#NARCOFILES

High-Way: Auf der Drogenroute von Bogota nach Wien

Das internationale Milliardengeschäft mit Suchtgift verändert sich stark. In Bezug auf Kokain wächst die Rolle der EU-Länder, deren Seehäfen ein Einfallstor für Schmuggel und Hotspot der Gewalt sind. Auch in Österreich machen sich Clans breit. Alarmierende Ergebnisse einer globalen Recherche.

Drucken

Schriftgröße

Erwin H. sieht ein bisschen verschroben aus. Seine türkise Brille trägt er an einem Band um den Hals, die Enden seines Schnurrbarts hat der 58-Jährige zusammengezwirbelt. Ganz in schwarz gekleidet sitzt H. am Donnerstag vergangener Woche in einem Verhandlungssaal am Landesgericht Ried im Innkreis. Es geht um schwerwiegende Vorwürfe: Bei einer Hausdurchsuchung Ende Juni sind bei H. fast 700 Gramm Kokain gefunden worden, seither sitzt er in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm nicht nur Drogenbesitz, sondern auch die Vorbereitung von Suchtgifthandel vor – in „exorbitant großen Mengen“, wie die Staatsanwältin sagt.

H. ist kein unbeschriebenes Blatt. Schon zwei Mal ist er wegen Kokainhandels zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. In der Vergangenheit haben ihm mehrere Rotlichtlokale gehört. Er pflegte geschäftliche Verbindungen zum Rockerklub „Bandidos“ und zu Vertretern der rechtsextremen Szene im Innviertel.

Überschlagsmäßig beträgt der Straßenverkaufswert des sichergestellten Kokains 70.000 Euro, auf einem Bankkonto von H. seien „enorme Bewegungen“ zu verzeichnen gewesen, bemerkt der Richter. Der Angeklagte möchte zu all dem nichts sagen, schon im Ermittlungsverfahren hat er die Aussage verweigert. Sein Anwalt erklärt, dass sich H. zum Besitz, nicht jedoch zum Handel der Drogen schuldig bekenne. Am Ende verurteilt der Richter den Angeklagten zu einer zweijährigen – vorerst nicht rechtskräftigen – Haftstrafe. Dabei ortete das Gericht sehr wohl auch Vorbereitungstätigkeiten zum Suchtgifthandel.

Fälle wie jener von H. sind in Österreich keine Seltenheit. Oft stehen sie am Ende einer langen Kette krimineller Handlungen, die sich von Lateinamerika quer über den Atlantik spannt, in den gigantischen Container-Häfen der EU-Knotenpunkte bildet, um dann über versteckte Hinterhof-Labors und ausgeklügelte Schmuggelwege den Kontinent umschlingt. Eine unsichtbare Kette, die Drogenbarone und Gangs, ausgebeutete Kokain-Köche und jene kleinen Fische, die den illegalen Stoff am Ende auf die Straße bringen, aneinanderbindet. Das Geschäft mit Suchtgift – insbesondere mit Kokain – blüht wie kaum jemals zuvor. Und es verändert sich auf eine höchst beunruhigende Art und Weise.

Projekt „NarcoFiles“

profil ist Teil einer weltweiten Recherchekooperation unter dem Namen „NarcoFiles: The New Criminal Order“. Das länderübergreifende Investigativprojekt befasst sich mit organisiertem Verbrechen auf einer globalen Ebene, mit neuen Entwicklungen in diesem Bereich, mit seinen Nebenerscheinungen und mit jenen, die diese Form der Kriminalität bekämpfen. Geleitet wird das Projekt vom „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) in Partnerschaft mit dem „Centro Latinoamericano de Investigación Periodística“ (CLIP). Ausgangspunkt war ein Leak von E-Mails der kolumbianischen Staatsanwaltschaft. Mehr als vierzig Medienpartner auf der ganzen Welt haben das Material geprüft und mit Informationen aus Hunderten anderen Dokumenten, Datenbanken und Interviews untermauert. In Österreich berichten neben profil auch der Investigativpodcast „Die Dunkelkammer“ sowie „Der Standard“.

Ein besonders beunruhigendes Ergebnis dieser Recherche-Kooperation: Das Kokain-Business wandelt sich – und breitet sich aus. Bis vor nicht allzu langer Zeit konzentrierte sich der Anbau von Koka-Pflanzen im industriellen Stil noch auf Kolumbien, Peru und Bolivien, heute reicht er weit nach Zentralamerika hinein. Im Kokainhandel mischen nun deutlich mehr Gruppierungen mit als noch vor zehn Jahren. Und Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft – auch das illegale.

Die Drogenbarone und neuen Gangs haben erkannt, dass es wirtschaftlich günstiger ist, näher an den Abnehmern zu produzieren. Deswegen entwickelten sich Länder in Zentralamerika wie Guatemala, Honduras oder Mexiko, die früher eher als Stationen auf Schmuggelrouten gedient hatten, zu lukrativen Anbaugebieten weiter. Mittlerweile wurden nachgelagerte Teile des mehrstufigen Produktionsprozesses aber auch über den Atlantik hinweg ausgelagert – nach Europa. Kolumbianische Kartelle, Clans und Gangs exportieren neben Drogen nun auch noch ihr Personal und ihre Expertise im Bereich der Weiterverarbeitung. Dies zeigen zusammengeführte Recherchen von OCCRP und den NarcoFiles-Projektpartnern „El Universal“, „Plaza Pública“, „Agencia Ocote“, „Ojoconmipisto“, „Narcodiario“, „Follow the Money“, „Knack“ sowie CLIP.

Drogen-Reitschule

Juli 2020: Vor dem Pferdestall einer Reitschule im niederländischen Ort Nijeveen hält ein Bus mit getönten Scheiben. Dem Fahrzeug entsteigt eine Gruppe Kolumbianer. Diese sind nicht gekommen, um Reiten zu lernen. Im Stall haben ihre Auftraggeber – eine kriminelle Gruppierung aus der Region – das größte Kokainlabor eingerichtet, das niederländischen Ermittlern jemals unterkommen sollte. Einer späteren Anklage zufolge war die Drogenküche darauf ausgelegt, bis zu 200 Kilo Kokain pro Tag zu produzieren.

Den Kolumbianern wurden bei der Ankunft die Handys abgenommen. Die Tür wurde hinter ihnen versperrt, wie sie später aussagten, und sie verbrachten – der niederländischen Staatsanwaltschaft zufolge – die folgenden zehn Tage damit, Kokain zu extrahieren, zu verarbeiten und zu verpacken. Geplant gewesen sei die riesige Menge von einer Tonne.

Die Einrichtung eines solchen Drogenlabors kostet Geld: Aus Kolumbien sollen darum mehr als 1,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden sein. Die Auslagerung nach Europa hat System. Anders als in Südamerika sind die notwendigen Chemikalien für die Weiterverarbeitung hier leicht erhältlich. Kokain wird in unterschiedlicher Form geschmuggelt – etwa gemischt mit geschmolzenem Plastik oder aufgelöst in einer Flüssigkeit, mit der dann Kleider und andere Materialen vor dem Transport imprägniert werden.

Später muss die reine Droge aus dem Transportmaterial wieder herausgelöst werden. Das ist eine der Aufgaben derartiger Labors. In Nijeveen zum Beispiel wurde die Kokainbasis zunächst aus Kohle extrahiert und dann kristallisiert. Derartige Schmuggelmethoden sind schwer zu entdecken, aber sie bergen für die Verbrechersyndikate auch Risiken: Geht man bei der Rückgewinnung nicht richtig vor, erhält man nur einen Bruchteil des Kokains zurück – oder ruiniert gar die gesamte Lieferung. Ein Experte der niederländischen Polizei geht davon aus, dass die Kolumbianer, die für die Arbeit in den Laboratorien nach Europa gebracht werden, oft dieselben sind, die das Suchtgift zuvor in ihrem Heimatland in entsprechenden Trägermaterialen versteckt haben. Diese wüssten am besten, wie man das Kokain zurückgewinnen kann.

Mittlerweile gibt es allerdings auch in Europa Drogenküchen, die in den eigentlichen Produktionsprozess von Kokain eingebunden sind. Im heurigen Jahr hob die spanische Polizei ein Labor aus, in welchem das Suchtgift direkt aus der sogenannten Kokain-Basispaste – eine Art Vor-Produkt, das aus den Koka-Blättern gewonnen wird – hergestellt wurde und nicht aus einem Trägermaterial für den Schmuggel. Da die Paste billiger ist als das fertige Kokain, können die Gangs auf diese Weise ihre Verluste reduzieren, wenn doch einmal eine Lieferung vom Zoll abgefangen wird. Die spanischen Behörden rechnen damit, dass sich diese Vorgehensweise alleine aus ökonomischen Gründen exponentiell ausbreiten werde.

Belgien, die Niederlande und Spanien gelten als Hotspots der Weiterverarbeitung in der EU. Alleine in den Niederlanden hat die Polizei seit 2018 mehr als 60 Drogenküchen ausgehoben.

Im Mai 2022 verwiesen Europol und die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) darauf, dass sich die EU immer mehr zum Umschlagplatz für Kokain und Methamphetamin (vulgo: Crystal Meth) entwickle: „Die Produktion wird jetzt auch in Europa ausgeweitet, was auf Veränderungen in der Rolle der Region im internationalen Kokainhandel hinweist“, heißt es im Bericht. EMCDDA-Chef Alexis Goosdeel sprach von einem „Rekordniveau bei der Verfügbarkeit von Drogen, zunehmender Gewalt und Korruption und sich verschlimmernden Gesundheitsproblemen“.

Kokain gilt nach Cannabis als meist konsumierte illegale Droge in der EU. Für das Jahr 2020 wurde der Markt für Kokain in der Europäischen Union im Bericht mit insgesamt mindestens 10,5 Milliarden Euro beziffert. Schätzungsweise hätten 14 Millionen Europäer im Alter von 15 bis 65 Jahren die Droge zumindest ausprobiert. Der wachsende Wettbewerb unter den Drogenanbietern habe in einigen Ländern eine Zunahme an gewalttätigen Auseinandersetzungen, Morden und Entführungen mit sich gebracht.

Der Handel ist von Gewalt geprägt, der Produktionsprozess von Ausbeutung. Jene, die nach Europa geschickt werden, um in geheimen Labors zu arbeiten, sind nicht die, welche am Ende des Tages die Milliardenprofite einstreifen. Sie werden hingegen von den Gangs mehr oder minder wie Leibeigene behandelt.

Kolumbianische Köche

Das spanischen NarcoFiles-Partnermedium „Narcodiario“ konnte unter dem Siegel der Anonymität mit einem kolumbianischen Kokain-Koch sprechen, der in der Nähe von Madrid tätig war und dort ein sechsköpfiges Team leitete. Für eine „Einheit“ Kokain – üblicherweise eine Bezeichnung für Kilogramm – erhielt der Mann gerade einmal 450 Euro. Ein Bruchteil des Verkaufswerts. Warum macht er diese illegale Arbeit? „Es ist das, was wir gut können“, sagt der Drogenkoch. „Ich wurde in einer Region geboren, wo das die alltägliche Arbeit jeder Familie ist. Man lernt mit Koka zu arbeiten, bevor man lesen oder schreiben kann.“

Der Mann erzählt, er sei von einem Freund für den Job in Europa empfohlen worden. Vor der Reise habe die kolumbianische Gang seinen Reisepass verlangt und die Flüge arrangiert. „Ich musste nur nach Cali fahren, wo mir eine Reiseagentur Flugtickets von Bogota nach Paris und von Paris nach Portugal gab. Man reist als Tourist.“ Von Portugal ging es weiter nach Madrid. Dort sei er spät in der Nacht abgeholt und zu einem Bauernhof auf dem Land gebracht worden, wo er 15 Tage verbracht und im Labor gearbeitet habe. Die Dämpfe seien intensiv gewesen: „Man muss hinausgehen um durchzuatmen. Aber wir sind schon ziemlich daran gewöhnt.“ Sie hätten nicht mit der Außenwelt kommunizieren dürfen und in Gemeinschaftsräumen mit Stockbetten geschlafen, erzählt der Mann.

Die Arbeit in derartigen Labors kann gefährlich sein. Im März 2020 flog eine Drogenküche in den Niederlanden in die Luft. Die Explosion machte einer ganzen Schafherde den Garaus und verpestete im Umkreis die Luft und den Boden. Dennoch erbringen die Kokain-Köche ihre Dienste für die Gangs gegen relativ wenig Geld. „Sie sind die armselige Basis eines kriminellen Geschäfts, das Milliarden Euro an Profiten abwirft“, sagt ein spanischer Ermittler zu OCCRP.

Katz-Maus-Koks

Dass insgesamt immer mehr Kokain nach Europa kommt, zeigt sich auch an den beschlagnahmten Mengen: Laut Europol wurden 2020 und 2021 jeweils mehr als 200 Tonnen aus dem Verkehr gezogen. Ein Jahrzehnt zuvor waren es nur 49 Tonnen gewesen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die große Differenz alleine aus verbesserten Ermittlungsmethoden ergibt. Letztlich können Drogenfahnder immer nur einen Teil aufspüren. Ein belgischer Staatsanwalt sagt gegenüber OCCRP: „Zwischen kriminellen Organisationen und Gesetzeshütern läuft ein niemals endendes Katz-und-Maus-Spiel.“

Kulminationspunkt sind die großen Seehäfen der EU: vor allem Rotterdam, Antwerpen und Hamburg. In Schiffscontainern versteckt, gelangt das Suchtgift hier tonnenweise nach Europa. Ein Fall aus den Niederlanden zeigt, dass Banden dazu auch die Computersysteme der großen Häfen infiltrieren. Jene IT-Systeme, in denen im Zeitalter voranschreitender Automatisierung die entscheidenden Informationen zusammenlaufen.

OCCRP und das tschechische NarcoFiles-Partnermedium „investigace.cz“ haben unter Mitwirkung der belgischen Plattform „Knack“ und des Radiosenders „Interferencia de Radios UCR“ aus Costa Rica den Fall von Davy V. im Detail nachgezeichnet. Der Niederländer war den Ermittlungsbehörden seines Heimatlandes ins Netz gegangen, nachdem diese es geschafft hatten, die verschlüsselte Kommunikations-Plattformen „SkyECC“ zu knacken, die in großem Maße von Kriminellen genutzt wurde. Die Chats offenbarten, dass Davy V. als Hacker im Auftrag von Verbrechern in der Hafen-IT von Rotterdam und Antwerpen unterwegs gewesen sein dürfte.

Hafen-Hacker

Einem niederländischen Gericht zufolge, war Davy V. unter anderem dazu in der Lage, zu beobachten, wie Schiffscontainer gescannt werden. Auf diese Weise soll er den Schmugglern geholfen haben herauszufinden, wo man das Suchtgift im Container am besten verstecken kann, damit es nicht gefunden wird.

Drogen werden gern zwischen legaler Ware versteckt. Der Absender weiß oft gar nicht, dass seine Ladung zum Schmuggel missbraucht wird. In diesem Fall müssen die Banden freilich dafür sorgen, dass sie im Zielhafen vor dem – ebenfalls nichts ahnenden – Empfänger Zugriff auf den Container erhalten. Davy V. beschrieb seine Services potenziellen Kunden gegenüber via SkyECC. Dazu gehörte, dass der Hacker die Abholung von Containern mit heißer Fracht im Hafen von Rotterdam so umorganisieren könne, dass die Drogengangs diese mittels gefälschter Dokumente einfach mitnehmen könnten.

Doch nicht nur in Rotterdam, auch im Computersystem des Hafens von Antwerpen soll Davy V. sein Unwesen getrieben haben. Dort soll eine Hafenmitarbeiterin mit 10.000 Euro bestochen worden sein, um einen mit Schadsoftware präparierten USB-Stick an einen Arbeitscomputer anzustecken. In einem Chat schrieb V. an einen mutmaßlichen Mittelsmann: „Keine Sorge, ich mache das schon seit ein paar Jahren.“ Tatsächlich dürfte V. auf diese Weise Zugang zum Container-Management-System des Antwerpener Hafens erlangt haben.

V. wurde wegen zwei großer Schmuggelversuche via Rotterdam zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ob der mutmaßliche Hacker dagegen Rechtsmittel eingelegt hat, ist nicht bekannt. Vor Gericht hatte der Mann behauptet, dass er lediglich Undercover-Recherchen für ein Videospiel zum Drogenhandel angestellt und seinen kriminellen Kunden nur schlechte Informationen verkauft habe. Das Gericht sah das jedoch als „völlig unplausibel“ an.

Clash of Clans

Der rege Suchtgiftschmuggel und die zunehmende Konkurrenz zwischen Gangs führt unweigerlich zu Gewalt – nicht nur in Hafenstädten, sondern auch in Österreich. Wie so vieles hierzulande beginnt auch diese Geschichte mit einem Schnitzel. Wobei: Eigentlich beginnt sie mit einem Haufen gestohlenen Kokains. Das Schnitzel und Ćevapčići aus Menschenfleisch (dazu später mehr) sind eher nur die Beilage. Aber von vorne.

Am 21. Dezember 2018 sitzen Vladimir R. (32) und Stefan V. (22) im Wiener Traditionsrestaurant Figlmüller. Erster Gemeindebezirk, dunkles Holz, kultige Atmosphäre. Es gibt Schnitzel, dafür ist Figlmüller über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Was die beiden nicht ahnen: Für einen von ihnen wird es die letzte Mahlzeit sein.

Vor dem Lokal werden Vladimir und Stefan angeschossen. Der Schütze zielt auf ihre Köpfe – Stefan überlebt den Angriff, Vladimir nicht. Die Bluttat hält Österreichs Medien in Atem. Bald stellt sich nämlich heraus, dass die beiden Schussopfer zum Kavač-Clan gehörten, einer der größten Drogen-Banden auf dem Westbalkan und in Europa.

Vladimir R. war erst zwei Wochen vor seiner Ermordung in Belgrad aus der Haft entlassen worden. Doch dass er wieder draußen war, erzählte er kaum jemandem. Nicht einmal engste Familienmitglieder sollen davon gewusst haben. Es ist nicht auszuschließen, dass er versucht hat, sich in Wien zu verstecken.

Sein Mörder hat ihn am Ende trotzdem gefunden. 185 Zentimeter groß, ein Mann Anfang Dreißig. Und mutmaßliches Mitglied des Škaljari-Clans. Die Ermittlungen in der Causa laufen bis heute.

Der Kavač-Clan und der Škaljari-Clan sind so etwas wie Erzfeinde. Beide haben ihren Ursprung in der montenegrinischen Region um die Stadt Kotor. Zwischen den Ortschaften Kavač und Škaljari liegen nur sieben Minuten Autofahrt; grüne Hügel, enge Kurven, viele Olivenbäume. Vor nicht allzu langer Zeit gehörten beide Clans noch zur selben Organisation, schmuggelten als solche Kokain von Südamerika nach Europa. Als im Jahr 2014 aber 200 Kilogramm des weißen Pulvers in Valencia verschwanden, spalteten sie sich im Streit.

Seitdem herrscht zwischen den Clans Krieg. Die serbische Rechercheplattform KRIK und „Radio Free Europe“ haben in den vergangenen zehn Jahren 193 Mordfälle im serbisch-montenegrinischen Mafiamilieu gezählt. Laut OCCRP wurden mindestens 41 Menschen seit 2015 im Zusammenhang mit diesem Konflikt getötet, dazu zählt eben auch Vladimir R. in Wien. Wenn in Österreich von Organisierter Kriminalität die Rede ist, geht es meist um die zwei Clans vom Balkan. Und wenn in Österreich illegal Kokain konsumiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass eine der beiden Organisationen etwas damit zu tun hatte.

Sowohl der Škaljari- als auch der Kavač-Clan sind gleichermaßen Ausgangs- und Zielpunkt ungebremster Gewalt, die auch vor Landesgrenzen nicht Halt macht. Der Škaljari-Clan verlor im Vorjahr seinen Anführer. KRIK zufolge wurde Jovan V. von einem Motorrad aus in seinem Auto erschossen. Er versteckte sich zu dieser Zeit in der Türkei vor dem Kavač-Clan und den montenegrinischen Ermittlungsbehörden. Nur zwei Jahre zuvor war sein Vorgänger ebenfalls ermordet worden – dieser allerdings in Griechenland.

Beim Kavač-Clan geht es ähnlich zu. Erst im April 2021 wurde einer der Bosse, Slobodan K., von der montenegrinischen Polizei verhaftet. Wo sich ein zweiter Anführer, Radoja Z., zur Zeit befindet, ist unklar. Nach einer Schießerei in Kyiv im Jahr 2020 soll er untergetaucht sein. Laut OCCRP wurde der Clan-Boss fünfmal getroffen und überlebte nur, weil seine Frau die Schützen mit einer eigenen Waffe verjagen konnte. Medienberichten zufolge soll er sich mittlerweile nach Südamerika abgesetzt haben.

Den Gipfel an Brutalität legte im Jahr 2021 eine Razzia im Belgrader Vorort Ritopek offen. Dort fanden Polizeibeamte neben Waffen und Sprengstoffen einen riesigen Fleischwolf. Zwei Männer – Marko M. alias „Metzger“ und Vejlko B. alias „Vejlko der Ärger“ – hatten damit Mordopfer im Auftrag des Kavač-Clans zu Ćevapčići verarbeitet. Diesen Vorgang filmten sie und schickten Videos davon an ihre Feinde. Die Ćevapčići sollen auch von Kavač-Clan-Anführern mit Senf und Zwiebeln verspeist worden sein. In der Folge äußerte sich sogar der serbische Präsident Aleksandar Vučić zu dem „Folterhaus“ und sagte im Fernsehen: „Ich werde nicht zulassen, dass in Serbien jemand zu Ćevapčići verarbeitet wird.“

Zurück ins Land des Schnitzels: Laut Bundeskriminalamt spielen auch in Österreich Gewaltdelikte in Verbindung mit der organisierten Suchtmittelkriminalität eine bedeutende Rolle. „Was wir bestätigen können, ist, dass organisierte Tätergruppen beziehungsweise Clans aus dem Westbalkan derzeit unter anderem im Fokus der heimischen Ermittlungsbehörden stehen. Auch Österreich spielt bei derartigen Gewalttaten natürlich eine Rolle“, heißt es auf profil-Anfrage. Mehr möchte oder kann man aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen.

Und wie steht es in Österreich um den Konsum illegaler Substanzen? Diesbezügliche Anhaltspunkte liefert eine jährliche Abwasserstudie der EU-Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA zu sechs Substanzen: Kokain, Cannabis, Methamphetamin („Chrystal Meth“), Amphetamin („Speed“), MDMA und Ketamin. Mit 371 Milligramm pro 1000 Personen pro Tag liegt Wien hier im Vergleich der EU-Hauptstädte auf Platz zehn. Österreich-intern ist allerdings Kufstein mit 537 Milligramm pro 1000 Personen pro Tag der Kokaindrogen-Hotspot des Landes.

Besonders auf dem Vormarsch ist Kokain. In einer Umfrage der EMCDDA gaben mehr als sechs Prozent der österreichischen Befragten an, zumindest ein Mal in ihrem Leben Kokain konsumiert zu haben. Wobei nicht auszuschließen ist, dass die Dunkelziffer beim weißen Pulver beträchtlich sein könnte.

Über die NarcoFiles

„NarcoFiles: The New Criminal Order“ ist eine internationale Recherchekooperation mit mehr als vierzig beteiligten Medienhäusern, darunter profil. Es ist das größte Investigativprojekt zum Thema Organisierte Kriminalität, das jemals von Lateinamerika ausgegangen ist – einer besonders stark vom Drogenhandel und der damit einhergehenden Gewalt und Korruption betroffenen Region. Alle Details zum Ursprung und zur Stoßrichtung des Projekts finden Sie hier.

Dieser Beitrag steht mit umfangreichen Zusatzinhalten für den Unterricht auf WAS JETZT SCHULE zur Verfügung.
Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

ist seit Mai 2023 Redakteur im Österreich Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.

Natalia Anders

Natalia Anders

ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).

Eva  Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.