Löscheinsatz: Hat die Wikipedia ein Sexismusproblem?

Von den aktuell rund 805.000 biographischen Einträgen auf der deutschsprachigen Wikipedia sind gut 83,5 Prozent Männern gewidmet.

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Im Jänner feierte die Online-Enzyklopädie Wikipedia, eine der großen Erfolgsgeschichten des Internets, ihren 20. Geburtstag. In der Vorwoche holte sie – wieder einmal – ein altes Problem ein: ihr leider notorisches Sexismusproblem. Der Eintrag über die österreichische Podcasterin Beatrice Frasl wurde von einem Wikipedianer – angeblich mangels Relevanz – gelöscht; der anschließenden Löschdebatte mangelte es nicht an unschönen, zum Teil durchaus frauenfeindlichen Beiträgen.

Dutzende betroffene Frauen meldeten sich daraufhin – großteils via Twitter – zu Wort und berichteten von ähnlichen Erfahrungen. profil nahm die Debatte in seiner wöchentlichen Diskussionsreihe auf der Social-Media-Plattform Clubhouse („profil zuhaus“) auf und sprach mit der Digital-Botschafterin und profil-Kolumnistin Ingrid Brodnig, der Autorin und Arbeitsmarktexpertin Veronika Bohrn Mena und der Komparatistin Sandra Folie über Männerdominanz in der Online-Enzyklopädie, toxische Debattenkulturen und Wege zur Lösung.

In Sandra Folies Seminar an der Universität Wien war im vergangenen Sommer jener nun gelöschte Eintrag über Beatrice Frasl entstanden. Folie, die selber regelmäßig und erklärtermaßen begeistert in der Wikipedia-Community aktiv ist, berichtet: „Der Löschantrag begann schon mit einem sehr abwertenden, verletzenden Einstiegskommentar. Die Diskussion ging dann auch sehr schnell in eine sexistische Richtung. Allerdings ist Sexismus, wie er sich auf Wikipedia zeigt, in der Regel weniger offen und eher latent bis unbewusst. “

Ähnlich sieht dies auch Ingrid Brodnig: „Ich würde nicht davon ausgehen, dass hinter den meisten dieser Fälle ein ausgesprochener Frauenhass steht. Die Frage ist eher, ob es eine gesellschaftliche, unbewusste Praxis gibt, die Messlatte hinsichtlich Relevanz für Frauen höher anzusetzen. Tatsächlich gibt es in der deutschsprachigen Wikipedia sehr strenge Relevanzkriterien, doch diese Relevanzfrage wird nicht nur in Wikipedia, sondern von der Gesellschaft insgesamt beantwortet. Aber weil die Wikipedia unsere zentrale Anlaufstelle für Informationsbeschaffung im Netz ist und dadurch auch Wirklichkeit schafft, verstärkt sich diese gesellschaftliche Schieflage natürlich.“

Auch Veronika Bohrn Mena, deren Wikipedia-Eintrag im vergangenen Jahr – ebenfalls unter teils abwertenden Kommentaren – gelöscht wurde, erkennt darin ein Problem mit vordigitalen Wurzeln: „Was die gesellschaftliche Sichtbarkeit von Frauen betrifft, ist Wikipedia sicher nicht das Hauptproblem, und auch die Umgangsformen dort haben ihre Ursachen anderswo: Männer haben mehr Freizeit zur Verfügung als Frauen – und damit auch Zeit, auf Wikipedia aktiv zu werden und dort, gewissermaßen unter sich, auch eine ruppigere Diskussionskultur zu entwickeln. Wenn man das ändern will, wird man regulierend eingreifen und darauf bestehen müssen, dass Diskussionen nicht ausschließlich von Männern geführt werden.“
 

Von den aktuell rund 805.000 biografischen Einträgen auf der deutschsprachigen Wikipedia sind gut 673.000 oder 83,5 Prozent Männern gewidmet. In den vergangenen zehn Jahren ist der Frauenanteil um weniger als zwei Prozentpunkte gewachsen. Der geschätzte Frauenanteil unter den aktiven Wikipedianern beträgt nicht einmal 15 Prozent. Warum ist das so? Brodnig: „Die Wikimedia Foundation hat vor einigen Jahren dazu eine Umfrage durchgeführt. Zu den wichtigsten Gründen, warum sich so wenige Frauen beteiligen, gehörte, dass sie zu wenig Zeit haben, aber vor allem auch, dass ihnen die Diskussionen in der Community zu konfliktgeladen erscheinen. Das ist auch in anderen Online-Gemeinschaften zu bemerken: Wenn es rauer zugeht, verstummen Frauen.“

Um den digitalen Gendergap zu schließen, werden regelmäßig sogenannte Edit-a-thons veranstaltet, gemeinschaftliche Schreibprojekte, die auch von den Trägervereinen
der Wikipedia (denen das Problem schmerzlich bewusst ist) unterstützt werden. Im Vorfeld des internationalen Frauentages findet etwa ein von der WU Wien ausgelobter Edit-a-thon mit Fokus auf Frauen aus der Wirtschaft statt, laufend gibt es das Wikipedia-Projekt „Frauen in Rot“, in dessen Rahmen Frauenbiografien erstellt werden. Brodnig: „Bei aller Kritik: Die Wikipedia ist eines der tollsten Projekte im Netz. Die Kritik an dem Gendergap speist sich auch aus Liebe zur Wikipedia, die einfach möglichst gut und korrekt funktionieren soll.“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.