Zwei Brüder gegen Amerika

Attentat von Boston: Zwei Brüder gegen Amerika

USA. Das Attentat von Boston traumatisiert die Nation aufs Neue

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Am Ende lag einer der beiden Brüder erschossen im Beth Israel Deaconess Medical Center von Boston, Massachusetts. Tamerlan Zarnajew war Freitag um 1.10 Uhr früh Ortszeit mit zahlreichen Verletzungen unter schwerer Polizeibegleitung eingeliefert worden, sein Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen. Um 1.35 Uhr wurde er für tot erklärt.

Dschochar Zarnajew, Tamerlans jüngerer Bruder, war zu diesem Zeitpunkt untergetaucht. (Dschochar Zarnajew wurde mittlerweile festgenommen, Anm.) Aus Angst vor ihm wurde Boston zur Geisterstadt. Die Bevölkerung wurde angewiesen, zu Hause zu bleiben, die öffentlichen Verkehrsmittel standen still, der Luftraum war gesperrt.

So endete eine Woche, in der die USA von einer Phase ihrer Vergangenheit eingeholt wurden, die sie überwunden geglaubt hatten. Mehr als ein Jahrzehnt nach den Anschlägen des 11. September 2001 kehrte die Verunsicherung zurück, das Gefühl der Verwundbarkeit, die schiere Angst vor dem Terror, aber auch das Unbehagen, berechtigte Sorgen könnten zu politischen Überreaktionen und Kurzschlusshandlungen führen.

Was war passiert? Attentäter, die Brüder Zarnajew, hatten beim Zieleinlauf des Bostoner Stadt-Marathons zwei Sprengsätze zur Explosion gebracht und damit drei Menschen getötet und mehr als 100 schwer verletzt; einigen musste ein Bein amputiert werden. Ebenfalls vergangene Woche erhielten US-Präsident Barack Obama und Senator Roger Wicker Briefe, in denen die hochgiftige Substanz Rizin enthalten war. Beide Postsendungen wurden abgefangen, niemand kam zu Schaden. Der mutmaßliche Täter, der 45 Jahre alte Paul Kevin Curtis, wurde bald ausgeforscht.

Ein Anschlag mitten in einer US-Metropole, Giftpäckchen an Regierungsvertreter: Es ist dasselbe Szenario wie im September 2001, als islamistische Attentäter mit gekaperten Passagierflugzeugen New York und das Pentagon heimsuchten, und Kuverts mit Milzbrandsporen (Anthrax) bei Senatoren und Nachrichtensendern eingingen, wenngleich die Dimension der Opferzahlen damals ungleich größer war. Doch faktische Zerstörung ist als Kriterium für Terror nur bedingt tauglich. Wesentlicher ist, wie sehr sich die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen lässt. 2001 waren die politischen Folgen enorm: In nur drei Tagen wurde das Anti-Terror-Gesetz „Patriot Act“ durch den Kongress gepeitscht, mit dem die Bürgerrechte eingeschränkt wurden; US-Präsident George W. Bush rief den „Krieg gegen den Terror“ aus, startete den Feldzug in Afghanistan, marschierte später im Irak ein und ließ in Guantanamo auf Kuba ein Internierungslager für Terrorverdächtige errichten, um die in der Verfassung garantierten Rechte von Häftlingen zu umgehen.

Die Terror-Hysterie hielt mehrere Jahre an, ehe sie allmählich wieder zurückging. Bushs Nachfolger Obama ließ den Begriff „Krieg gegen den Terror“ aus dem Vokabular streichen und begann mit dem Truppenabzug aus dem Irak und Afghanistan. Das Lager in Guantanamo existiert jedoch bis heute, und auch der „Patriot Act“ wurde in wesentlichen Teilen unter dem aktuellen Präsidenten verlängert.
Wie reagiert die Nation auf die ersten tödlichen Anschläge seit 2001? Bis Ende vergangener Woche behielten die USA – allen voran Präsident Obama – die Contenance und vermieden jeglichen Anflug martialischer Rachsucht oder überängstlicher Paranoia. „Her mit dem nächsten Bostoner Marathon!“, betitelte Thomas L. Friedman, Kommentator der „New York Times“, die Aufforderung an seine Landsleute, jetzt nur nicht dem Terror nachzugeben. Zu diesem Zeitpunkt wusste man noch gar nichts über die Täter.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Am Donnerstag hatten FBI-Ermittler dank Überwachungsvideos zwei Verdächtige ausgemacht und ihre Fotos veröffentlicht. Wenige Stunden später tauchten die Gesuchten auf. Nach einem Überfall auf ­einen Supermarkt beim Campus des Massachusetts Institute of Technology erschossen sie einen Sicherheitsbeamten, kaperten ein Auto und flüchteten, verfolgt von einem Polizeikonvoi, in die nahe 30.000-Einwohner-Stadt Watertown. Dort lieferten sie sich ein wahres Gefecht mit dutzenden Beamten, in dessen Verlauf auch „Verdächtiger Nummer 1“ – Tamerlan Zarnajew – tödlich verletzt wurde.

Blutige Amateure ohne Vorgeschichte
Laut Polizeiangaben trug er Sprengstoff am Leib. „Verdächtiger Nummer 2“, Dschochar Zarnajew, konnte entkommen. Medienberichten zufolge soll der Fluchtwagen noch über den Körper des Bruders gerollt sein.
Als die Identität der Zarnajews kurz nach der Schießerei in Watertown bekannt wurde, wusste auch die Öffentlichkeit, mit wem sie es zu tun hatte: mit jenem Typus von Terroristen, der Sicherheitsbehörden vor die schwierigste aller Aufgaben stellt – blutige Amateure, die autonom agieren, keine politische Vorgeschichte aufweisen und auch bei der Beschaffung der Waffen nicht auf Hilfe angewiesen sind. Ihre Bomben bastelten sie aus Druckkochtöpfen und anderen handelsüblichen Haushaltsartikeln.
Dschochar kam 2002 als Achtjähriger mit seinen Eltern in die USA. Tamerlan folgte später. Zur Familie gehörten auch zwei Schwestern. Der Vater arbeitete als Automechaniker, die Familie lebte vor der Auswanderung in der zur Russischen Föderation gehörigen Republik Dagestan.

Wie aus jungen Männern – legale Immigranten wie Millionen andere – Mörder wurden, wird die verunsicherte Öffentlichkeit noch lange beschäftigen.

Haben sie die Amerikaner zu hassen gelernt, und wenn ja, weshalb? Dschochar, der Jüngere, hatte im September 2012 die US-Staatsbürgerschaft erworben. Er wollte eigentlich Leben retten. Nach seinem Highschool-Abschluss 2011 arbeitete er im Aquatics Center der Harvard University als Rettungsschwimmer. Sein Chef George McMasters erinnerte sich Freitag vergangener Woche an einen „ruhigen jungen Mann“. Ein Mitschüler beschrieb Dschochar als „normalen Teenager“. Ein Bekannter nannte ihn einen „wandelnden Engel“, ein anderer bezeichnete ihn als „so amerikanisch wie jeder andere“.

Dschochar war der typische nette Junge von nebenan.

In Cambridge, einem beschaulichen Mittelklasse-Vorort von Boston, besuchte der Teenager die Rindge and Latin School, in die einst auch die späteren Hollywoodstars Matt Damon und Ben Affleck gegangen waren. Ein pflichtbewusster Schüler, in jeder Hinsicht unauffällig. Die Stadt ließ ihm ein Stipendium in Höhe von 2500 Dollar zukommen.

In seiner Highschool wurde der begeisterte Ringer im Februar 2011 zum „Athleten des Monats“ gewählt. Sportskameraden schätzten ihn als Kapitän ihres Teams. Neben dem Sport soll Mathematik seine Leidenschaft gewesen sein. Nach dem Highschool-Abschluss schrieb er sich an der Universität von Massachusetts Dartmouth ein. Auf seiner Website zeigte er Sinn für Humor: „Sitzen ein Tschetschene, ein Ingusche und ein Dagestaner in einem Auto. Wer fährt? Antwort: die Polizei.“ Dschochar ging auf Partys, rauchte, hatte Freunde, die, als sie die ersten Bilder des Verdächtigen im Fernsehen sahen, darüber scherzten, dass „Suspect Number 2“ auf den Fahndungsfotos des FBI die Baseballkappe wie Dschochar verkehrt herum trage und ihrem Highschool-Buddy frappant ähnlich sehe. Als die Großfahndung lief, erinnerte sich einer, dass Dschochar einmal Terrorismus verteidigt habe, wenn er einer „gerechten Sache“ diene.
Nach dem Attentat erwies sich der 19-jährige als kaltschnäuzig: Er setzte Twitter-Meldungen ab, spazierte über den Campus seiner Uni und soll sogar ein Auto von der Werkstatt abgeholt haben.

Auffällig: Keiner der von US-Medien befragten Zeugen hatte in den vergangenen Monaten Kontakt zu Dschochar. War der junge Mann untergetaucht? Oder gar im Ausland? US-Regierungskreisen zufolge soll sich der ältere Bruder Tamerlan im vergangenen Jahr länger in Russland aufgehalten haben.

Ein gänzlich anderes Bild zeichnete der ebenfalls in die USA emigrierte Onkel der Brüder in einem emotionalen Auftritt vor US-Medien. Seine Neffen seien „Verlierer“, „voller Neid auf diejenigen, die es geschafft“ hätten. Dass allein tiefer Frust über den nicht erfüllten American Dream aus Immigranten Terroristen machte, ist keine befriedigende Erklärung.
Enttäuschung über das Leben in den USA ist freilich vor allem beim älteren Bruder Tamerlan evident. Gegenüber einem Fotografen klagte er, „keinen einzigen amerikanischen Freund“ zu haben. Erst träumte er von der Ingenieurskarriere, nach dem Abbruch seines Studiums von einer als Boxer.
Hat der ältere den jüngeren Bruder zum islamistischen Terrorismus verführt?

Auf Tamerlans Websites fanden sich Videos islamistischer Sänger und Prediger. Seine Lebensgefährtin soll auf seinen Wunsch hin zum Islam übergetreten sein. Tamerlan rauchte und trank nicht. Gegenüber Freunden soll er sich über den allgemeinen Werteverlust im Westen beschwert haben. Vor zwei Jahren begann er, in der Art eines gläubigen Muslims fünfmal täglich zu beten.

Tamerlan war 1987 in Russland geboren worden, Dschochar 1993 in Kirgisien – offenbar benannt nach Dschochar Dudajew, dem Helden des Unabhängigkeitskriegs gegen Russland, der sich 1991 zum ersten Präsidenten Tschetscheniens ausrief. Dschochar hatte auf seiner Website „Karriere und Geld“ als Ziele angegeben. Nachwuchsboxer Tamerlan meinte gegenüber einem Provinzblatt einmal, es sei möglich, in Amerika „Geld zu verdienen, wenn man sich wirklich anstrengt“. Vergangene Woche wurden sie zu vierfachen Mördern. Ihr Onkel schrie in die Kameras, seine Neffen hätten „Schande über das friedliebende Volk der Tschetschenen gebracht“.

Möglicherweise haben die Attentäter von Boston auch die geplante Reform der Einwanderungsgesetze torpediert. Der republikanische Senator Chuck Grassley forderte „bessere Sicherheitsüberprüfungen von Leuten, die in die USA einreisen“, und stellte die Frage: „Wie können Individuen die Behörden umgehen und solche Angriffe auf unserem Boden planen?“

Dschochar, der als Einziger die Antwort wusste, war zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht.

Hintergrund

Gesichter des Terrors
Islamistische Extremisten, Rechts­radikale, Einzeltäter, Terrorgruppen: die Ur­heber von – teils gerade noch ­verhinderten – Attentaten
auf US-Boden.

17. Januar 2011
Kurz vor Beginn einer Parade am Martin Luther King Day in Spokane im Bundesstaat Washington wird ein Bombenanschlag verhindert. Der Rechtsextremist Kevin Harpham, Sympathisant der radikalen Organisation „Aryan Nations“, wird zu 32 Jahren Haft verurteilt.

1. Mai 2010
Der pakistanische Einwanderer Faizal Shahzad will eine in einem Auto versteckte Bombe am Times Square in New York zünden. Der Sprengsatz detoniert nicht. Shazad wird im Oktober 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt.

25. Dezember 2009
Der „Unterhosenbomber“ Umar Farouk Abdulmutallab aus Nigeria schmuggelt Sprengstoff an Bord einer Passagiermaschine von Amsterdam nach Detroit. Doch der Zünder funktioniert nicht. Passagiere überwältigen Abdulmutallab. Wenige Tage später bekennt sich Al Kaida zu dem Anschlag. Der Attentäter wird im Februar 2012 zu lebenslanger Haft verurteilt.

September 2009
Der aus Bosnien stammende Adis ­Medunjanin plant im Auftrag von Al Kaida einen Anschlag in der New Yorker U-Bahn, wird aber wenige Tage vor der geplanten Tat festgenommen. 2012 wird er zu lebenslanger Haft verurteilt.

22. Dezember 2001
Der britische „Schuh-Bomber“ ­Richard Reid wird bei einem versuchten Selbstmordattentat während eines American-Airlines-­Fluges von Paris nach Miami von Flugbegleiterinnen und Passagieren überwältigt. Im Jänner 2003 wird er vom Bundesgericht in Boston zu ­lebenslanger Haft verurteilt.

11. September 2001
Extremisten der Al Kaida, angeführt von Mohammed Atta, entführen Passagierflugzeuge und steuern sie in die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center und ins Pentagon in Virginia. Eine weitere Maschine stürzt im Bundesstaat Pennsylvania bei Shanksville ab. Insgesamt kommen fast 3000 Menschen ums Leben.

27. Juli 1996
Bei einem Anschlag auf die Olympischen Spiele in Atlanta werden zwei Menschen getötet und 110 verletzt. Der christliche Extremist Eric Robert Rudolph („Army of God“) verübt überdies Anschläge auf ­Abtreibungskliniken und Homosexuellenklubs. 2003 wird er festgenommen und 2005 zu lebenslanger Haft verurteilt.

19. April 1995
Beim Anschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City mit einem Kleinlaster, beladen mit zwei Tonnen Sprengstoff, werden 168 Menschen ge­tötet und 500 verletzt. Der kurze Zeit später gefasste Täter Timothy McVeigh wird im Juni 2001 durch eine Giftinjektion in einer Vollzugsanstalt in Indiana hingerichtet.

26. Februar 1993
Eine Bombe in einem Lieferwagen in der Tiefgarage eines der beiden Wolkenkratzer des World Trade Center explodiert. Sechs Menschen werden getötet, hunderte verletzt. Vier islamistische Fundamentalisten, darunter Mahmud Abouhalima, werden zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

1978 bis 1995
Der sogenannte „Unabomber“ Theodore Kaczynski verschickt insgesamt 16 Paketbomben, die drei Menschen töten und 23 verletzen. „Una“ steht für „Universities“ und „Airlines“, die Arbeitgeber der ersten Opfer. Im April 1996 wird Kaczynski nach einem Hinweis seines Bruders verhaftet und zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

29. Dezember 1975
Bombenanschlag auf den New Yorker Flughafen LaGuardia. Verdächtigt werden puertoricanische, kroatische und palästinensische Extremisten. Die Ermittlungen bleiben ergebnislos.

24. Jänner 1975
Bei einer Explosion in der „Fraunces ­Tavern“ in Manhattan werden vier Menschen getötet. Zum Anschlag bekennt sich die „Bewaffnete puertoricanische Befreiungsfront“ (Fuerzas ­Armadas de Liberación Nacional), der von 1974 bis 1983 120 Anschläge zugeschrieben werden. Im Laufe der Jahre werden mehrere Mitglieder der Organisation festgenommen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.