Rat auf Draht

Wie verarbeitet man den Grazer Amoklauf, Frau Piriwe?

Seit dem Amoklauf in Graz läuten ununterbrochen die Telefone bei „Rat auf Draht“. Eine, die abhebt, ist Christine Piriwe. Im profil-Gespräch erzählt sie von Traumabewältigung, Social Media – und warum uns die Normalität auch heilen kann.

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Sie ist eine ruhige Stimme in der Krise: Christine Piriwe berät seit mehr als fünf Jahren bei „Rat auf Draht“. Wenn Jugendliche nicht mehr weiterwissen, ist sie da – am Telefon, im Chat, und mit offenem Ohr. Seit über 35 Jahren unterstützt die Hotline Kinder und Jugendliche bei Sorgen, Problemen und in akuten Krisen. Allein im vergangenen Jahr wurden rund 42.000 Gespräche über die Notrufnummer geführt. Dabei gibt es eine Bandbreite an Problemen, die Jugendlichen Sorgen bereitet: von Konflikten in der Familie, über sexuelle Aufklärung bis zur Verarbeitung eines Amoklaufs.

Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Piriwe. Ich nehme an, gerade in den letzten Tagen sind Sie und Ihr Team besonders gefordert?

Christine Piriwe

Ja, wir merken das deutlich. Wir haben unser Team aufgestockt und sind aktuell wirklich auf allen Kanälen – im Chat wie am Telefon – sehr gefordert. Wir geben unser Bestes, dieser Situation gerecht zu werden.

Am Dienstag tötete ein Amokläufer zehn Menschen in einer Grazer Schule, danach nahm er sich selbst das Leben. Ganz Österreich ist erschüttert – viele Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Angehörige stehen unter Schock. Wie kann man ein derart traumatisierendes Ereignis verarbeiten?

Piriwe

Es braucht Orte, an denen Betroffene ihre Ängste aussprechen und ihre Emotionen wertfrei teilen können – jeder Mensch hat dabei seine eigene Art mit so einem Erlebnis umzugehen. Manche möchten an einem Trauergottesdienst teilnehmen, andere schreiben ihre Gedanken nieder. Wichtig ist es, das Geschehene einordnen zu können. Was ist passiert? Was bedeutet das für mich? Wir unterstützen, indem wir zuhören, ernst nehmen und Halt geben. Ein Stück weit geht es darum, wieder handlungsfähig zu werden: Gemeinsame Rituale – etwa ein Abendessen oder eine Unternehmung – können helfen, Struktur und Stabilität zurückzubringen.

Was kann ich als Angehöriger oder Freund tun, um Betroffene zu unterstützen?

Piriwe

Wichtig ist, einfach da zu sein und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, wenn sie gebraucht wird. Gleichzeitig sollte man Rückzug zulassen und respektieren. Nach einem traumatischen Erlebnis können Schlafstörungen, Albträume oder psychosomatische Beschwerden auftreten – das ist häufig. Man kann auch die Gemeinschaft stärken, Menschen zusammenbringen, zum Beispiel für Gespräche oder ein öffentliches Zeichen wie dem Lichtermeer. Jede noch so kleine Geste zählt: Sie zeigt – wir sind da, du bist nicht allein.

Ist es überhaupt möglich, ein solches Erlebnis nach Wochen, Monaten oder Jahren zu verarbeiten?

Piriwe

Das ist sehr individuell und hängt unter anderem von der persönlichen Resilienz ab. Pauschal lässt sich das nicht sagen. Wichtig ist, unmittelbar nach dem Ereignis genügend Unterstützung zur Verfügung zu stellen, damit es dann im Nachgang nicht schwieriger für die Personen wird. Es ist möglich, dass es für die einen nach ein paar Monaten kein Thema mehr ist, für die anderen bleibt es ein Teil, der sie länger begleiten wird. Rauslöschen kann man solche Ereignisse aus der Biografie eines Menschen nicht. Da braucht es oft weiterführende Unterstützung – etwa durch Psychotherapie oder eine:n Psychiater:in.

So traurig der Anlass ist, ist es eine Möglichkeit, den eigenen Medienkonsum zu reflektieren und gegebenenfalls auch ein Stück weit zu reduzieren.

Christine Piriwe

Psychologische Beraterin, Rat auf Draht

Auf TikTok kursieren derzeit viele Bilder und Videos vom Amoklauf – teils falsch, teils aus dem Zusammenhang gerissen. Wie sollen wir mit diesen Inhalten umgehen?

Piriwe

Nicht teilen – das betont auch die Polizei immer wieder. Wer dazu fähig ist und Fake News identifizieren kann, sollte derartige Inhalte melden. Das ist nämlich auch eine Handlungsfähigkeit in einem kleinen Rahmen. Jungen Erwachsenen rate ich, sich bei seriösen Medien zu informieren. Es gilt die Medienkompetenz und die kritische Reflexion von Quellen zu stärken. So traurig der Anlass ist, ist es eine Möglichkeit, den eigenen Medienkonsum zu reflektieren und gegebenenfalls auch ein Stück weit zu reduzieren.

Ist Social Media also eine Belastung für die mentale Gesundheit?

Piriwe

Es belastet die Menschen zunehmend und natürlich kann es auch etwas auslösen. Vor allem jetzt kann Doomscrolling (endloses Konsumieren von Inhalten, Anm.) für Betroffene Traumatisierungen verstärken. Besonders problematisch sind die Live-Videos aus den Klassenzimmern – da muss der Schutz von Opfern und Kindern über allem stehen, egal auf oder in welchem Medium. Klickzahlen dürfen niemals wichtiger sein als die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Darauf sollten wir als Gesellschaft achten.

Rat auf Draht ist seit 1987 eine Anlaufstelle für junge Menschen. Haben sich die Sorgen und Themen der Anrufer seither verändert? Greift die heutige Jugend überhaupt noch zum Hörer?

Piriwe

Ich habe mit Kolleg:innen gesprochen, die schon seit 30 Jahren dabei sind. Früher standen Themen wie sexuelle Aufklärung, Pubertät und Konflikte mit den Eltern im Vordergrund – das war unser „Hauptgeschäft“. Mit der Zeit hat sich das aber geändert. Ich bin 2019, kurz vor Covid, zu „Rat auf Draht“ gestoßen. Selbst ich habe am Anfang noch sehr viele Aufklärungsgespräche, Konfliktgespräche oder Telefonate zu Liebeskummer geführt – alles klassische Jugendthemen. Und ja, die Jugendlichen greifen noch immer zum Telefon. Die, die nicht telefonieren wollen, nutzen unseren Chatroom. Außerdem haben wir unsere Peer-to-Peer-Beratung ausgebaut. Dort beraten Jugendliche andere Jugendliche. Das ist nochmal niederschwelliger. Aber: Die Gespräche sind heute länger und oft schwerwiegender. Die Themen haben sich verändert, hin zu psychosozialer Gesundheit und Psychoedukation. Oder Personen, die bereits von Panikattacken, Schlafstörungen oder Angstzuständen berichten. Auch Themen wie Suizidalität sind häufiger geworden. Wir informieren, wo man Hilfe bekommt und wie die psychosoziale Versorgung aussieht. Gewalt in Beziehungen und in der Familie haben ebenfalls zugenommen.

Was tun Sie, wenn jemand bei Ihnen eine Gewalttat ankündigt?

Piriwe

Das ist etwas sehr Seltenes. Wir versuchen zunächst, uns ein genaues Bild zu machen: Ist bereits etwas passiert? Ist etwas geplant? Wieso tritt die Person mit uns in Kontakt? Und natürlich, wenn wir eine akute Gefahr bemerken, müssen wir parallel etwas tun. Das heißt, wir können Kolleg:innen hinzuziehen oder auch Rettungskräfte oder Polizei über eine Konferenzschaltung alarmieren. Unser Ziel ist es aber immer, die Situation erst einmal zu klären und die betroffene Person mit Stellen zu vernetzen, bei der sie die entsprechende Hilfe bekommt.

Ein Muster, das sich offenbart: In den Statistiken tendieren vor allem junge Männer zu Gewalttaten. Tun sich Burschen schwerer Hilfe anzunehmen?

Piriwe

Junge Männer nutzen unser Angebot genauso. Erfahrungsgemäß testen sie es zuerst ein bisschen aus und schauen, was es überhaupt bei diesem Angebot gibt und erst dann kommen wir ins Gespräch – sie wirken zögerlicher. Nur wenn sie sehr wütend sind, dann bringen sie das rasch zum Ausdruck. Was wir merken ist, dass viele männliche Personen schon sehr gut über ihre Emotionen sprechen können – das hat sich über die Jahre tatsächlich geändert. Ich denke, die Personen, die sich bei uns melden, haben oft schon viel nachgedacht: Was ist los mit mir? Brauche ich Hilfe? Und da ist mittlerweile eine ganz andere Reflexionsbereitschaft dahinter. Ich kann dabei aber nicht für die breite Bevölkerung sprechen, da sich bei uns nur selten gewaltbereite Personen melden. Wenn, dann meistens erst im Nachgang, wenn schon etwas passiert ist, aus Schuldgefühl, aus Angst oder aus Sorge, dass sie sich nicht selbst wiedererkennen.

Ist Therapie für junge Männer noch immer ein Tabu?

Piriwe

Weibliche Personen sind nach wie vor die, die offen ins Gespräch reingehen und erzählen. Aber ich muss dazu sagen, das Stereotyp, dass Therapie für Männer ein Tabu ist, bricht sich langsam auf – gerade die junge Generation hat ein starkes Bewusstsein. Auch in der Peer-to-Peer-Beratung sehe ich viel Offenheit, viel Sensibilität. Sowas macht Hoffnung und zeigt auch, dass sich etwas wandelt und ins Positive bewegt.

Der Täter war laut Polizei kaum in sozialen Medien aktiv und galt als unauffällig. Wie erreicht man Menschen, die sich sozial völlig zurückziehen?

Piriwe

Das ist sehr schwer. Viele ziehen sich zwar aus dem realen Leben zurück, sind aber online noch aktiv – so erreichen wir sie oder sie stoßen dort auf unsere Angebote. Das heißt, hier macht es durchaus Sinn, wenn Beratungsangebote online aktiv sind und gleichzeitig in den Communities das Gespräch zu suchen. Öffentlichkeitsarbeit wie auf der Pride hilft, sichtbar zu sein. Aber wenn sich jemand so isoliert, ist es natürlich sehr schwierig, ihn zu erreichen. Diese Einzelfälle gibt es leider.

Wie sollen Kinder und Jugendliche Resilienz aufbauen und lernen, damit umzugehen, wenn sie nicht sehen, wie es andere machen? Sie bekommen so oft Perfektion und Durchhaltevermögen vorgespiegelt – auf Social Media und auch zu Hause. 

Christine Piriwe

Psychologische Beraterin, Rat auf Draht

Was kann das persönliche Umfeld tun? Braucht es mehr Mut, psychische Probleme offen anzusprechen?

Piriwe

Wir sind alle Professionist:innen im Menschsein. Ich möchte ein bisschen das Bauchgefühl stärken: Bitte einmal mehr dem Gefühl folgen und ein Gesprächsangebot stellen und sich wirklich Zeit nehmen. Als „Rat auf Draht“ sind wir natürlich da, aber es beginnt schon im Zwischenmenschlichen, in der Familie oder mit Freund:innen. Bitte trauen Sie sich zu sprechen. Seien Sie Vorbild und reden Sie über Ihre Gefühle ohne Kinder zu belehren. Ehrlich sein, aber in einem Maße, dass es zumutbar und altersgerecht ist. Wie sollen Kinder und Jugendliche Resilienz aufbauen und lernen, damit umzugehen, wenn sie nicht sehen, wie es andere machen? Sie bekommen so oft Perfektion und Durchhaltevermögen vorgespiegelt – auf Social Media und auch zu Hause. Es geht darum, dass wir lernen, mit den Unzulänglichkeiten umzugehen. Und darum, dass psychische Probleme zum Menschsein dazugehören.

Viele Menschen empfinden in solchen Situationen ein schlechtes Gewissen, wenn sie wieder zur Tagesordnung übergehen. Ist es überhaupt erlaubt, zur Normalität zurückzukehren?

Piriwe

Ich habe derzeit den Eindruck, dass viele das Gefühl haben, sie müssten stärker betroffen sein oder mehr tun – auch wenn sie gar nicht unmittelbar betroffen sind. Aber das Leben darf und muss weitergehen. Unser gewohntes Leben gibt uns Halt und Stabilität. Das brauchen wir, um mit schwierigen Situationen umgehen zu können und nach vorne zu blicken. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen: Ja, ich darf das und das ist in Ordnung. Das bedeutet nicht, dass wir Mitgefühl oder Anteilnahme verlieren.

Hilfe bei Krisen

  • Hotline für schulpsychologische Betreuung der Bildungsdirektion Steiermark: 0664 80 345 55 665
  • Österreichische Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos unter 142), online unter: telefonseelsorge.at
  • Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr, 01/31 330), online unter: psd-wien.at
  • Kindernotruf (0-24 Uhr, 0800 567 567)
  • Rat auf Draht (0-24 Uhr, 147), online unter: rataufdraht.at
  • Kriseninterventionszentrum (Montag bis Freitag 10-17 Uhr, 01 406 95 95), anonyme E-Mail-Beratung (kriseninterventionszentrum.at)
Kevin Yang

Kevin Yang

seit November 2024 im profil-Digitalressort und Teil des faktiv-Teams. Davor bei der Wiener Zeitung und ORF.