Stilgenie, Anarchistin, Lügnerin

Stilgenie, Anarchistin, Lügnerin: Die vielen Leben der Modeikone Coco Chanel

Die vielen Leben der Modeikone Coco Chanel

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Am Morgen des 10. September 1944, zwei Wochen nach der Befreiung von Paris, klopften zwei bewaffnete Männer an die Tür von Gabrielle Chanels Zimmer im Hotel Ritz. Vier Jahre zuvor hatte „Mademoiselle“, so der Ehrfurchtstitel innerhalb ­ihres Imperiums für die zeitlebens Unverheiratete, ihr Ritz-Appartement zugunsten der dort Einzug haltenden NS-Bonzen räumen und mit einer kleineren Bleibe vorliebnehmen müssen. Ein Alltag mitten unter der braunen Elite hatte sie damals nicht sonderlich gestört: „Demnächst werden sowieso alle Hotels besetzt sein, da kann ich ja gleich hier bleiben.“ Die beiden Männer forderten die berühmteste Modeschöpferin der Welt, damals bereits 61, auf mitzukommen. „Auf wessen Befehl“, kläffte Chanel, deren Stimme durch lebenslanges Kettenrauchen mehr wie die eines Bierkutschers klang. „Im Auftrag des Säuberungskomitees“, antworteten die Männer. Chanel griff nach ihrer Tasche und ihren Straußenlederhandschuhen, denn selbst im Zustand der Demütigung wollte sie ganz comme il faut gekleidet sein. Sie beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, denn im Schrank hatte sich Serge Lifar, ein russischer Tänzer, versteckt, der sich während der Okkupation stets damit gebrüstet hatte, dass Hitler ihm Avancen gemacht hätte (später sollte er erzählen, dass er Hitlers Nähe ausschließlich deswegen gesucht habe, um ihn umzubringen). „Sie gab sich wie eine Königin, wie Marie Antoinette auf dem Weg zum Schafott“, erzählte Lifar Chanels Biografen Axel Madsen.

Gabrielle Chanels langjährige Liaison mit dem zweitrangigen Nazi-Spion Hans Günther von Dincklage, den sie sich auch noch nach Kriegsende im Schweizer Exil „leistete“, ihr Versuch, aus der Emigration ihrer jüdischen Geschäftspartner Kapital zu schlagen, und ihre naive Besessenheit, mithilfe ihrer Bekanntschaft mit dem britischen Premier Winston Churchill zwischen dem NS-Regime und den Alliierten ein vorzeitiges Ende des Kriegs zu erwirken, ­werden in der französischen Rezeptionsgeschichte gerne marginal gehalten oder gänzlich ausgeklammert. Das französische Nationalheiligtum und die Säulenheilige der Pariser Couture als Nazi-Kokotte und braune Kollaborateurin diffamiert zu sehen verträgt sich schlecht mit dem Chauvinismus der „Grande Nation“. Das Jahr 2009 steht in Frankreich ganz im Zeichen der Chanelmania. Im vergangenen Mai vor genau hundert Jahren hatte Coco Chanel den Grundstein für ihre spätere Moderevolution gesetzt, als sie in der Pariser Wohnung ihres Gönners und zeitweisen Geliebten Etienne Balsan, im Hauptberuf Erbe und Pferdenarr, ihre von schockierender Schlichtheit geprägten Hutkreationen fertigte. Ihre Rebellion gegen einen von Üppigkeit und „Froufrou und Chichi“, so Chanel, verunstalteten Zeitgeschmack, der die Frauen „wie Torten in der Auslage eines Konditors aussehen lieߓ, durchlebte das Schicksal jeder von Erfolg gekrönten avantgardistischen Bewegung. Chanels schlichte, dekorfreie Strohhüte, die tief nach unten gezogen getragen werden sollten, erregten die Pariser Boheme und erste Gesellschaft mit ihrer klaren Strenge so sehr, dass sie bald zum „Dernier Cri“ avancierten. Nach den Hüten revolutionierte sie den Rest der damaligen Mode. Sie stürzte die Diktatur des Korsetts, entwarf weich fließende Kleider und Jacken aus bislang unbekannten Materialien wie Jersey; steckte die Frauen in Abendanzüge und Bouclé-Kostüme und wilderte für ihre Kreationen bei der Arbeitskleidung des einfachen Volks. Ringelshirts, wie sie die Matrosen trugen, oder weite, dunkle Jacken, wie sie die bretonischen Fischer bei stürmischem Wetter anhatten, fanden ebenso Eingang in ihre Kollektionen wie die von Kolonial-Militärs inspi­rierten Jodphurhosen oder Tweedmäntel und Sakkos im Stil britischer Jäger. „Ich habe dem Körper der Frauen seine Freiheit zurückgegeben“, resümierte sie diesen Bruch mit dem Jahrhundertwendepomp, der sich im kulturhistorischen Rückblick als größter Befreiungsschlag in der Modegeschichte erweisen sollte.

Anarchistin. Sie sei eine Anarchistin, erzählte sie später dem Schriftsteller Paul Morand – dessen Erinnerungsband „Die Kunst, Chanel zu sein“ (bei Schirmer Graf) jetzt wiederaufgelegt wurde –, „deren tiefer Drang zur Zerstörung und zum Neuanfang“ sie eher zufällig in die Mode geführt hätte: „Ich habe nicht die Kleider geliebt, sondern die Arbeit. Mir ging es nicht darum, zu schaffen, was mir gefiel, sondern erstmal darum, zu beseitigen, was mir nicht gefiel.“ Die Notizen zu dem Buch entstanden 1946 in St. Moritz, während Chanels Schweizer Exil, und zeichnen sich durch Chanels nachlässigen Umgang mit der Wahrheit aus. Der Vater, ein promiskuitiver Hausierer, zu dem sie nach dem Abschub ins Waisenhaus keinerlei Kontakt mehr hatte, war dort nach Amerika emigriert; die Mutter war angeblich an der Schwindsucht gestorben, die ihre Tochter offensichtlich für die elegantere Krankheit hielt – in Wahrheit waren es Asthma und Erschöpfung gewesen. Das Buch erschien erstmals 1976, fünf Jahre nach Chanels einsamem Tod im Alter von 87 Jahren in ihrer Ritz-Suite – der noch dazu an einem Sonntag stattgefunden hatte. Der Sonntag war ihr immer der verhassteste Wochentag gewesen – an Sonntagen pflegte sie sich zeit ihrer Couture-Karriere tödlich zu langweilen, weil sie an diesem Tag keine Näherinnen, Zuschneiderinnen und Mannequins in der Rue Cambon tyrannisieren konnte. Ebenso wie bei zahlreichen anderen Biografen, die oftmals angesichts Chanels sturen Mäanderns durch die Realität entnervt das Handtuch warfen, verlor Chanel auch bei Morand keinen Kommentar über ihre Arrangements mit dem NS-Regime und ihr Verhältnis zu „Spatz“, wie sie ihren dreizehn Jahre jüngeren NS-Beau gerne nannte. Auch in den zwei aktuellen französischen Kinofilmen, die rechtzeitig zum Jubiläum in Frankreich starteten, wird Chanels NS-Opportunismus nicht berührt: Anne Fontaines geschönter Blick auf die frühen Lebensjahre der Chanel mit Audrey Tautou in der Titelrolle sowie „Coco und Igor“ vom niederländischen Regisseur Jan Kouen, wo Chanels kurzes und intensives Verhältnis mit dem damals bankrotten russischen Komponisten Igor Strawinsky um 1920 abgehandelt wird, dem sie mitsamt Frau und Kindern in ihrem südfranzösischen Domizil Zuflucht ­gewährte. Die Liaison gönnte sie sich, um sich vom Tod ihrer großen Liebe, „Boy“ Capel, des britischen Lebemanns und frühen Chanel-Mäzens, zu erholen, der auf dem Weg zu seiner Frau nach Cannes 1919 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Igors Coco spielt die Oscar-dekorierte Piaf-Darstellerin Anna Mouglalis.

Der französische Historiker Patrick Buisson stieß mit seinem kürzlich erschienenen Buch „1940–1945: Années erotiques“ in ein bisheriges Tabu der französischen Geschichtsforschung: „Die Liebesverhältnisse der französischen Frauen mit den Nazis unterlagen bei uns bislang einer kollektiven Amnesie.“ Während die einfachen Frauen, die sich mit Hitlers Soldaten eingelassen hatten, im Zuge der Säuberungsaktionen unter Charles de Gaulle sehr wohl dem Volkszorn ausgesetzt wurden, indem man ihnen öffentlich die Haare schor und sie durch die Straßen trieb, blieb die kulturelle Elite, die sich der „horizontalen Kollaboration“ schuldig gemacht hatte, weitgehend verschont. Neben Coco Chanel blieb auch die Schauspielerin „Arletty“, Star des Filmklassikers „Kinder des Olymp“, trotz des erotischen Verrats ungeschoren. „Beide waren Ikonen des Vorkriegs-Frankreichs“, so Buisson. „Öffentlich zu machen, dass sie sich dem Aggressor an den Hals geworfen haben, hätte vor allem den Nationalstolz verletzt.“

Das Verhör an jenem 10. September 1944 sollte drei Stunden dauern. Chanel wurde ein Foto von ihrem Geliebten Hans Günther von Dincklage, dem als deutschem Botschaftsangestellten getarnten NS-Geheimdienstler, gezeigt. Ob sie den Mann kenne? Sie nickte. Seit zwanzig Jahren. Was nicht der Wahrheit entsprach: Chanel hatte den Auslandsspion, der das Polospiel und sämtliche Gesellschafts­tänze bravourös beherrschte, wahrscheinlich erst 1941 kennen gelernt. Doch die Wahrheit hatte bei Chanel ohnehin zeitlebens Schwiegermutterstatus. Sie war für eine Mythomanin ihres Kalibers zu banal, zu deprimierend und zu langweilig. Ob sie sich mit ihm sexuell eingelassen hatte? Laut Cecil Beaton, dem britischen Glamour-Fotografen, soll Chanel so geantwortet haben: „Meine Herren, von einer Frau meines Alters kann man nicht erwarten, dass sie sich den Pass zeigen lässt, wenn sie die Möglichkeit hat, einen Geliebten zu finden.“ Das klang sehr Chanel-authentisch.

NS-Opportunistin. Die Tochter eines Hausierers aus der Auvergne, die ihre nach neun Geburten völlig entkräftete Mutter im Alter von zwei Jahren verloren hatte und in Waisenhäusern aufgewachsen war, hatte es als Geliebte wohlhabender, kultivierter Männer über die Jahre in den Domänen des eleganten Sarkasmus und des hüftgeschleuderten Aphorismus zur Meisterschaft gebracht. Laut Protokollen des US-Geheimdiensts soll sie sich in diesen drei Stunden darauf berufen haben, im Gegensatz zu den Couturiers wie Madame Grès, Balen­ciaga und Lucien Lelong ihr Modehaus bei Kriegsausbruch sehr wohl geschlossen zu haben, während die anderen munter die Bonzengattinnen eingekleidet hatten. Was sie verschwieg, war, dass der Verkauf ihres 1921 lancierten Dufts „Chanel Nr. 5“, den sie in Zusammenarbeit mit dem Hofparfümeur des russischen Zaren, Ernest Beaux, kreiert hatte, durch die deutschen Soldaten, die sich in der Rue Cambon dafür in Schlangen anstellten, florierte wie schon lange nicht mehr. Auch aus den Arisierungsgesetzen hatte Chanel, die versierte Opportunistin, eilig Kapital zu schlagen versucht. 1924 hatte sie mit den Gebrüdern Pierre und Paul Wertheimer, den jüdischen Besitzern von Frankreichs größtem Parfüm- und Kosmetikhersteller, einen Vertrag abgeschlossen. Als die mit 70 Prozent an der Chanel-Produktion beteiligten Wertheimers 1940 aus Frankreich fliehen mussten, wollte Coco Chanel sofort einen neuen „arischen“ Geschäftsführer installieren und die arisierten Anteile für sich vereinnahmen. Die Wertheimers waren jedoch schneller und beauftragten von den USA aus einen Nazi-genehmen Strohmann mit der Weiterführung der Geschäfte. Da sie in den USA weiter den legendären Duft verkauften, ohne mit der Erfinderin abzurechnen, einigten sich Chanel und die Parfüm-Brüder nach dem Krieg hinter den Kulissen.

Das filmreifste Kapitel in Coco Chanels facettenreichen NS-Verstrickungen ist jedoch die „Operation Modellhut“. Beflügelt durch ihre frühere Bekanntschaft mit Winston Churchill und auf dringende Bitte von Dincklages Vorgesetztem Walter Schellenberg, reiste Chanel in Begleitung einer Freundin 1943 nach Madrid, wo sie den aus Teheran erwarteten Churchill abpassen sollte. Schellenbergs Plan, die berühmte Geliebte seines Untergebenen als Vermittlerin einzusetzen und den Krieg zu beenden, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Churchill erkrankte auf dem Weg nach Madrid an einer Lungenentzündung und blieb in Tunis. Chanel jedoch, verführt von der Möglichkeit, den Weltenlauf entscheidend mitbestimmen zu können, war noch im April 1944 auf Schellenbergs Befehl nach Berlin gereist, um persönlich Rapport von der gescheiterten Mission zu geben. All das verschwieg Coco Chanel bei ihrer Einvernahme und auch den Rest ihres Lebens. Nach ihrem Verhör wurde Chanel entlassen – angeblich auf Intervention von Winston Churchill. 1947 flüchtete sie in die Schweiz, denn der Hass der französischen Presse wurde für sie unerträglich. Erst 1954 sollte ihr ein Comeback in Paris gelingen. In St. Moritz und in ihrer Villa oberhalb von Lausanne setzte sie ihr Techtelmechtel mit „Spatz“ fort; Schellenberg, der die Nürnberger Prozesse überlebte, wurde 1951 freigelassen. Er wurde von Chanel finanziell unterstützt – wahrscheinlich fand sich deswegen kein Wort über die Operation Modellhut in seinen Memoiren. Dem Schriftsteller Paul Morand hatte Coco 1946 folgenden Satz an den Kopf geworfen: „Wer wäre ich denn, mein Geheimnis zu enthüllen und mich euch zu erklären, ich denke gar nicht daran.“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort