Sommersprossen und Boxkämpfe

Michael Köhlmeier: Sommersprossen und Boxkämpfe

Literatur. Michael Köhlmeiers monumentaler jüngster Roman

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Daheim bei Frau und Herrn Diktator. Über glühenden Kiefernzapfen brutzeln Thüringer Bratwürste, dazu wird Bier aus einer Magdeburger Brauerei gereicht. Die Sonne scheint, und es ist windstill – ideale Bedingungen für ein Federballturnier. Für das Wohl der Gäste ist gesorgt im Bungalow des Staatsoberhaupts und der Ministerin; Erich und Margot Honecker geben sich Mitte der 1980er-Jahre die Ehre, veranstalten einen privaten Empfang in ungezwungener Atmosphäre. Die First Lady haucht dem Stasi-Chef Erich Mielke „großväterlicher Barbar“ ins Ohr, worauf sich der angesprochene Apparatschik an einem Trinkspruch versucht: „Stoßen wir an, dass uns der Schaum um die Ohren fliegt.“ Gegen neun Uhr macht sich die gruselige Gästeschar zufrieden auf den Heimweg. „Erich und Margot Honecker und ich saßen auf der Terrasse bei einem Glas Wein und schauten in den letzten hellen Streifen über unserer kleinen Republik“: So flüchtet sich der Ich-Erzähler aus Michael Köhl­meiers jüngstem Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ beglückt ins Idyll.

Education brutale
Setzt die Titelfigur Joel – Kennzeichen: Sommersprossen und naturwelliges Haar nebst einem Faible für Automarken, Essensgelage und Boxkämpfe – zum Schwadronieren an, ist Vorsicht geboten. In der mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ überschriebenen Erinnerungsschrift hält er, als eine Art fiktives Lebensprotokoll im Roman, Rückschau auf seine ereignisreiche, weitestgehend von Trug und Lug, Flunkereien und faustdicken Lügen bestimmte Biografie. Ein Leben, bemerkt Köhlmeiers schwatzhafter Antiheld, der selbst Namen und Geburtsdatum beliebig ändert, dauere Millionen und Abermillionen von Augenblicken. „Joel Spazierer“ versammelt viele davon: von der Kindheit des Ich-Erzählers, der eigenen, unsicheren Angaben zufolge unter dem Geburtsnamen András Fülöp zu Beginn der 1950er-Jahre in ­Budapest zur Welt kam, über die Flucht der Familie vor dem Hintergrund des Ungarn-Aufstands 1956 nach Österreich bis zu Joels Stippvisiten nach Mexiko und New York. Weite Teile des Romans sind ­Joels langjährigen Stationen in der Schweiz und schließlich in der DDR gewidmet, in der sich der Lügner als Dr. Ernst Thälmann-Koch durchschlägt, als Enkel des einstigen DDR-Heroen Ernst Thälmann, dem zahllose öffentliche Gebäude im Arbeiter-und-Bauern-Staat gewidmet waren.

Als literarischer Unterhaltungsvirtuose in bestem Sinne verlangt Köhlmeier seinem Protagonisten im Rahmen dieser éducation brutale einiges ab: Joel verdingt sich als Stricher und Straßenräuber, er bettelt, dealt, trampt ziellos durch Stadt und Land. Ihm unangenehme Zeitgenossen pflegt er kaltblütig zu exekutieren. Doch selbst diese Morde tun der Redseligkeit des Berichterstatters keinen Abbruch. Im Mittelpunkt von Joels auf über 600 Seiten ausgebreitetem Lebensgeständnis stehen neunmalkluges Fabulieren und Fantasieren, Köpenickiade und Münchhausiade, ganz nach dem Prinzip der Königstocher Scheherazade, die erzählend Nacht für Nacht versucht, das Unheil von sich abzuwenden.

Die vielen Hüte des Michael K.
Einem Autor von geringerem Format wäre dieser Stoff unter den Händen wohl zum flachen Genrebild verkommen. Michael Köhlmeier formt daraus einen Roman, der die Kunst des klassischen Erzählens feiert.
Köhlmeier, 63, präsentiert sich seit Jahren als multimedialer Literatur-Entertainer mit prall gefülltem Bauchladen (siehe Kasten). Fröhlich dilettierte er als Sänger drauflos („Oho, Vorarlberg“) und reüssierte als Rezitator, der mit rau-samtener Stimme Einschlägiges aus Weltliteratur und Bibel fürs Radio aufbereitete und anschließend in entsprechende Publikationen und Kompendien packte; die Gastgeberrolle im kürzlich abgesetzten Diskussionsformat „Club 2“ garantierte dem Drehbuchautor („Der Unfisch“, 1997) und dialektalen Nebenerwerbsliedtexter regelmäßige TV-Präsenz, die Tätigkeit als Kolumnist sicherte Aufmerksamkeit in überregionalen Medien.

Die vielen Hüte des Michael K. lenken indes von einer Tatsache ab, die im Reigen der nahezu jährlich publizierten Bücher des Autors – vom episch anmutenden ­Roman „Abendland“ (2007) über die ­sommerliche Liebesgeschichte „Madalyn“ (2010) bis zum Lyrikbändchen „Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“ (2012) – bisweilen unterzugehen droht: Köhlmeier zählt zu den wenigen Autoren des Landes, die in jener Schreibdisziplin, die den im deutschsprachigen Raum gern gepflegten ­Antagonismus von ernster und unterhaltender Literatur links liegen lässt, regelmäßig rare Könnerschaft beweisen. Seit Erscheinen seines Erzähldebüts „Der Peverl Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf“ (1982) ist Köhlmeier ein Bewunderer des lakonischen Geschichtenerzählens nach US-amerikanischer Art – im Gegensatz zu der häufig von Sprachkritik dominierten, motivisch ins Düster-Spukhafte tendierenden heimischen Literaturtradition, deren allmählich erlahmende Exzentrizität freilich immer mehr dem Klischee Platz macht.
Was sich in „Abendland“, der literarisierten Vita des fiktiven Mathematikers Carl Jacob Candoris, bereits abzeichnete, scheint in „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ nun eingelöst. Köhlmeier verzichtet in seinem jüngsten Roman auf die Geschlossenheit der Fabel und erweitert Joels Biografie um zahllose Binnenerzählungen. Die Sprunghaftigkeit ist hier Programm. „Ich gerate in meiner Geschichte durcheinander“, versucht sich Joel vergebens zu disziplinieren – „ein Bienenschwarm an Gedanken und kein Plan, wohin ich die Waben meiner Erinnerung bauen soll und will“.

In dieser Hommage an die Faszinationskraft des ungezügelten Erzählens, in der sich nicht zufällig die Namen von Don Quixote und Mark Twain finden, den Säulenheiligen von literarischer Flunkerei und Abenteurerei, überwiegt die Möglichkeitsform. Die Fäden des Konjunktivischen durchziehen den Roman, der zudem von Genies der Exaltation bevölkert wird. Ein Kleindealer glaubt ab „23 Uhr 37 an Gott“; ein Senegalese führt auf Reisen stets ein Chamäleon mit sich, das binnen Stunden alles im Hotelzimmer frisst, was sich bewegt und kleiner als ein Daumennagel ist. Karl Pauker, der historisch verbürgte Leiter von Stalins Leibwache, spielt ebenfalls eine Nebenrolle: Pauker wurde von Stalin als Augenzeuge zu Todesprozessen entsandt, in der Absicht, dem Despoten später die schiere Verzweiflung der zu Unrecht Angeklagten gestisch und mimisch darzustellen. Einmal erstickte Stalin dabei fast vor Lachen, worauf der Tyrann Paukers Exekution anordnete, weil dieser, so der bis zur Trottelhaftigkeit großmäulige Joel, „eine Technik des Witzes“ entwickelt habe, die „nachweislich zum Totlachen“ führen könne. Monty Python lassen grüßen.
Joel Spazierer versucht, seine Leser, an die er sich im Verlauf seiner zuweilen einen Tick zu sehr dem Detail verpflichteten, partout ins Epische verlängerten Chronik wiederholt wendet („Merken Sie es?“), in ein Spiegelkabinett aus Lügen und Schein zu locken. „Ich möchte unter keinen Umständen meine Person verleihen und sie in einen Romanhelden umbauen lassen“, versucht Joel, ein wenig unbeholfen, die Faktizität der von ihm verbreiteten Begebenheiten zu bekräftigen. Er habe jeden Tag gelebt, so der habituelle Schwindler weiter. „Als gäbe es die Möglichkeit beliebig vieler Korrekturen“, rätselt Joel – und setzt dabei, angestiftet von Fabuliermeister Köhlmeier, die Räder der nar­rativen Wundermechanik in Gang.

Infobox
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Agentenepisoden, biblische und altägyptische Erzählungen, Gutenachtgeschichten, dazu Traumreste und Berichte über Banküberfälle und halsbrecherische Bootsfahrten: In „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ bedient sich Michael Köhlmeier zahlloser literarischer Genres und Motive, um die Existenz seines Protagonisten in Form einer losen Chronik wiederzugeben. In Joels Leben scheinen Wahrnehmung, Handlung und Gedankenfluss oft ineinandergeblendet. „Die Wirklichkeit ist ein endloses Gewebe von Sinnhaftem und Sinnfremdem“, bemerkt Joel an einer Stelle. „Ersteres adeln wir mit dem einsamen Begriff Wahrheit, für Letzteres haben wir unzählige Worte zur Verfügung.“ Literarische Unterforderung, deren erklärtes Ziel die oberen Bestsellerränge sind, bietet Köhlmeier in seinem jüngsten Roman kaum. Spazierer bleibt bis zu seinem bitteren Ende ein unübertroffen paradoxer Protagonist: Obwohl er prahlerisch behauptet, in mindestens einem halben Dutzend Sprachen kleine freundliche Unterhaltungen führen zu können, erweist er sich bald als fast stummes Sprachgenie. Ja. Nein. Weiß nicht: Mit diesen Begriffen meistert Joel die Mehrzahl seiner vielen Gespräche und Konflikte. Ein Makel, von dem bislang nur wenige Köhlmeier-Helden betroffen waren.

In Werken wie „Dein Zimmer für mich allein“, „Der Unfisch“ (beide 1997), „Calling“ (1998), „Der traurige Blick in die Weite“ (1999), „Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war“ (2002) und „Roman von Montag bis Freitag“ (2004) frönten Köhlmeiers Figuren eher der gepflegten Plauderei. In „Nachts um eins am Telefon“ (2005) telefonierte der Erzähler in langen Gesprächen nach Mitternacht mit Freund und Feind. In seinem Opus magnum „Abendland“ (2007) wie­derum verflocht der Autor virtuos die Biografie eines Naturwissenschafters mit der deutschen und österreichischen Nachkriegsgeschichte, mit zeitlichen Ausläufern ins 19. Jahrhundert und ins Amerika der Gegenwart. „Das Bedürfnis, zu erzählen und erzählt zu bekommen, kann nicht gebrochen werden, es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, weil es Arbeit am Selbstbildnis ist“: So versuchte Michael Köhlmeier seine Poetik des Erzählens, die er in „Abendland“ und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ zu hoher Meisterschaft geführt hat, zu definieren. „Diese Arbeit schließt freilich Menschenliebe als unabdingbare Voraussetzung mit ein. Denn in den Spiegel wollen wir nur schauen, wenn wir lieben, was wir dort sehen.“

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer. Hanser, 653 Seiten, EUR 25,60

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.