Interview

Kontaktabbruch: „Liebe besteht aus Nähe und Distanz“

Die deutsche Psychotherapeutin und Autorin Claudia Haarmann hat sich auf den Kontaktabbruch zwischen Kindern und Eltern spezialisiert.

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profil: Hat die Pandemie die Häufigkeit von Kontaktabbrüchen verstärkt?

Haarmann: Das kann ich nicht behaupten, aber es ist seit einigen Jahren ein großes Thema. Ich werde mit Mails überflutet. Der steigende Bedarf hat mit der jungen Generation zu tun, die sich traut, ihre Gefühle und die Themen innerhalb der Familie, die zuvor keiner wahrhaben wollte und denen man mit Sprachlosigkeit begegnet ist, zu benennen. In der Kindheit ist ja das Leben mit den Eltern und den ganzen Disharmonien Normalität, es gibt keine Alternative. Erst aus der Distanz realisieren sie die Problematiken.

profil: Die französische Autorin Caroline Fourest spricht von der „Generation beleidigt“. Beobachten Sie auch eine Überempfindlichkeit dieser jungen Erwachsenen?

Haarmann: Möglicherweise schlägt das Pendel jetzt stärker in die andere Richtung aus, und die Finger werden überdeutlich auf die Wunden gelegt. Aber grundsätzlich begrüße ich die Auseinandersetzung.

profil: Die Generation der Babyboomer hatte es mit Eltern zu tun, die häufig vom Krieg und dessen Nachwehen beschädigt waren.

Haarmann: Diese Elterngeneration wurde großgezogen in dem Bewusstsein, dass sie funktionieren muss. Die wussten, dass sie wiederum ihre Eltern nicht noch mehr belasten konnten, weil die noch unter dem Überlebensstress standen. Oftmals wurde geschrien oder geschwiegen. Und wenn Gefühle zu gefährlich wurden, hat man sie einfach weggepackt. Dafür war damals kein Raum. Das wirkt natürlich auch in der folgenden Generation nach.

profil: In meinen Gesprächen mit betroffenen Kindern geht es häufig um Abwertung als Ursache für den Bruch. Warum setzen Eltern ihre Kinder dem aus?

Haarmann: Zum einen, weil sie nicht besser wissen, wie eine gute Bindung aussieht. Zum anderen wollen viele Eltern, dass die Kinder ihren Vorstellungen entsprechen. Das äußert sich dann in ganz banalen Dingen: in nervenden Fragen wie „Warum ziehst du dieses Kleid an, das blaue steht dir doch viel besser?“ Oder sie sind enttäuscht, dass die Tochter den „netten“ Akademiker nicht geheiratet hat. Dieses Gefühl des nicht Angenommenwerdens erzeugt eine tiefe Kränkung bei den Kindern.

profil: Ist diese Abwertung mit dem fehlenden Selbstwert der Eltern in Zusammenhang zu bringen?

Haarmann: Das ist nicht zu pauschalisieren. Viele Eltern wissen einfach nicht, wie man das, was wir Liebe nennen, kommuniziert. Sie verstehen nicht, dass Liebe auch bedeutet, die Autonomie und Freiheit ihres Kindes zu respektieren. Es gibt Mütter, die ihre Zuneigung zeigen, indem sie gut für ihre Kinder kochen. Sie haben aber keine Worte für die Gefühlswelt. Das muss man dann vielleicht auch einfach so annehmen.

profil: Gibt es gemeinsame Merkmale bei so einem Riss zwischen einer Eltern-und-Kind-Beziehung?

Haarmann: Tatsächlich haben in der Mehrheit der Fälle die Eltern in ihrer Familiengeschichte Problematiken mit den eigenen Eltern erlebt. Da wurde oft über Generationen etwas nicht gelernt. Gemäß der früheren Haltung: Wie’s drinnen aussieht, geht keinen etwas an. Da fällt oft der Satz: „Ich hätte mich nie getraut, solche Bindungsthemen gegenüber meinen Eltern überhaupt zu benennen.“ Eine einfühlsame Bindung hat es nicht gegeben. Oft gibt es viel Leidvolles in den Familiengeschichten.

profil: In Ihrem Buch „Mütter sind auch Menschen“ 2008 setzten Sie sich unter anderem mit der oft schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung auseinander. Narzisstische Mütter sind ja ein großes Thema.

Haarmann: Wenn man als Mutter selber eine innere Not hat oder einen Mangel an Liebe, dann wird sich das natürlich in der Beziehung zu den Kindern ausdrücken. Bei diesem Thema wird so oft die Schuldfrage hin und her geschoben. Aber das führt zu nichts, erst mal wird jede Mutter von sich sagen: „Ich habe mein Bestes gegeben.“ Nur dieses Beste ist oft nicht das Beste für das betroffene Kind gewesen. Und der eigene Mangel führt dazu, dass die eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Egoismen im Vordergrund stehen.

profil: Ist das Kitten Ihr therapeutisches Ziel?

Haarmann: Ich muss vorausschicken: Menschen, die Gewalt oder einen Missbrauch in der Familie erlebt haben, müssen eine Grenze setzen, um nicht weiter traumatisiert zu werden. Im Normalfall ist dieser Bruch eine große Chance, die einem Weckruf durch das Kind gleichkommt. Es legt den Finger auf die Familienwunde. Das bietet für alle Beteiligten die Möglichkeit, sich die Fragen zu stellen: Worüber müssen wir sprechen? Was läuft bei uns falsch. Wo liegen die Defizite in unserer Familie? Und was ist vor allem die Wahrheit des Kindes, das den Kontakt abbricht? Denn eines ist sicher: Kein Kind verlässt die Familie, die Wurzeln, ohne einen tief liegenden Schmerz.

Claudia Haarmann, 70, widmete sich dem Thema Kontaktabbruch, als sie nach ihrem Buch 2008 „Mütter sind auch Menschen“ die große Bedürfnislage, über solche Abbrüche zwischen Kindern und Eltern zu reden, erkannte. In ihrem Buch „Kontaktabbruch“ (2015) verarbeitet sie ihre Erfahrungen aus ihrer Berufspraxis.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort