Mike Tyson: Autobiografie schildert Leben zwischen Drogen, Sex, Gewalt
Am 22. Januar 2002 öffnet Mike Tyson wieder mal das Tor und lässt den Teufel herein. Bei der Pressekonferenz im New Yorker Hudson Theater zum geplanten Kampf gegen den Briten Lennox Lewis stürmt Tyson mit erhobenen Fäusten auf seinen Gegner zu. Es kommt zu einer Massenschlägerei, Scharen von Bodyguards verkeilen sich ineinander. Tyson kommt neben Lewis am Boden zu liegen. Er beißt Lewis in den Schenkel, die Zahnabdrücke sind gut zu sehen. Jemand ruft, Tyson gehöre in eine Zwangsjacke. Der Boxer baut sich vor den Journalisten im Saal auf, greift sich roboterhaft immer wieder in den Schritt, schreit wie von Sinnen: "Komm her und sag mir das direkt ins Gesicht. Ich werde deinen Arsch fressen, während du noch lebst, du Wichser. Keiner hier drin kann es mit mir aufnehmen."
Wie ein kleiner, feister Gorilla steht Tyson, damals 35, auf dem Podium. Sein Lispeln und Armrudern, seine schrille Ichbin-kampfbereit-Stimme lassen ihn wie einen Clown wirken, der in einem grotesk überformten Muskelgebirge steckt. Er will der Bösewicht sein, nicht der Held, denn an den Bösewicht erinnert man sich. Es war der letzte Beweis für den tiefen Fall eines Sportlers, der das Schwergewichtsboxen jahrelang bestimmt hatte. 1986 wurde Tyson zum jüngsten Schwergewichtsweltmeister in der Geschichte, er war der erste Athlet, der die damals drei wichtigsten Meisterschaftsgürtel der verschiedenen Verbände gleichzeitig trug. Tysons Lieblingspunch war der rechte Aufwärtshaken, ein Faible hatte er für die schnelle Zweierkombination auf Kopf und Körper. Peng. Peng. Seine Gegner fürchteten, die Buchmacher liebten ihn: Wetten zum Ausgang seiner Kämpfe wurden nicht angenommen, es konnte nur noch darauf getippt werden, ob der Schlagabtausch kürzer oder länger dauern würde als eine Runde. Tyson stilisierte sich zu einer Gestalt aus dem Horrorkabinett - und war ein Kind im Körper eines Schlägers, das Figuren aus Marvel-Comics liebte. Apocalypse, den bösen Mutanten, und Galactus, den Planetenfresser.
"Unbestreitbare Wahrheit"
"Kämpfen ist für mich, was für Einstein Theorie und für Hemingway Worte waren", schreibt Tyson in "Unbestreitbare Wahrheit", seiner Autobiografie, die diese Woche erscheint. Seit Februar 2013 tourt er mit der Ein-Mann-Revue gleichen Namens durch die USA. Show und Buch sind Versuche, sich ein Image jenseits der Bad-Boy-Pose zu verpassen. Iron Mike, der Krieger mit dem Maori-Stammeszeichen im Gesicht, gönnt sich Katharsis: Er sei, schreibt er, ein "arrogantes Arschloch", eine "Kanalratte", ein "Scheißkerl", der "dümmste Mensch im Boxsport", ein verurteilter Vergewaltiger, der seiner eigenen Auffassung nach jedoch drei Jahre lang schuldlos im Gefängnis saß.
Tyson wirkt wie die Antithese zu den gut gelaunten Sportkameraden, die das Profiboxen heute dominieren. Der Boxsport ist in der Realität angekommen, das blutig-bizarre Spektakel, traditionell als zirkusähnliche Jahrmarktattraktion inszeniert und von Mitgliedern des gesellschaftlichen Zwielichts unterwandert, ist längst Teil des globalisierten Showbusiness, eine perfekte Verkaufsmaschine, angetrieben von hohen Zahlen und künstlich dramatisierten Ringschlachten.
Mann der Maßlosigkeit
Während Tyson auf seine Magnetwirkung vertraute und sich als Mann der Maßlosigkeit präsentierte, der aus seinen Millionengagen kein Geheimnis machte, sind in der Berufsboxerwelt der Brüder Klitschko, den aktuellen Regenten des Schwergewichts, Maulheldentum und Machismo, die Tyson in ihrer reinsten Form inkarnierte, so gut wie ausgestorben. Vitali Klitschko versprüht bei Siegerinterviews verlässlich den Charme eines Schweißbäche absondernden Tresors. Bruder Wladimir analysiert wortreich die Gründe seiner boxerischen Überlegenheit. Über Geld spricht man nicht. Die Brisanz des Boxens als verruchtes, urkapitalistisches Gewerbe ist den Brüdern ein paar Standardsätze wert: Boxen dürfe nie der Glorifizierung von Gewalt dienen, sportliche Fairness stehe über allem.
Axt im Wald
"Durch die Klitschkos ist Boxen sicher humaner und akademischer geworden", sagt Sigi Bergmann. Der ehemalige TV-Journalist, der mehr als 3500 Boxkämpfe kommentierte, hat Tyson zweimal interviewt, bei vielen seiner Gefechte war er live am Ring. "Gespräche waren ihm lästig. Kein Lächeln. Stechend smaragdgrüne Augen, man hätte glauben können, er sei leberkrank", erinnert sich Bergmann an die Begegnungen. Es waren Höhepunkte seines Reporterlebens. "Tyson war ein Irrer, der härteste Crack der Boxgeschichte, die Axt im Wald. Seine Gegner waren paralysiert, wenn er in den Saal marschierte. Kein Mantel, keine Socken, schwarze Hose." Die Kämpfe der Klitschkos sieht Bergmann nicht mehr. "Ich will nicht zum Feind des Boxens werden."
Ghettokind
Tyson ist der letzte Schwergewichtsweltmeister, der als Ghettokind sein Metier erlernt hat. Geboren wird er am 30. Juni 1966 in einem New Yorker Vorort, in eine Familie hinein, in der Gewalt, Alkohol und ausgeschlagene Zähne Alltag sind, der Vater ein bloßer Name auf der Geburtsurkunde. Ein Leben in Abbruchhäusern ohne Heizung, Wasser und Strom. Michael stiehlt, was er kriegen kann, notfalls mit Straßenschlägereien und Messerstechereien. Als Zehnjähriger wird er wegen einer geklauten Kreditkarte von der Polizei verhaftet, mit 12 an eine Spezialschule verwiesen, kurz vor seinem 13. Geburtstag in eine Einrichtung für jugendliche Straftäter im New Yorker Hinterland gesteckt. Bei der Beerdigung der Mutter trägt er einen Anzug, den er sich von gestohlenem Geld gekauft hat.
Ich war sein Soldat
1980 lernt er den Boxtrainer Cus D'Amato kennen, einen Meister der Manipulation mit spitz nach oben gedrehten Augenbrauen. In "Unbestreitbare Wahrheit" ist Tysons Geschichte auf diesen Punkt hin erzählt, an dem sie auch kippt. D'Amato formt aus dem Kampftalent die Kampfmaschine. "Cus war ein General, ich war sein Soldat. Und wir waren bereit, in den Krieg zu ziehen." Nächtelang studiert Tyson historische Boxkampfszenen, er geht mit Boxhandschuhen ins Bett. Viele Jahre lang wird er in Interviews nur die Sätze seiner Sportheroen zitieren. Als der Trainer stirbt, ist Tyson 19. Im Jahr darauf wird er Boxweltmeister. Ohne seinen Mentor überschreitet er bald die Grenzen zur Manie. "Nein" wird zum Fremdwort.
Leben wie ein Gangsta-Rapper
Er trägt sündteure Klamotten, Krokodillederschuhe und Diamantringe. In den Villen des Boxers stehen Raumsprays, Kondome und Pornofilme immer bereit. Er führt eine Rollkartei mit den Namen seiner Geliebten in Florida, New York, Las Vegas, Detroit. Er legt sich eine Autoflotte zu, in seinen Häusern stammt alles von Versace, Bettlaken, Daunendecken, Aschenbecher, Gläser, Geschirr. Er engagiert Bodyguards, um die Öffentlichkeit vor ihm zu schützen. Er kauft sich Landsitze mit knarrenden Holztüren und Kristallklinken, in denen Wasserfälle in die Tiefe stürzen. Kenya, ein ausgewachsener weißer Tiger, darf bei ihm im Bett schlafen. Er lebt wie ein Gangsta-Rapper, und seine Boxkämpfe verlagern sich immer mehr auf die Straße. Es sammeln sich Berge von Schmerzensgeldforderungen, Vaterschaftstests, Zeugenbefragungen und Gerichtsbeschlüssen an, tausende Schreibmaschinenseiten, in langen Reihen von Aktenordnern.
1992 wird er zu drei Jahren Haft verurteilt . Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass Tyson die Kandidatin eines Schönheitswettbewerbs vergewaltigt habe. "Ich habe Desiree Washington nicht vergewaltigt", schreibt er in "Unbestreitbare Wahrheit", nennt Washington eine "wortgewandte Lügnerin". Freimütig erzählt er in "Unbestreitbare Wahrheit" auch davon, wie er seinen ehemaligen Manager Don King auf den Kopf schlug, so heftig, dass aus dessen Starkstromfrisur Staub aufstieg; wie die skandalträchtige Scheidung von seiner ersten Ehefrau, einer "hinterfotzigen Schlampe", ablief. Es ist gut möglich, dass "Unbestreitbare Wahrheit" zusätzliche Aktenmeter nach sich ziehen wird.
Nach seiner Entlassung holt sich Tyson neuerlich zwei Weltmeisterschaftsgürtel. Er boxt acht Runden und verdient 80 Millionen Dollar. 2000 verbucht er als stabiles Geschäftsjahr: Er gibt acht Millionen Dollar für Steuern aus, 5,1 Millionen für Anwaltskosten, fünf Millionen für seine Frau, 4,1 Millionen für ein Darlehen, 3,9 Millionen für Rückzahlungen wegen einer verlorenen Klage, 3,4 Millionen für Löhne und Gehälter, 2,1 Millionen für Autos und 1,8 Millionen für das neu gegründete Plattenlabel Iron Mike Records. Sein Abstieg als Sportler hat längst begonnen.
Er verliert den Prestigekampf gegen Lennox Lewis. Einem Fan, der ein Autogramm will, schmiert er eine. Peng. Er unternimmt Gewaltmärsche in brütender Sonne, wandert für kurze Zeit wieder in Haft. Er schlägt einen Kontrahenten mitsamt dem Ringrichter nieder. Nach dem schnellen Knockout grölt er ins Ringmikro: "Ich wollte ihm das Herz herausreißen, ich bin der beste Boxer aller Zeiten, und ich bin grausam und bösartig, ich will dein Herz, ich will deine Kinder essen. Gelobt sei Allah!" Tyson droht langsam seinen Verstand zu verlieren.
Am 28. Juni 1997 beißt er seinem Gegner Evander Holyfield in der dritten Runde ein Stück Ohr ab. 2009 verunglückt eines von Tysons Kindern tödlich. Er besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, versteckt sich in Rehabilitationskliniken, und er meldet Bankrott an. Im Hollywood-Blockbuster "Hangover" erscheint er als Karikatur seiner selbst. Er ist einer der letzten Athleten, die den US-Mythos von Aufstieg und Fall eines Boxers leibhaftig nachvollzogen haben. Er sucht nun das einfache Glück im Taubenschlag, seit vielen Jahren das harmloseste seiner Hobbys. "Ich hasse es, wie irgendein Hinterwäldler leben zu müssen", schreibt er in seinem Lebensbericht. "Ich weiß nicht mal, wie ich den nächsten Tag überleben soll."
Mike Tyson: Unbestreitbare Wahrheit. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Bayer, Karlheinz Dürr, Antoinette Gittinger und Enrico Heinemann. Hannibal, 672 S., EUR 26,80