Projekt „China Targets“

Der Interpol-Trick: Wie China internationale Auslieferungsverfahren ausnutzt

Wenn China jemanden ins Land zurückholen möchte, werden offenbar alle Hebel in Bewegung gesetzt: vom Interpol-Auslieferungssystem bis zur persönlichen Kontaktaufnahme durch einen Milliardär. Teil zwei einer Investigativ-Kooperation über Chinas geheime Auslands-Strategien.

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Frühjahr 2021 am Flughafen von Bordeaux: Der reiche chinesische Geschäftsmann H. reist standesgemäß per Privatjet an. Doch dann die böse Überraschung – quasi aus heiterem Himmel nimmt ihn die französische Polizei in Gewahrsam.

Zu seinem Erstaunen erfährt H., dass er auf der roten Liste der mächtigsten Strafverfolgungsorganisation der Welt steht: Interpol. Diese weltweite Polizei-Kooperation hat ein schlagkräftiges System etabliert. Jeder Mitgliedsstaat kann behördlich gesuchte Personen einmelden, die sich im Ausland befinden. Die anderen Mitgliedsstaaten sollen diese dann schnappen, falls sie dort auftauchen. Ein wichtiges System, um flüchtige Verbrecher dingfest zu machen – aber auch eines, das ausgenutzt werden kann. Und zwar dann, wenn Mitgliedsstaaten ihre Auslieferungsbegehren auf ungerechtfertigte Vorwürfe stützen.

System kann ausgenutzt werden

Im konkreten Fall ließ China, das Heimatland von H., den Geschäftsmann via Interpol suchen. Interpol stellte auf Wunsch Chinas eine seiner gefürchteten Fahndungsausschreibungen aus – eine „Red Notice“. Diese „Red Notice“ sorgte dafür, dass H. in Frankreich festgesetzt wurde, wo in der Folge ein dortiges Gericht über seine Auslieferung entscheiden sollte. Da erhielt H. einen unerwarteten Anruf, der durchaus gewisse Zweifel an der rechtsstaatlichen Motivation der chinesischen Justiz wecken könnte.

Am anderen Ende der Leitung war ein alter Freund und Geschäftspartner von H.. Einer, den man auf der ganzen Welt kennt: Jack Ma, Gründer der Internetplattform „Alibaba“, die gerne als das „Amazon“ Chinas bezeichnet wird. Ma gilt als einer der reichsten Chinesen überhaupt.

Milliardär als Behörden-Unterhändler?

Einem Transkript des Telefonats zufolge soll Ma gesagt haben, er würde auf Geheiß der chinesischen Behörden anrufen, welche auf die sofortige Heimkehr von H. ausseien. Ma soll demnach im Gespräch mit H. bestätigt haben, dass die Behörden auf ihn zugegangen seien: „Sie sagten, ich sei der Einzige, der dich zur Rückkehr bewegen könne.“ Zusätzlich zum offiziellen Auslieferungsweg sollte nun offenbar an einer schnelleren, quasi freiwilligen Rückkehr von H. gearbeitet werden.

Die Interpol-Auslieferungspraxis wird von Kritikern schon länger als missbrauchsanfällig angesehen. Wie eine internationale Investigativ-Kooperation unter der Leitung des „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ) nun zeigt, nutzt auch China dieses System, um – mitunter aufgrund fragwürdiger Vorwürfe – Personen im Ausland habhaft zu werden. Es handelt sich dabei um eine von mehreren Strategien Chinas, Durchgriff auf Landsleute außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu erlangen.

Investigativ-Projekt „China Targets“

In den vergangenen zehn Monaten haben insgesamt 104 Journalistinnen und Journalisten von 43 Medienhäusern aus 30 Ländern intensiv zu diesen Strategien recherchiert – darunter auch profil. Beteiligt sind unter anderem der britische „Guardian“, die „Washington Post“, „Le Monde“ und das deutsche Investigativ-Büro „Paper Trail Media“. In Österreich berichtet – neben profil – auch die Tageszeitung „Der Standard“ über die Recherche unter dem Projektnamen „China Targets“ (sinngemäß übersetzt: chinesische Ziele).

Neben der UNO in Genf, wo chinesische Schein-NGOs Debatten zum Thema Menschenrechte beeinflussen und Kritiker unter Druck setzen, steht auch Interpol im Fokus der Recherche. Dies nicht zuletzt, weil das Auslieferungssystem der Polizeiorganisation eine unmittelbare und extrem starke Wirkung entfalten kann.

„Red Notice“

Eine „Red Notice“ ist zwar kein direkter Haftbefehl, jedoch eine weltweite Aufforderung an Strafverfolgungsbehörde, eine gesuchte Person zu finden und vorübergehend festzunehmen. Ob jemand tatsächlich eingesperrt wird, hängt zwar von den lokalen Gesetzen im jeweiligen Land ab. Faktisch erfolgt jedoch in vielen Fällen eine massive Einschränkung des Aktionsradius.

Die Fahndungsausschreibungen erfolgen auf Wunsch jenes Interpol-Mitgliedsstaates, der die Auslieferung begehrt. Dort muss zwar eine entsprechende Anordnung der Justizbehörden vorliegen. Das macht das System aber noch lange nicht sicher gegen Missbrauch. Schließlich gibt es Staaten – vor allem solche mit einer autoritären Führung – in denen die Justiz der Politik folgt und nicht umgekehrt. Interpol hat eine eigene Task-Force eingerichtet, um zu überprüfen, ob beantragte Ausschreibungen den Regeln entsprechend. Auch das garantiert aber offenbar keine hunderprozentige Sicherheit vor ungerechtfertigter staatlicher Verfolgung.

Erfundene Vorwürfe?

Zurück zum chinesischen Geschäftsmann H., dessen Fall das ICIJ und die französischen Partnermedien „Radio France“ und „Le Monde“ anhand von Gerichtsunterlagen aufgearbeitet haben. Die „Red Notice“ gegen H. basierte demnach auf Vorwürfen in Zusammenhang mit mutmaßlicher Veruntreuung und Geldwäsche. H., der das immer bestritten hat, ging jedoch davon aus, dass es den chinesischen Behörden in Wahrheit darum gegangen sei, ihn als Zeuge in einem Korruptionsverfahren gegen einen hochrangigen Ex-Politiker zu befragen.

Das soll der Geschäftsmann – dem Telefon-Transkript zufolge – auch Milliardär Ma mitgeteilt haben. „Ich denke, du hast keine andere Wahl“, soll Ma daraufhin gesagt haben: „Jetzt geben sie dir eine Chance. Wenn du nicht zurückkommst, werden sie dich definitiv vernichten.“ H. ging nicht auf das fragwürdige Angebot ein. Später lehnte eine französisches Gericht die von China begehrte Auslieferung ab, die Fahndungsausschreibung wurde aus dem Interpol-System gelöscht.

H. wollte sich zur Angelegenheit nicht äußern, Ma ließ eine ICIJ-Anfrage unbeantwortet.

Nicht nur Kriminelle im Visier

Wie die Recherchen in Zusammenhang mit dem Projekt „China Targets“ zeigen, handelt es sich bei der Causa H. durchaus um keinen Einzelfall. Schon vor rund einem Jahrzehnt hat Chinas Präsident Xi Jinping damit begonnen, öffentlich eine stärkere internationale Strafverfolgung jener zu fordern, die er als korrupte Staatsbürger im Ausland bezeichnet. Seit damals hat China das Interpol-System jedoch nicht nur genutzt, um Kriminelle ins Visier zu nehmen, sondern auch Geschäftsleute mit politischen Connections, Regimekritiker und Mitglieder verfolgter religiöser Minderheiten. Interpol wiederum kann sich bis heute nicht wirklich dazu durchringen, Mitgliedsstaaten, die das System missbrauchen, öffentlich zur Verantwortung zu ziehen.

ICIJ und mehrere Partnermedien haben mit acht Personen gesprochen, die von China via „Red Notice“ ins Visier genommen worden waren, und umfangreiches Aktenmaterial gesichtet: darunter Dokumente aus Auslieferungsverfahren, vertrauliche Entscheidungen einer internen Interpol-Kontrollkommission und andere Schriftstücke. Insgesamt erhielten die Recherchepartner daraus tiefe Einblicke in fast fünfzig Fälle seit dem Jahr 2016.

Geschäftsleute, Uiguren, Falun Gong

Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Die meisten Betroffenen haben erst entdeckt, dass sie offiziell im Visier der Behörden standen, als sie bei einer Grenzkontrolle angehalten wurden. Unter ihnen fanden sich: wohlhabende Geschäftsleute, die in der Folge angaben, wegen ihrer Kritik an der Regierungspolitik verfolgt zu werden; Menschenrechtsaktivisten aus der von Peking unterdrückten Volksgruppe der Uiguren, die betonten, ungerechtfertigterweise als Terroristen abgestempelt worden zu sein; ein Politiker aus einer Kleinstadt, der aussagte, in seiner Heimat auf der schwarzen Liste gelandet zu sein, nachdem er Korruption in der kommunistischen Partei aufgedeckt hatte; und drei Unternehmer, die – ihren Angaben zufolge – verfolgt würden, weil sie „Falun Gong“ angehören, einer religiösen Bewegung, die ihn China verfolgt wird.

Nun lässt sich auf den ersten Blick nicht immer erkennen, was an der jeweiligen Verteidigungslinie dran ist. Es könnte sich auch um eine Ausrede handeln. Was jedoch auffällt: Das häufigste offizielle Argument für „Red Notices“ durch China ist der Vorwurf von Wirtschaftsstraftaten. Eine solche Verdachtslage ist für Behörden in anderen Länder meist viel schwieriger nachzuvollziehen als etwa ein Gewaltverbrechen.

Gleich mehrmals festgenommen

Dem nach Vietnam ausgewanderten politischen Aktivisten Gao Jianhuan zum Beispiel wurde vorgeworfen, im Jahr 2017 drei chinesische Staatsbürger betrogen zu haben. Als er 2023 nach Ecuador fliegen wollte, endete die Reise abrupt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er auf Basis einer „Red Notice“ festgenommen wurde. Gao durfte gehen, als die chinesischen Behörden ein Auslieferungsbegehren gegen ihn nicht weiterverfolgten.

Damit war die Sache aber noch nicht gegessen. Fünfzehn Monate später wurde der Aktivist erneut festgesetzt – diesmal in Benin, und zwar auf Basis derselben „Red Notice“ und obwohl eine interne Interpol-Kontrollkommission gerade dabei war zu prüfen, ob sein Name aus dem System gelöscht werden sollte. Diesmal machte Peking ernst: Gao wurde nach China deportiert.

200 Tage im Gefängnis

Ein weiterer Fall spielt in Italien: Dort verbrachte eine frühere Managerin eines Kreditinstituts mehr als 200 Tage im Gefängnis, nachdem sie im Jahr 2022 am Flughafen von Ancona festgenommen worden war. Offizieller Vorwurf: das illegale Absaugen öffentlicher Einlagen.

Die Frau bestritt die Vorwürfe. Wie aus Gerichtsunterlagen hervorgeht, gab sie gegenüber der italienischen Justiz übrigens auch an, dass die chinesischen Behörden ihren Bruder in China festgenommen hätten, um sie zur Rückkehr zu zwingen. Letztlich wies ein italienisches Gericht das Auslieferungsbegehren zurück, weil der Frau unmenschliche und ungerechte Behandlung drohen könnte. Sie erhielt fast 50.000 Euro Haftentschädigung vom italienischen Staat, wie ihr Anwalt dem ICIJ mitteilte.

Interpol: „Robuste Prozesse“

Ted Bromund, ein Experte in Bezug auf Interpol, meint, die internationale Polizeiorganisation sei ins Zentrum von Chinas Kampagne der sogenannten transnationalen Repression – also der Verfolgung von Staatsbürgern im Ausland – gerückt. Interpol sei ein wichtiges Instrument, um Personen unter Druck zu setzen. Bromund vergleicht die Nutzung von „Red Notices“ durch China mit einer Nadel, die man durch einen Schmetterling sticht: „Sie hält jemanden an Ort und Stelle, er kann nicht mehr weg.“

Ein Interpol-Sprecher erklärte auf ICIJ-Anfrage, die Polizeiorganisation wisse, dass „Red Notices“ ein starkes Instrument für die Kooperation bei der Strafverfolgung seien. Man sei sich der potenziellen Auswirkungen auf die Betroffenen vollkommen bewusst. Deshalb gäbe es robuste – laufend überprüfte und auf den neuesten Stand gebrachte – Prozesse, um sicherzustellen, dass das System angemessen genutzt werde. Die Erst-Entscheidung, eine „Red Notice“ zuzulassen, könne allerdings nur auf Basis der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen basieren.

Die chinesische Botschaft in Washington betonte auf ICIJ-Anfrage allgemein, die chinesische Regierung halte sich strikt an internationales Recht und an die Souveränität anderer Staaten. Konkrete Fragen zu Interpol blieben unbeantwortet.

Fast 500 Personen via Interpol ausgeforscht

China ist – aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – zweitgrößter Beitragszahler bei Interpol nach den USA. Eigenen Angaben zufolge hat Peking im Laufe des vergangenen Jahrzehnts Interpol dazu genutzt, zumindest 479 Personen zu finden, festzunehmen und zurückzubringen. Besonders leicht läuft die Zusammenarbeit mit Ländern, die Auslieferungsabkommen mit China geschlossen haben. Manche Staate, wie etwa die USA, nehmen Personen nicht ausschließlich auf Basis einer derartigen Fahndungsausschreibung fest. Andere Länder schon – darunter etwa auch Italien und Frankreich.

Österreich: Keine Auslieferungen, einzelne Rechtshilfe-Fälle

Das österreichische Justizministerium (BMJ) teilt auf Anfrage mit, dass es in den vergangenen zehn Jahren, keine Auslieferungen an China gegeben und China auch keine entsprechenden Ersuchen gestellt habe. Anders gelagerte Rechtshilfeersuchen würden „auf Basis der Gegenseitigkeit“ gestellt. Die Erledigung erfolge anhand der Gesetze, in denen auch Ablehnungsgründe angeführt seien. Unter anderem müsse die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention beachtet werden sowie eine allfällige politische Motivation der Strafverfolgung. Die österreichischen Behörden hätten „in wenigen Einzelfällen“ Rechtshilfeersuchen Chinas erledigt. Darin sei es „um Zeugenvernehmungen, Bank- und Firmenbuchauskünfte“ gegangen.

„Nachgeordnete Dienststellen und auch das BMJ“ hätten in den vergangenen zehn Jahren auf Expertenebene „immer wieder Fachdelegationen“ aus China empfangen, lässt das Ministerium wissen. „Diese Treffen dienten dem Informationsaustausch zu justizspezifischen Fragestellungen“, wird erläutert. Beisatz: „Vor solchen Treffen klären wir mit dem BMEIA (Anm.: das Außenministerium) die außenpolitische Opportunität ebendieser ab.“

Justiz kann mitunter also auch eine politische Dimension haben – vor allem, wenn es um autoritäre Regime wie China geht.

Stefan Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.