Das Mädchen aus Zimmer 28

KZ Theresienstadt: Aus dem Tagebuch des Mädchens Helga Pollak

KZ Theresienstadt. Aus dem Tagebuch des Mädchens Helga Pollak

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Es ist ein Wunder, dass das Büchlein überdauerte. „Denik“ steht in Schönschrift darauf, tschechisch für „Tagebuch“. Helga Pollak-Kinsky, 83, hat es aus dem Mansardenzimmer geholt, von dem aus sie auf einen Grinzinger Weinberg schaut. Als sie am 17. Jänner 1943 die ersten Zeilen verfasste, war sie zwölf Jahre alt. Ihr Vater hatte ihr das Heft mit dem schwarzen Pappdeckel geschenkt, bevor sie nach Theresienstadt deportiert wurden: „Schreib hinein, was du erlebst, was dich bewegt. Ich tu es auch.“
„Nicht den Kopf hängen lassen, aber mit erhobenem Haupt von zu Hause weggehen!“, notierte sie. Und er: „Gewicht vor Abfahrt: 72 kg. Helga: 50 kg (angezogen).“ Sechs Tage später trafen Vater und Tochter in Terezin ein.
Nun erscheinen die Aufzeichnungen des Mädchens, die 1943 und 1944 dort entstanden, als Buch. Mit den Notizen ihres Vaters, der im Protokollstil Tagesbefehle, Hitzeeinbrüche, Transporte nach Osten, Typhuswellen, Eisblumen an den Fenstern, kulturelle Höhepunkte und familiäre Wechselfälle vermerkt, verwebt es sich zu einem einzigartigen persönlichen und historischen Dokument.

Am 27. Jänner zog Otto Pollak ins Invalidenheim L 231, sein Kind ins Mädchenheim L 410 neben der Kirche. Hier bewohnte Helga das Zimmer 28, aus dem ein Mädchen nach dem anderen verschwand, bis sie selbst im Oktober 1944 nach Ausschwitz deportiert wurde. Ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken, die sie ihrem Tagebuch – „Bruder Spinne“ – anvertraute, sind Wort für Wort erhalten geblieben.

Auf dieses Vermächtnis stützte sich die Filmemacherin Zuzana Justman, die für ihre Theresienstadt-Dokumentation „Voices of the Children“ (1997) mit einem Emmy ausgezeichnet wurde. Die in New York lebende Künstlerin, ebenfalls eine Überlebende des Ghettos, drängte auf eine Veröffentlichung der unschätzbaren Erinnerungen, die sich von den vielen abheben, die erst abgefasst wurden, als der Schrecken vorbei war.

In Helga Pollaks Vorgeschichte spiegelt sich das Leben assimilierter Juden. Ihr Vater, ein mit Tapferkeitsmedaillen dekorierter Feldkanonier, war im Ersten Weltkrieg verwundet worden. 1916 kam er aus Südmähren nach Wien und übernahm mit seinem Bruder Karl das Konzertcafé Palmhof in der Mariahilfer Straße, in dem der Operettenkomponist Franz Léhar, der Sänger Richard Tauber oder die Schauspieler Hans Moser, Fritz Imhof und Hans Thimig verkehrten.

Seine 1930 geborene Tochter Helga wuchs im ersten Stock des Hauses auf, sorgfältig abgeschirmt von den Lustbarkeiten der Zelebritäten, der swingenden Tanzmusik, die jeden Mittwoch im Radio aus dem Palmhof übertragen wurde, und umsorgt von ihrer schönen Mutter Frieda und der Haushälterin Johanna, die sich nach der Trennung der Eltern im Jahr 1937 wie eine „zweite Mutti“ um sie kümmerte.
Religion war in der Familie ohne Bedeutung. Das änderte sich, als am 20. Mai 1938 die Nürnberger Rassengesetze in Kraft traten und Juden auf offener Straße misshandelt und gedemütigt wurden. Hunderte waren kurz nach dem Einmarsch Hitlers nach Dachau und Buchenwald deportiert worden, tausende außer Landes geflüchtet.
Die Sommerferien 1938 begannen für die Achtjährige bei Oma Sofie, Tante Marta und Onkel Fritz in Südmähren. Dass sie das Wien ihrer Kindheit nicht wiedersehen würde, konnte das Mädchen nicht ahnen. Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Synagogen im „Großdeutschen Reich“ brannten, in Wien und auch im Sudetenland, war es in Gaya ruhig. Doch die Gefahr rückte näher.

„Geliebtes Kleines“
Ihre Mutter war mit einem Dienstbotenvisum nach Großbritannien entkommen, ihr „geliebtes Kleines“ sollte mit einem Kindertransport folgen. Am 25. März 1938 schrieb Frieda Pollak eine Postkarte aus Ostende, auf der ein Dampfer abgebildet war: „In einer Stunde führt mich dieses schöne Schifferl hinüber nach England. Bald wirst auch du den gleichen Weg fahren …“ Dazu kam es nicht, denn ab 21. Juni 1939 galten die Rassengesetze auch im „Protektorat“ Böhmen und Mähren. Am 1. September brach der Zweite Weltkrieg aus. Als Helga Pollak die Papiere beisammen hatte, waren die Grenzen schon dicht.

Im September 1941 schaffte es ihr Vater von Wien nach Gaya. Er war von SS-Schergen aufgegriffen worden. Ein SA-Mann, den er aus dem Palmhof kannte, bewahrte ihn vor der Deportation. Anfang Juni 1942 starb SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, nachdem tschechische Widerstandskämpfer eine Granate auf sein Auto geworfen hatten. Dafür wollte Adolf Hitler 30.000 tschechische Juden büßen lassen.
Im September 1942 hatte das Ghetto Theresienstadt den Höchststand von 58.652 Bewohnern erreicht – auf eineinhalb Quadratkilometern. Viele kamen aus Deutschland und Österreich, so wie Otto und Helga Pollak, die am 23. Jänner 1943 mit ihren Verwandten eintrafen.
„Die Mädchen haben mich nicht gern, ich weiß es“, schreibt Helga am 14. Februar 1943. Sie fühlt sich fremd zwischen Flaska, Ela, Lenka, Handa. Ihre liebste Betreuerin ist Tella, eine Pianistin, die sich, gemeinsam mit ihren Helferinnen, nach Kräften bemüht, die Kinder von der mörderischen Wirklichkeit abzulenken. Sie proben Bühnenstücke, singen tschechische, deutsche und hebräische Lieder, besuchen Konzerte und Theateraufführungen.

Unter ihrer Führung wachsen die 30 Mädchen, die sich in den dicht gestellten Stockbetten auf wenigen Quadratmetern drängen, zusammen. Die Gemeinschaft verständigt sich auf eine Art Parlament namens „Maagal“ (hebräisch für „Kreis“) und textet eine Hymne: „Wir wollen eine Einheit sein. Uns gerne haben und zueinander stehen. Wir kamen hierher und wir wollen. Und werden gewiss. Wieder nach Hause gehen.“
Ihre Lehrmeister sind Uni-Professoren, Musiker, Maler, feurige Zionisten und Kommunisten, die geistige und künstlerische Elite des Landes, die praktisch vollzählig in Theresienstadt eingesperrt ist. Tritt einer „zum Transport“ an, springt ein anderer ein. Nur die Zeichenlehrerin Friedl Dicker-Brandeis und Frau Brumlik, eine Geografie-, Geschichte- und Literatur-Koryphäe, werden zu ständigen Begleiterinnen.
Die Bauhaus-Künstlerin Dicker-Brandeis ermuntert die Kinder, ihre Gefühle mit Pinsel und Farbe zu Papier zu bringen. Für Helga fügt sich in ihren Stunden „alles zum Guten – fast wie von selbst“. Wann immer es geht, entflieht das Mädchen in die Welt des Denkens und der Künste. Nach einer Vorstellung von François Villons Bettlerballade schwärmt sie „Bruder Spinne“ vor: „Ich kann gar nicht daraus erwachen.“ Nach einem Ave Maria, dargeboten von einem Geiger und einem Akkordeonspieler: „Die Musik ist die zauberhafteste und ergreifendste Schöufung der menschlichen Seele, die der Mensch aus dem Nichts geschaffen hat.“ Und an anderer Stelle: Nach „Freiheit, Gesundheit und solche Eltern-Haben wie ich“– sei die schönste Sache der Welt „die Wisssenschaft und nochmals die Wissenschaft“.

Mitgefühl und Kameradschaft
Seit sie Paul de Kruifs „Die Mikrobenjäger“ gelesen hat, will sie Ärztin werden. Sie erträumt sich eine „Ordination in einem belebten Städtchen und eine kleine Villa am Randes des Waldes mit einem Labor, in dem ich fast jede freie Minute mit Forschungen verbringen würde“; sie schilt sich, dass sie „so naiv“ an die Zukunft denke und hofft doch inständig, „dass Mutti bis dahin genug Geld erspart hat, damit ich studieren kann“. Das Mädchen lernt, sich selbst zu beobachten und begreift Theresienstadt als Schule des Lebens: „Das Wichtigste, das ich hier gelernt habe, ist Mitgefühl und Kameradschaft.“
Die Fluchten gelingen nur auf Zeit, wie sie am 5. April 1944 nach einem Beethoven-Konzert konstatiert: „Taussig spielte Violine, am Klavier war Prof. Kaff. Danach folgte nur noch Klavierspiel. Kaff spielte das Stück auswendig. Er lebte in der Musik. Kurze Partien spielte er mit geschlossenen Augen. Für mich war es wie ein Märchen.“ Als der letzte Ton verklingt, möchte sie „in das Klavier hineinschlüpfen. Da drinnen ist Musik. Und hier draußen ist das Gefängnis.“
Menschen sterben an Hunger, Krankheit, Hitze, seelischem Leid. Helga Pollak bekommt Angina, Enzephalitis, sie leidet an Wanzen, klebt ein Foto ihrer Mutter in ihr Büchlein und stellt sich vor, ihre Aufzeichnungen seien Gespräche: „Wenigstens geht es ihr besser, und sie muss nicht das erleben, was wir hier erleben.“ (12. März 1943) Die meisten der über 140.000 Juden, die nach Theresienstadt deportiert werden, kommen in den Gaskammern der Nazis um.
Lea, die kleine Tochter ihrer Cousine Trude, die für sie „das Schwesterchen ist, das ich mir immer gewünscht habe“, schwebt mit einer Lungenentzündung zwischen Leben und Tod. „Dritte Punktuation. Entfernung von 40 cm3 Eiter“, protokolliert Otto Pollak am 6. April 1943. Seine Tochter Helga hat zu dieser Zeit vier Kilo abgenommen, ihr Trommelfell hat sich entzündet, es folgen „Typhus und Gelbsucht-Verdacht“. Im „Marodenzimmer“ liest das Mädchen „mit Fiebereifer“ „Die Elenden“ von Victor Hugo.

Viele ihrer Gedanken kreisen um das Essen. Marenka, die einzige Verwandte in Gaya, die nicht ins Ghetto gezwungen wurde, schickt Päckchen, „ohne die wir oft hungern müssten“ (Helga Pollack, 1. April 1943). Ihr Inhalt wird akribisch aufgezählt: Ein Blumenkohl, drei Äpfel, drei Stück Käse, vier Suppenwürfel, Wurst, Kartoffelmehl. Zu feierlichen Anlässen richten die Mädchen eine „Fresserei“ aus („Zranice“), winzige Scheiben Brot mit einem Futzelchen Paprika; „Torten“, die sie aus Buchtelstückchen formen. Sattessen können sie sich daran nicht.
Geschenke kann man im Ghetto für Schmalz, Suppenwürfel oder Kekse erstehen. Helga spart auf einen Anhänger, den sie ihrem Vater zum 50. Geburtstag schenkt. Auf der Rückseite sind seine Initialen und seine Transportnummer eingraviert, und sie hält befriedigt fest, dass er „sehr gerührt“ gewesen sei.

Der Ältestenrat von Theresienstadt hat sich darauf verständigt, die Jüngsten und Schwächsten beim Essen und ärztlicher Versorgung zu bevorzugen. 15.000 Kinder leben zwischen 1941 und 1945 im Ghetto. Über 14.000 von ihnen kommen uns Leben, in Auschwitz und anderswo. Am 23. Juni 1944 besichtigt eine Rot-Kreuz-Delegation das Durchgangslager. Die gepeinigten Bewohner müssen an diesem Tag nicht strammstehen, bekommen ausreichend zu essen und ergötzen die Besucher mit Darbietungen.

Leo Strauss, Sohn des Operettenkönigs Oscar Strauss, führt ein Couplet auf: „Ich kenn ein kleines Städtchen, ein Städtchen ganz tipptopp, ich nenn es nicht beim Namen, ich nenn’s die Stadt ,Als ob‘.“ Den Delegierten fällt nichts auf, obwohl bereits 32.000 Menschen in Theresienstadt umgekommen und 68.000 in Vernichtungslager deportiert worden sind.
Im Kalender Otto Pollaks ist der 5. September 1944 ein „dunkler Tag trotz Sonnenschein: Helga ist innerlich ganz aufgewühlt, weil sechs ihrer besten Freundinnen abgehen. Für jede hat sie ein kleines Abschiedsgeschenk.“ Die Transportwelle im Herbst 1944 erwischt auch seine Tochter. Am 23. Oktober steht sie auf Liste, mit Tante Handa, ihrer Betreuerin Tella und weiteren Mädchen aus dem Heim. 1707 Menschen verlassen Theresienstadt an diesem Tag. Helga Pollak-Kinsky erinnert sich, dass sie die Schokoladebonbons, die ihr die Jugendfürsorge zugesteckt hat, nicht anrührt. Sie will sie der kleinen Lea geben.
Als die Viehwaggons in Ausschwitz halten, herrscht eine „gespenstische Stille“, zerrissen von Männerschreien: „Schnell, schnell! Raus! Raus!“ Alles danach erlebt sie unter Schock: mit Tella und Handa vorbei an einem Mann, in dem sie später Mengele erkennen wird, die nackten, kahlgeschorenen Menschen, die Baracken. Handa und Helga machen sich um vier Jahre älter und werden zur Zwangsarbeit in eine Munitionsfabrik beordert. Das rettet ihnen das Leben.
Von Helga Pollak gibt es aus dieser Zeit keine Aufzeichnungen. Ihr zweiter Tagebuchband endet im April 1944, der dritte ging verloren. Was ihr im Gedächtnis blieb, sind Abschiede, Transporte, die Kinderoper „Brundibár“; die Geschichte vom Sieg über den bösen Leierkastenmann wurde 55 Mal aufgeführt. Und sie erinnert sich an Klavierkonzerte mit Gideon Klein, Alice Sommer, Edith Kraus und Renée Gärtner-Geiringer und an Rafael Schächter, der im Keller des Mädchenquartiers Verdis Requiem probte, das in ihren Ohren als Abgesang nachhallt. Die Nazis löschten die Künstler und ihre Musik aus.

Im April 1945 hieß es: „Antreten zur Evakuierung vor dem Feind!“ Der Zug, in den man Helga mit hunderten ausgemergelten Menschen stieß, hielt in Theresienstadt. „Helga! Helga!“, schrie ihre Freundin Ela, die sie unter den Ankömmlingen erkannte. Am 2. Mai hingen die SS- und Hakenkreuzfahnen auf Halbmast. Hitler hatte Selbstmord begangen. Tags darauf kam das Ghetto unter den Schutz des Roten Kreuzes. Von 55 Kindern, die durch das Zimmer 28 des Mädchenheims gegangen waren, erlebten nur 15 das Ende des Krieges. Otto Pollak schrieb seiner Tochter in die Quarantänestation: „Dein Tagebuch habe ich ans Tageslicht befördert. Es ist gut erhalten.“
Nach dem Krieg ging Helga Pollak mit ihm nach Kyjov zurück. 63 Verwandte hatte der NS-Terror ihnen entrissen. „Ich leide noch zu sehr darunter, dass wir alleine zurückgekehrt sind, als dass ich dir in Ruhe ausführlich über das Schicksal meiner Liebsten schreiben könnte“, schrieb Otto Pollak seiner Frieda nach London.

Am 4. April 1946 sah Helga Pollak auf dem Croydon Airport ihre Mutter wieder. In England holte sie das Abitur nach und heiratete 1951 den aus Ostpreußen stammenden Emigranten Gerhard Kinsky. Mit ihm ging sie nach Bangkok und später nach Addis Abeba. Bei der Schifffahrt 1956 zurück nach Europa brach im Laderaum ein Feuer aus. Der Container, in dem sich der dritte Band ihres Tagebuches befand, brannte ab. Lange Zeit scheute Helga Pollak-Kinsky sich, Deutsch zu sprechen. 1957 kehrte sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in ein Österreich zurück, in dem sie bis heute eher im Schatten blieb.

Buchtipp
Helga Pollak-Kinsky wirkte in „Terezin Diary“ (1989) und „Voices of the Children“ (1997) der US-Filmerin Zuzana Justman mit. 2004 brachte der Droemer Verlag das Buch „Die Mädchen von Zimmer 28“ auf den Markt. Dieser Tage erscheint nun in der Edition Room 28 ihr „Theresienstädter Tagebuch 1943–1944“, herausgegeben von Hannelore Brenner (290 Seiten, Euro 22,70). Helga Pollak-Kinsky wurde mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Der Bundestag in Berlin widmete „Den Mädchen aus Zimmer 28“ eine große Ausstellung. Am 28. Jänner sprach Helga Pollak-Kinsky anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Holocaust vor den Vereinten Nationen in Genf.

Foto: Monika Saulich für profil

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges