„Herr und Frau Niemand“

„Herr und Frau Niemand“: Ein weithin unbekanntes Paar soll die EU vertreten

Ein weithin unbekanntes Paar soll die EU vertreten

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Auf diese simple Frage waren die vier EU-Spitzenpolitiker nicht vorbereitet: Wen von ihnen US-Präsident Barack Obama denn im Falle des Falles anrufen solle, wollte ein Journalist auf der Gipfel-Pressekonferenz in Brüssel am vergangenen Donnerstagabend wissen. Der eben ernannte Präsident des Europäischen Rats, Belgiens Premierminister Herman Van Rompuy, kam dem EU-Vorsitzenden Fredrik Reinfeldt, EU-Kommissionschef Jose Manuel Barroso und der neuen Hohen Vertreterin für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, zuvor. „Ich warte schon gespannt auf den ersten Anruf von Präsident Obama“, beendete der 62-jährige Van Rompuy die peinliche Stille.

Doch trotz erster freundlicher Kommentare aus Washington gab es überwiegend kritische Reaktionen auf die Wahl von zwei weitgehend unbekannten Politikern für zwei neue EU-Top-Positionen. „Herman van what“ und „Catherine who“ spotteten britische Massenblätter über das überraschend schnell von den 27 Staats- und Regierungschefs ernannte Führungsduo. Die spanische Zeitung „El Mundo“ ortete die EU „ohne Steuermann und ohne Kurs“. Und die italienische „Corriere della Sera“ erkannte in der Entscheidung, „einen Herrn und eine Frau Niemand mit den beiden Top-Jobs“ zu betrauen, „zwei Schritte Europas in Richtung Bedeutungslosigkeit“.

Das wochenlange Rätselraten um die Postenvergabe wurde am Donnerstagabend zunächst in der „Ständigen Vertretung“ Österreichs in Brüssel beendet. Bundeskanzler Werner Faymann hatte acht sozialdemokratische Kollegen und Parteichefs zu einem Vorgespräch über die Besetzung des künftigen „EU-Außenministers“ eingeladen. Das „Geheimtreffen“ blieb nicht lange geheim. Dutzende Journalisten belagerten die Botschaft, vor allem Italiener, die noch an eine Kür des früheren Premierministers Massimo D’Alema glaubten. Doch dieser kam gar nicht in die engere Wahl.

Der britische Premierminister Gordon Brown hatte geschickt taktiert. Wochenlang hatte er für seinen Amtsvorgänger Tony Blair als neuen EU-Ratspräsidenten geworben. Nun ließ er ihn fallen und begnügte sich mit dem außenpolitischen Posten für die bisherige britische EU-Außenhandelskommissarin Catherine Ashton. Die 53-jährige Baroness wurde von Blair und Brown gefördert und saß vor ihrer Entsendung nach Brüssel dem britischen Oberhaus vor. Sie verfügt über keine Erfahrung in der Außen- und Sicherheitspolitik, schaffte aber heuer als EU-Kommissarin die Beilegung von zwei langjährigen Handelskonflikten mit den USA über Hormonfleisch- und Bananenimporte in die EU sowie ein Handelsabkommen mit Südkorea.

Die Herrenrunde der Sozis wollte mit der Kür einer Frau für die Nachfolge des Spaniers Javier Solana auch auf die wachsende Kritik reagieren, dass für die neue EU-Kommission von 27 Mitgliedern erst vier Frauen nominiert worden waren. Nach dieser Entscheidung ging es beim Gipfeltreffen der 27 EU-Granden überraschend schnell. Beim Abendessen (Pilze mit Seebarsch, danach Schokomousse) wurde der schon zuvor stets als Favorit gehandelte belgische Premierminister Herman Van Rompuy zum neuen EU-Ratspräsidenten gekürt, ein etwas farbloser, aber stets um Konsens bemühter Politiker.

Kurz hatte der neue griechische Premier Papandreou den Luxemburger Jean-Claude Juncker vorgeschlagen, aber der schwedische Vorsitz ließ keine Debatte mehr zu. Zuvor hatte der Brite Gordon Brown seinen Widerstand gegen den Belgier aufgegeben, weil eine Britin „EU-Außenministerin“ wurde. Ein typischer EU-Deal. Brown und seine Kollegen müssen bis auf Weiteres nicht fürchten, dass ihnen der Belgier die Show stehlen wird. Van Rompuy verlas vor Journalisten ein wenig steif seine vorbereitete Rede. „Meine persönliche Meinung ist völlig untergeordnet. Es ist völlig egal, was ich denke. Meine Rolle besteht ­darin, nach dem Konsens zu suchen“, erklärte der als etwas schrullig geschilderte Politiker, der gern Kurzgedichte („Haikus“) schreibt.

Die schärfste Kritik an Europas neuem Führungspaar kam vom französischen Grünen-Chef Daniel Cohn-Bendit: „Damit hat Europa den Tiefpunkt erreicht. Die EU-Staats- und -Regierungschefs haben ihre Politik der Schwächung der europäischen Ins­titutionen fortgesetzt. Von nun an kann es eigentlich nur noch besser werden.“

Belgiens früherer EU-Kommissar Louis Michel brach im Gespräch mit profil dagegen eine Lanze für den Flamen: „Er ist ein hundertprozentiger Pro-Europäer und viel stärker, als man glaubt. Er macht kleine Schritte, die sind dann aber fest.“ Auch EU-Diplomaten wiesen darauf hin, dass ein starker EU-Ratspräsident wie der frühere britische Premier Tony Blair die Union rasch gespalten hätte. Rompuy und Ashton stünden dagegen für Konsens in der EU-Familie. Die Wahl des Belgiers bedeutet außerdem, dass kleinere Länder in der EU auch in Zukunft gleichberechtigt mitreden können.
„Ich gehöre zu den Menschen, die wissen, dass Persönlichkeiten in Aufgaben ­hineinwachsen können“, verteidigte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel den einstimmig erfolgten Gipfel-Beschluss.

Freilich sind die Aufgaben im Vertrag von Lissabon vor allem für den EU-Ratspräsidenten nicht genau definiert. Eigentlich sollte Rompuy den bislang alle halben Jahre wechselnden EU-Ratsvorsitz ablösen. Doch einzelne Länder übernehmen auch weiterhin abwechselnd eine Führungsrolle: 2010 kommt Spanien an die Reihe, wobei Premierminister José Luis Zapatero sein Programm schon weitgehend fertig hat. Im zweiten Halbjahr ist Belgien am Ruder, eine glückliche Fügung, denn Rompuys Nachfolger wird dem belgischen Ratspräsidenten wohl eher den Vortritt lassen.

Bundeskanzler Faymann zeigte sich über die Wahl hocherfreut. Van Rompuy sei „seriös und durchsetzungsfähig“. Bei einem Besuch in Wien habe er die Initiative der Bundesregierung für Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen begrüßt. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi zeigte sich indessen von der Personalauswahl entsetzt: „Catherine Ashton gewählt? Wer ist das? Eine Baronin? Ich kenne sie nicht. Es ist unglaublich. Ich bin schockiert.“