spüren“. 

Ein „Vibe“ (um in der Sprache der Insta-Natives zu bleiben), der auch den 25-jährigen Römer Ruben Bondí zu einem „Social Media“-Star gemacht hat: 1,2 Millionen Menschen folgen ihm auf TikTok, 650.000 auf Instagram, wenn er den Schlachtruf „Ma dai, facciamo una pasta!“ (Los, machen wir Pasta!) loslässt. Bondí markiert gerne den wild gestikulierenden Klischee-Italiener, der lauthals von Balkon zu Balkon mit seinen üppig tätowierten Kumpels kommuniziert, ehe sie ihm unter freiem Himmel an einem Gaskocher assistieren. Manchmal schwelgt er auch „mit Nonna Mimi“, einer aparten Mittfünfzigerin, den Kochlöffel. Ihre „Pasta all’ arrabiata“ wird von enthusiastischen „Die hast du so gerne gemacht, wenn wir am Meer waren“-Rufen begleitet, tatsächlich findet man das Rezept  in jedem Italo-Kochbuch. Aber hier wie bei vielen anderen, die auf  TikTok und Instagram Dampf machen, geht es weniger um einen innovativen Kochstil als  mehr um das Lebensgefühl, das mitserviert wird: In Bondís Fall Großfamilie, Zusammengehörigkeit, Italianità, Dorfgefühl in der Großstadt, Tradition und ein intakter Mikrokosmos, den die Verunsicherung in der Welt jenseits des Klopfbalkons im römischen Trastevere unbeeinträchtigt lässt. 

Auch der holländische Superstar unter den „Cheffluencern“, Daan van der Lecq, der mit 26 schon mehrere Firmen gegründet hat, kocht manchmal mit seiner „Granny“: „Niemand macht Pfannkuchen so wie sie.“ Die Kanada-Italienerin Alessandra Sirizzotti hat ihre 82-jährige  Großmutter als „Nonna Elda“ (nonna.elda.cooks) sogar zum TikTok-Wunder gehypt. Die in Toronto lebende Seniorin schaffte es eben dort auch in die Abendnachrichten, als ihr Trick, eine Packung Spaghetti ohne Schere oder Messer zu öffnen, sondern einfach senkrecht auf den Tisch zu knallen, viral ging und hunderttausendfach geklickt wurde. Kochen ist eben auch eine Möglichkeit, einen Erinnerungstrip durch die verlorene Kindheit zu machen.

Leute, ich liebe grünen Spargel. Besser als nach grünem Spargel kann ich einfach nicht pissen.

Eden Grinshpan

Foodbloggerin

Dass TikTok eine weit jüngere Klientel mobilisiert als Instagram und Facebook sowieso zunehmend zur Seniorenresidenz für „Boomer“ gerät, ist bekannt. Dennoch erstaunte es die in New York lebende Rumänin Carolina Gelen, 27, ehemals Rezept-Videogestalterin für die „New York Times“,  dass ihre  simplen Zubereitungsclips von  „Buttery Parmesan Egg Toast“ und „1 can of tuna, 2 dollars, 3 meals“ (1 Thunfischkonserve, 2 Dollar, 3 Mahlzeiten) bis zu 4,7 Millionen Mal auf Instagram geklickt wurden. Auf TikTok macht sie unter anderem  mit Resteverwertung Furore und erklärt, was man aus verschiedenen Überbleibseln alles basteln kann. Das entspricht einerseits den Bedürfnissen einer jungen Low-Budget-Klientel, hat aber auch mit deren verschärftem Klima- und Nachhaltigkeitsbewusstsein zu tun, das in einer bildungsstarken Schicht die Wahl des Lebensmittelkonsums so beeinflusst wie nie zuvor. Lebensmittel wegzuwerfen, ist ökologisch betrachtet eine noch größere Sünde als Fleischkonsum. Veganistas wie der deutsche Paul Köber, der unter dem Account-Namen „herbifoods“ von Rhabarber-Scones bis zu Tofu-Pommes tierfreie Kost serviert, oder die in New York lebende Israelin Eden Grinshpan (eaden-eats), die orientalisch-mediterrane Gerichte vegetarisch aufbereitet, sind Teil eines Heeres von Foodbloggern, die nicht mehr mit Fleisch- oder Käseersatz kochen wollen, sondern das Gemüse zum Hauptdarsteller ihrer Selbstinszenierungen machen. 

Das Talent zur Selbstdarstellung, Charisma und eine gewisse Popstar-Attitüde, wie sie der in Berlin lebende Holländer Olle Hoolboom, Mitgestalter der aktuellen Berliner Hipsterkantine „Bar Normal“, unter dem Instagram-Account „thefreshprinceofselfcare“ zeigt, sind in Wahrheit die wichtigsten Zutaten, um Follower zu generieren. Die Kochfähigkeiten selbst haben da eher Beilagencharakter. 

Die baumlange Amerikanerin Julia Child, die 2004 verstorbene Mutter aller TV-Kochstars, die mit Fistelstimme die französische Küche ab den 1960er-Jahren in der Fritteusen- und Fast-Food-Supermacht USA populär werden ließ, machte Kochen zum massentauglichen Zuschauersport. Der mit Sicherheit in den vergangenen zwei Jahrzehnten einflussreichste Chef für das Essverhalten der nördlichen Halbkugel war der Brite Jamie Oliver, der um die Jahrtausendwende durch Simplizität und unorthodoxen Kochstil („Hey, Baby, warum machen wir nicht den besten Kartoffelsalat der Welt?!“) jenseits von akribischem Abwiegen und komplizierten Zutaten ein Imperium aus dem Boden stampfte. Seine Attitude einer Nehmt-einfach-was-ihr-im-Kühlschrank-habt!-Entspanntheit nahm vielen die Schwellenangst, die vorher zu Fertiggerichten gegriffen hatten.  

Dass das Angebot an Foodbloggern immer weiter expandiert und dennoch beim Publikum kein Sättigungsgefühl einzutreten scheint, hat verschiedene Gründe. Einer erklärt sich mit einem Cartoon aus dem „New Yorker“, der 2020 kursierte: Dort sitzen ein Mann und eine Frau gedankendüster vor einem Fernseher. Sie seufzt: „Aktuell befindet sich mein Wunsch, informiert zu bleiben, im Widerstreit mit meinem Wunsch, nicht verrückt zu werden.“ 

In der Zwischenzeit hat sich das Belastungspaket an Bedrohungen noch potenziert: Krieg, eine noch immer wütende Pandemie, ein Sommer voller Klimakatastrophen, eine  dramatische Inflationsrate. Eine Flucht in ein Universum, in dem Zestenreiben, Ersternte-Olivenöl und Zwergauberginen-Aufläufe im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, hat etwas Beruhigendes, fast Meditatives und versetzt einen in die  Illusion, an einem sicheren Ort zu sein. Das Ansetzen von Sauerteig, das sich während der ersten Lockdowns in den sozialen Medien zu einem regelrechten Gesellschaftssport entwickelte, war ein klares Indiz für die These vieler Soziologen, dass in einer Welt, in der alles im Chaos zu versinken droht, man wenigstens die Kontrolle über die kleinen Dinge des Lebens behalten möchte. Die Sehnsucht nach Authentizität, analogem Leben und Einfachheit, die ihren Ausdruck im Brotbacken, Gemüseanbau, Wandern, Stricken oder eben Kochen finden kann, garantiert zusätzlich  umweltverträglichen Eskapismus. 

„Vor 100 Jahren hat man sich noch über eine Partei identifiziert, in den 68ern über Sexualität – und in diesen Zeiten ist es eben die Ernährung“, erklärt der Münchner Ernährungspsychologe Christoph Klotter in der „Süddeutschen Zeitung“.

Für den stilbewussten und moralisch verantwortlichen Konsumenten markiert Lifestyle heute nicht mehr die Schnittstelle zwischen Pomp, Protzertum und schnöder Statussymbolik wie vor der Jahrtausendwende. Das Geschmackskonzept der betagteren Bobos und ihren Nachfolgern, den Hipstern, definiert sich durch Authentizität, Individualität, Qualitätsbewusstsein und soziale Verträglichkeit. Denn die Art des Essens – nachhaltig, regional, wiederverwertend, unbehandelt! – positioniert einen auch moralisch und spiegelt eine gesellschaftspolitische Haltung wider. Und ein bisschen Rock’n’Roll darf zwecks Unterhaltungswürze auch dabei sein. „Leute, ich liebe grünen Spargel“, ruft beispielsweise Eden Grinshpan in die Kamera, als sie ihr Gemüse auf ein Blech wirft, „besser als nach grünem Spargel kann ich einfach nicht pissen!“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort