Des Keynesianers neue Kleider

Frankreich: Präsident Hollandes rascher Wandel

Frankreich. Der neue Präsident François Hollande nähert sich dem Spardiktat an

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Auf welche Ideen kommen Franzosen, wenn sie an Nutella denken? Die Mitglieder der „Freien Französischen Nutella-und-Brioche-Partei“ (PFLNB) setzen sich für Menschen ein, die Nutella als Sexspielzeug verwenden möchten, und kämpfen außerdem gegen die Unsitte, im Nutella-Töpfchen Brotkrümel zu hinterlassen.

Zugegeben, die PFLNB zählt laut ihrer Facebook-Seite nur 18 Mitglieder. Die große Mehrheit der Franzosen, immerhin drei Viertel aller Haushalte, schmiert Nutella wie vorgesehen im morgendlichen Halbschlaf aufs Frühstücksbrot. Und nicht zu knapp: vier Milliarden Schokoaufstrich-Brote pro Jahr, aus 105 Millionen Nutella-Bechern. Das wiederum brachte die französische Regierung auf einen Einfall: Man könnte doch die Steuer auf Palmöl, eine der Zutaten des Schokoaufstrichs, um 300 Prozent erhöhen. Palmöl sei ungesund, die Produktion ökologisch bedenklich, die Steuer somit gewissermaßen ökosanitär geboten.

Die ganze Nation verschluckte sich, als sie davon in der Morgenzeitung las. Es hagelte Proteste von allen Seiten: Bürger sahen die klebrigen Kindheitserinnerungen künftiger Generationen bedroht, ein nigerianischer Think-Tank die Existenz von Millionen palmölproduzierenden Afrikanern. Vergangene Woche wurde der Gesetzesvorschlag schließlich doch vorerst aus dem Menü gestrichen.

Die Zeit nach "Merkozy"
Der Unmut kommt nicht überraschend. Dass eine sozialistische Regierung ausgerechnet den Brotaufstrich des kleinen Mannes sozusagen mit Strafsteuern belegen will, ist schwer verdaulich. Aber das ist beileibe nicht der einzige Grund, warum die Franzosen ihren erst im Mai dieses Jahres gewählten Staatspräsidenten François Hollande und dessen Regierung unter Premierminister Jean-Marc Ayrault bereits jetzt satthaben und warum die europäische Linke recht verzagt nach Paris blickt, von wo aus doch eine befreiende Revolte ausgehen hätte sollen: ein Aufstand gegen das konservative Spardiktat, dem der gesamte Kontinent unterworfen war.

Eine Rückblende.Das Jahr 2011 war die große Zeit eines merkwürdigen Zwitterwesens namens „Merkozy“. Die politische Allianz des ungleichen Duos Angela Merkel und Nicolas Sarkozy – sie die bieder auftretende deutsche Kanzlerin, er der Jetset-affine französische Staatspräsident – bestimmte die Politik der Europäischen Union. Mitten in der Eurokrise hatten die beiden zueinandergefunden und diktierten fortan auf EU-Gipfeln den anderen Partnern die jeweils vorab in Zweisamkeit verabredeten Beschlüsse.

Diese kreisten immer um dieselben Inhalte: Austerität, Ausgabenkürzungen, Sparen im Allgemeinen. Ein Höhepunkt Merkozy’scher ­Wirtschaftspolitik war die Schaffung des ­Europäischen Fiskalpakts, eines Vertragswerks, das 26 EU-Staaten (ohne Großbritannien) dazu zwingt, die Neuverschuldung und den Gesamtschuldenstand des jeweiligen Staatshaushalts zu limitieren. Das war ein eindeutig konservatives Rezept zur Krisenbewältigung, und entsprechend heftig rumorte es in der europäischen Linken, doch es gab niemanden im Kreis der EU-Regierungschefs, der Merkozy die Stirn bieten konnte.
Dann kam François Hollande und mit ihm der Aufstand gegen die Ära der Austerität – dachte man. Die Anhänger einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik sahen in dem blassen Franzosen den Anführer einer lange ersehnten Wende.

Hollandes Sieg bedeute „das Ende von ‚Merkozy‘, der französisch-deutschen Achse, die in den vergangenen zwei Jahren das Austeritäts-Regime vollstreckt hat“, jubelte Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger und Kolumnist der „New York Times“. Das britische Magazin „The Economist“ hielt Hollande für einen potenziellen „Führer der Achse des Wachstums“, versah diesen Titel jedoch ein wenig zweifelnd mit einem Fragezeichen. Der ­deutsche Wirtschaftspublizist Wolfgang Münchau prophezeite auf „Spiegel online“, Hollande werde als „Merkels erster echter Widersacher“ den von der Kanzlerin „vorgegebenen Konsens in der Fiskalpolitik beenden“ und „vermutlich den gerade beschlossenen Fiskalpakt aufkündigen“.

Hollandes rare Entgegnungen
Die Zeichen standen auf Sturm, die Fronten waren eindeutig: sparen versus investieren, angebotsorientierte Politik versus nachfrageorientierte Politik, rechts versus links. Seitdem ist gerade mal ein halbes Jahr vergangen, und der Match-Bericht kann geschrieben werden – mit einer kleinen Unwägbarkeit: Es ist nicht ganz sicher, ob François Hollande überhaupt angetreten ist. Denn über die von ihm geforderten Maßnahmen sprach er nach der Wahl nur noch sehr selten, und mittlerweile sind fast alle in Vergessenheit geraten.

Die Eurobonds etwa, also gemeinsame Staatsanleihen, die von der Gemeinschaft der EU- (oder der Eurostaaten) ausgegeben werden und für die kollektive Haftung gelten würden, kamen über das Debattenstadium nie hinaus. Sie wären eine Möglichkeit gewesen, neue Schulden zu vergemeinschaften und dadurch billiger zu machen. Die konservativ-liberale deutsche Regierung wittert darin die Gefahr, dass dies einen neuen Anreiz schafft, die Defizite wieder ungehemmt galoppieren zu lassen. Was entgegnet Hollande? Nichts mehr.

Der Fiskalpakt, dessen Ratifizierung Hollande zu verweigern versprach, wenn er nicht abgeändert und um einen Wachstumspakt erweitert würde, gilt weiterhin wie von Merkozy erdacht. Nicht nur das: François Hollande hat auch namens seiner Regierung bekräftigt, die strengen Sparbestimmungen, die darin enthalten sind, eisern zu befolgen.
Die Wachtumsinitiativen, die Hollande zur Bedingung für seine Zustimmung zum Fiskalpakt machen wollte, fielen hingegen so zart aus, dass sie keine messbare Wirkung zeigten.

Von Keynesianismus keine Spur
Was ist passiert? War Hollandes linke Rhetorik Scharlatanerie? Nein. Seine Credibility als Umverteiler ist ungefährdet. Er wies seine Regierung an, einen Einkommensteuersatz von 75 Prozent auf Höchstverdiener einzuführen und die Vermögensteuern drastisch anzuheben. So weit, so sozialistisch. Doch im Herbst dieses Jahres setzte sich eine bittere Einsicht durch: Das Ziel, das Budgetdefizit entsprechend den Vorgaben des Fiskalpakts in den Griff zu bekommen, ist so nicht zu halten. Die Lösung: Austerität, ohne das verhasste Wort auszusprechen. Die Regierung beschloss eine Anhebung der Mehrwertsteuersätze, obwohl ein Regierungssprecher noch Ende September geschworen hatte, es gebe „kein solches Projekt, der Fall ist klar“.

Zur Anhebung von Massensteuern gesellt sich noch ein Sparprogramm, das alle Ministerien mit Ausnahme der Ressorts Bildung, Justiz und Sicherheit betrifft. Auch das Kulturbudget des Staats, eine heilige Kuh der französischen Sozialisten, wird gesenkt – immerhin um 3,2 Prozent. Das habe keine Regierung seit den 1980er-Jahren gewagt, rechnete „Le ­Monde“ vor.

Hollande liest Krugman, das hat sein wirtschaftspolitischer Sprecher bestätigt. Doch von Keynesianismus und antizyklischer Finanzpolitik findet sich im französischen Budget keine Spur. Wären da nicht Reichensteuern und gesellschaftspolitische Reformen wie die Einführung der Homoehe, die den links-progressiven Charakter deutlich machen – die Spardoktrin würde einer konservativen Regierung alle Ehre machen. Aber auch so haben Hol-
lande und sein Premier Ayrault bereits nach ungewöhnlich kurzer Zeit das Vertrauen der Wähler verloren. Die Umfragedaten weisen nur noch eine Minderheit der französischen Bevölkerung als regierungstreu aus.
Weshalb hat Hollande so rasch klein beigegeben? Warum setzte er sich nicht an die Spitze der anschwellenden Protestbewegung, die den Austeritätskurs zum Teufel wünscht? Wieso bildete er nicht mit Italiens Mario Monti, Griechenlands Antonis Samaras und Spaniens Mariano Rajoy die „Achse des Wachstums“?

Hollande im Merkel-Kostüm
Der französische Präsident, der in seinem Land angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse nahezu uneingeschränkte Macht genießt, musste wohl einsehen, dass die prekäre wirtschaftliche Lage Frankreichs keinen großen Auftritt in Europa zulässt. Der Verlust des Triple-A in der Kreditbewertung von Standard & Poor’s wurde Freitag vergangener Woche bestätigt, Moody’s stufte Frankreich ebenfalls herab – der Ausblick jeweils: negativ. Der Internationale Währungsfonds warnt Frankreich vor einem Zurückfallen hinter Italien und Spanien, kritisiert die enorm hohen Arbeitskosten und beanstandet die kaum noch steigerbare Steuerquote.
Mit diesem Image kann Hollande das Steuer in Europa nur schwer herumreißen. Er muss vielmehr froh sein, dass die Finanzmärkte ihr gefürchtetes Misstrauen noch nicht in steigenden Kreditzinsen für französische Staatsanleihen ausdrücken.

Wer immer die missliche Lage Frankreichs thematisiert, wie kürzlich das britische Magazin „Economist“, wird von ­Paris beflegelt: Arnaud Montebourg, Minister für Produktivitätsbelebung, verglich das hochseriöse Magazin, das sich Derartiges erlaubt hatte, mit einem Satireblättchen.
Das Schicksal von François Hollande als Anführer einer keynesianischen Revolte ist zumindest vorerst besiegelt. Er muss stattdessen ein Angela-Merkel-Kostüm überziehen, das Büßerkleid der Austerität gewissermaßen.
Damit fehlt auch den Demonstranten, die in Athen, Rom, Madrid und Lissabon gegen den nationalen und europaweiten Sparkurs auf die Straße gehen, eine politische Leitfigur. Hollande als Repräsentant der Sozialistischen Partei Frankreichs, die weiter links steht als andere europäische Sozialdemokraten, hätte den Part geben sollen, jetzt ist er unpässlich. Die Austeritäts-Phalanx hat gesiegt, niemand bietet ein Gegenmodell an.

Nur selten ergeben sich Gelegenheiten, den deutschen Sparefrohs eine Koalition der Freigebigen entgegenzusetzen – etwa als im Sommer die Entscheidung anstand, ob die Europäische Zentralbank Staatsanleihen kaufen darf oder nicht. Da blieb Deutschland mit seiner ablehnenden Haltung ganz allein.

Dieser Tage wiederum macht sich Hollande bei den EU-Budgetverhandlungen an der Seite der Südländer dafür stark, dass der Kohäsionsfonds nicht gekürzt wird. Doch dabei geht es nicht um tektonische Verschiebungen oder einen tatsächlichen Politikwechsel in Europa, sondern eher um Partikularinteressen und Tauschgeschäfte.
Bleibt Europa also fest im Schraubstock der Austeritätspolitik?
Ja. Selbst ein – relativer – Sieg der SPD bei den deutschen Bundestagswahlen im kommenden Jahr würde daran vermutlich wenig ändern. SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider warf der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP vergangene Woche vor, sie hätte die Neuverschuldung des Bunds längst auf null drücken müssen. „Sie haben das nicht geschafft, und das ist Ihr Versagen!“, wetterte Schneider im Bundestag. Das klingt nicht nach Keynes.

Nur wenn die bisherigen Rezepte zur Krisenbewältigung scheitern sollten – und das auch allgemein so gesehen würde –, bekämen die Kritiker eine Chance. Doch das kann sich erstens niemand wünschen, zweitens hätten Hollande und Co ihre Glaubwürdigkeit als Anti-Austeritäts-Helden dann bereits verspielt, und drittens sieht es derzeit gar nicht mal so schlecht aus: Ende vergangener Woche deuteten Frühindikatoren zumindest für die Wirtschaftslokomotive Deutschland auf eine leichte Konjunkturerholung in den kommenden Monaten hin.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur