Monstermania: Die Sucht nach Pokémon Go

Millionen spielen mit, doch es ist mehr als nur ein niedlicher Zeitvertreib: Ingrid Brodnig beschreibt, wie sie von der Sucht "Pokémon Go“ infiziert wurde - und wie das Spielprinzip unsere Zukunft beeinflusst.

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Es gibt eine Welt, die ist mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar. Man benötigt ein Smartphone und Internetzugang, um sie betreten zu können. Bevölkert wird sie von bunten Fabelwesen, die man per Handy einsammeln, trainieren und in Wettkämpfe schicken kann. Genannt wird dieses märchenhafte Reich "Pokémon Go“: Vermutlich haben die meisten schon von dem Spiel für iPhones und Android-Geräte gehört. In weniger als zwei Wochen ist die App in gut 40 Ländern erschienen und wurde mehr als 30 Millionen Mal heruntergeladen, so das Beratungsunternehmen Sensor Tower. Sogar ein Pokémon-Kinofilm mit echten Schauspielern ist geplant. Was macht die Faszination dieses Spiels aus, das Millionen Handynutzer auf die Jagd schickt?

Auf den ersten Blick mag die Gratis-App trivial wirken. Doch das täuscht. Pokémon spiegelt nämlich Vergangenheit und Zukunft wider: Für viele ist es eine Reminiszenz an die Kindheit, als man in den 1990er-Jahren auf seinem Gameboy "pocket monster“ (kurz Pokémons) fing oder später, in der gleichnamigen Fernsehserie, die Abenteuer des drolligen Pikachu und seines menschlichen Freundes Ash verfolgte. Diese Fabelwesen wurden vom japanischen Videospieldesigner Satoshi Tajiri erfunden: Er hatte als Bub im Wald Käfer gesammelt und wollte diese Begeisterung Kindern auf dem Gameboy nahebringen. Das Spiel spreche den menschlichen Trieb des Sammelns an, erklärt Psychologe Matthias Niggehoff: "In der Steinzeit sammelte man und wurde mit Essen belohnt. Heute tut man das, um ein höheres Level im Spiel zu erreichen.“ Games wie Pokémon belohnen einen ständig mit neuen Trophäen, darum vermitteln sie uns Spielern ein solches Wohlgefühl.

Ich verbringe meine Freizeit damit, virtuellen Ratten, Tauben und dem niedlichen Pikachu hinterherzujagen, bunte Bälle auf diese Fabelwesen zu werfen und sie mit "Himmihbeeren“ zu füttern.

Pokémon Go bietet Mittzwanzigern und Mittdreißigern also behagliche Nostalgie inmitten der brutal gewordenen Realität. Wie ferngesteuert laufen wir durch die Straßen mit starrem Blick auf das Handy. Gemäß dem Motto "Gotta catch ’em all!“ wollen wir alle 151 aktuell erhältlichen Taschenmonster einfangen. Dass der Handyakku dabei leer wird, diesen Preis nimmt man als passionierter Pokémon-Trainer in Kauf. Die meisten von uns verlassen ohnehin nur noch mit externen Ladegeräten das Haus.

Es handelt sich hier aber nicht nur um einen temporären Hype, der sich wieder verflüchtigen wird, Pokémon Go verrät einiges über die digitale Zukunft. Das Spiel bietet eine zusätzliche Informationsebene, die über die ganze Welt ausgebreitet wurde. Eine kluge Software berechnet, wo auf der Landkarte welches Fabelwesen aufkreuzt. Faktoren wie Land- oder Wassermasse, regionales Klima und Vegetation werden von dem Programm berücksichtigt. So tauchen Pokémons in Fischform bei Flüssen auf, in Parks sind viele "Taubsis“ anzutreffen - digitale Tauben. Während ich diese Zeilen verfasse, poppt ein "Rattfratz“ am Bildschirm auf: Ich tippe auf das Rattensymbol auf der Landkarte, daraufhin materialisiert sich das Tier in meinem Büro - die App greift auf meine Handykamera zu, ich sehe den Nager auf meinem Schreibtisch lauern. Er hat keine Chance: Mit einem Fingerwisch werfe ich einen "Pokéball“ auf ihn, fange ihn so ein.

Zugegeben: So hatte ich mir mein Leben jenseits der 30 nicht vorgestellt. Ich verbringe meine Freizeit damit, virtuellen Ratten, Tauben und dem niedlichen Pikachu hinterherzujagen, bunte Bälle auf diese Fabelwesen zu werfen und sie mit "Himmihbeeren“ zu füttern. Es macht aber Spaß, ergänzend zur normalen Welt eine zusätzliche Spieloberfläche am Handy zu erleben. Der Weg in die Arbeit ist unterhaltsamer, wenn man Taubsis, Rattfratz oder Mauzi (das begehrte Pokémon in Katzenform) sammelt. "Augmented Reality“ nennt man dieses Prinzip: erweiterte Realität. Dabei blendet das Computerdisplay zusätzliche Information zur Umgebung ein. Seit Jahren prognostizieren Experten, "Augmented Reality“ werde bald die Welt erobern. Pokémon Go ist das erste Spiel, bei dem dies wirklich gelungen ist.

Jedoch stellt sich auch die Frage: Sollte es ethische Grenzen für die erweiterte Realität geben? Über den Wiener Zentralfriedhof laufen derzeit Menschen mit Blick auf das Smartphone und der Hoffnung, ein Geister-Pokémon zu fangen. Wo andere trauern, befinden sie sich im Sammelfieber. Noch umstrittener: Ausgerechnet das Holocaust-Museum in Washington wurde als PokéStop eingetragen. Das sind jene Orte auf der virtuellen Landkarte, auf denen Spieler ihre Vorräte auffrischen. Vorgeschlagen wurden diese Standorte von Nutzern des Vorgängerspiels "Ingress“ (auf dessen Technologie Pokémon Go aufbaut). Auch in Wien fungiert im 2. Bezirk eine Gedenktafel für 55 deportierte Juden als PokéStop. Es beklemmte mich, dass die Erinnerungstafel für NS-Opfer zur Videospielstätte wird; ich habe die Löschung dieses PokéStops beantragt. Das Technikunternehmen Niantic, das die App entwickelte und dabei mit dem Spielekonzern Nintendo kooperiert, bietet online ein Formular an, um deplatzierte PokéStops entfernen zu lassen.

Neue Technologie führt eben zur Notwendigkeit, die Umgangsformen upzudaten. Die New Yorker Polizei brachte sogar eine Liste mit Sicherheitsratschlägen für Pokémon Go heraus. Da steht zum Beispiel: "Fahren Sie nicht mit dem Auto, während Sie die App nutzen.“ Oder: "Betreten Sie nicht private Grundstücke.“ Die Grundregel lautet wohl: Schalten Sie nicht Ihr Hirn aus, wenn Sie das Programm einschalten!

Die PokéManie finanziert sich über ein schlaues Geschäftsmodell: Die App ist gratis spielbar. Wer aber besonders gute Ausrüstungsgegenstände haben will, muss jeweils einige Cent zahlen. Künftig werden Niantic und Nintendo mit einigen Marken kooperieren: In Japan fungieren bereits McDonald’s-Filialen als Arenen, in denen Spieler ihre Pokémons in den Wettkampf schicken können. In einem Zeitraum von zwei Wochen nach dem Start hat sich der Wert der Nintendo-Aktie in etwa verdoppelt. Natürlich gibt es die Zweifler (siehe Cyberama, Seite 69), die die Frage aufwerfen, ob es sich hier um einen kurzlebigen Hype handelt. Meine Antwort nach einer Woche im Jagdfieber: Selbstverständlich ist es ein Hype, aber über solche Hypes verbreiten sich eben neue Technologien. Selbst wenn nur ein Bruchteil der Nutzer dieser App treu bleibt, wird das Nintendo und Niantic weiterhin Millionengewinne bescheren. Die größte Schwäche von Pokémon Go ist derzeit, dass es oft abstürzt, weil zu viele Menschen gleichzeitig darauf zugreifen.

Selbst wenn Pikachu und seine Truppe eines Tages in Vergessenheit geraten sollten; das Paralleluniversum, das sie uns eröffnet haben, wird unsere Wahrnehmung revolutionieren.

Es sagt jedoch viel über ein Spiel aus, wenn sein Hauptmanko eine explodierende Nachfrage ist und die Anbieter durch den Ansturm überfordert sind. Selbstverständlich müssen die Entwickler weiter an der Software basteln, sie noch verbessern und mit der Zeit mit weiteren Pokémon anreichern. Was wir aber grundsätzlich gerade erleben, ist ein technologischer Wendepunkt.

Plötzlich erkennen Millionen von Menschen, wie unterhaltsam eine zusätzliche Informationsebene neben der Realität sein kann. Wissenschafter hoffen, dass "Augmented Reality“ uns eines Tages sogar helfen kann, wachsamer beim Autofahren zu sein, indem wir zusätzliche Infos auf die Windschutzscheibe eingeblendet bekommen. Niantic will auch weiteren Spieleherstellern anbieten, ähnliche Games wie Pokémon Go zu entwickeln. Selbst wenn Pikachu und seine Truppe eines Tages in Vergessenheit geraten sollten; das Paralleluniversum, das sie uns eröffnet haben, wird unsere Wahrnehmung revolutionieren.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.