Bildmontage: Fotos: Mirco Taliercio/laif/picturedesk.com; Shutterstock

Millionen-Deals mit Russland, China und Kamerun: So lebt der meistgesuchte Spion Europas

Europas Most Wanted? Jan Marsalek doch egal. Er verkehrt mit Moskaus Elite, ist offenbar noch immer stinkreich und als Agent höchstaktiv. Er organisiert Drohnen für Russlands Ukraine-Krieg, westliche Militärgüter für China und Weizen für Kamerun.

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Jan Marsalek trifft am 19. Juni 2020 eine Entscheidung. Er steigt um 20.03 Uhr in einen Privatjet in Bad Vöslau in Niederösterreich und lässt sein altes Leben hinter sich. Um 23 Uhr Ortszeit landet die Maschine in der belarussischen Hauptstadt Minsk – und Marsalek damit in seinem neuen Leben. 

Es ist eines von Putins Gnaden. Der russische Präsident hat den Wirecard-Vorstand zu sich geholt, um ihn vor internationalen Strafbehörden zu schützen. Immerhin hat Marsalek federführend die größte Firmenpleite Deutschlands der Nachkriegsgeschichte zu verantworten. Der Ex-Wirecard-Vorstand war mehr, wie sich  herausstellen wird: Er war wohl Putins bester Spion im Westen. 

Wie läuft sein Leben auf der Flucht? Bilder zeigen, dass Marsalek in einer wohlhabenden Gegend Moskaus lebt, von russischen Geheimdiensten bewacht. Er darf dort Tennis spielen und im Teich schwimmen. Sitzt Jan Marsalek in einem goldenen Käfig, bis Putin keine Lust mehr auf ihn hat? 

Chats, die in London vor Gericht präsentiert wurden und von profil, Süddeutsche, WDR und NDR ausgewertet wurden, zeigen Gegenteiliges: Der Mann ist höchst aktiv, kümmert sich um das Geschäft des russischen Staates ebenso wie um sein eigenes – und das scheint ziemlich gut zu laufen. Auch wenn ihm ein wichtiger Geschäftspartner nun abhandengekommen ist.

12. Mai 2025, 17 Uhr. Der Gerichtssaal Nummer acht im Londoner Old Bailey, dem zentralen Strafgericht für England und Wales, ist bummvoll. Journalisten drängen sich hinten an der Wand und warten nach monatelangen Verhandlungen auf den nahenden Höhepunkt des Prozesses. Die Luft ist zum Schneiden.

Auf der Anklagebank sitzen fünf Männer und eine Frau. Der „Minion“-Bande wird Spionage für Russland vorgeworfen. Die Beweislage ist dicht. Die Polizei hat nach der Verhaftung des Anführers Orlin Roussev im März 2023 Berge an belastendem Material sichergestellt. Darunter etliche „Minion“-Plüschtiere, in die auch Kameras eingebaut waren. Daher der Name der Bande. 

Die knuffig-gelben „Minion“-Charaktere sind in den „Ich – Einfach unverbesserlich“-Animationsfilmen unfähige Handlanger des Superschurken Gru. Bei Marsalek scheint es ähnlich gewesen zu sein.

lachender minion zeigt mit dem finger

Die „Minions“

sind knuffige-gelbe Cartoon-Charaktere. In den „Ich – Einfach unverbesserlich“-Animationsfilmen sind sie die unfähigen Handlanger von Superschurke Gru. Marsaleks Spionen-Bande hat sich nach den „Minions“ benannt, weil sie in „Minion“-Plüschtiere Kameras eingebaut hatten. 

Aber Marsalek und Roussev verwenden in ihren Telegram-Chats unter anderem einen mit dem Finger zeigenden „Minion“-Sticker. Auch andere hämisch-lachende Cartoon-Figuren tauschen die beiden im Rahmen ihrer Spionage-Chats aus, um ihre Emotionen zum Ausdruck zu bringen.

Herzstück der Beweisführung der Staatsanwaltschaft sind 78.000 Telegram-Chats. Viele davon wurden der Anklage zufolge mit ihm geführt: dem flüchtigen Jan Marsalek, der die Truppe aus seinem Exil dirigierte. Richter Nicholas Hilliard erhebt sich und spricht das Urteil. Alle sechs müssen ins Gefängnis, die Haftstrafen liegen zwischen fünf und knapp elf Jahren. Eine verurteilte Frau kämpft mit den Tränen. Sie hat acht Jahre bekommen, agierte als „Honeytrap“-Agentin, die Ziele verführen sollte. Der Kopf der Bande, Orlin Roussev, ein 47-jähriger Bulgare, bekommt zehn Jahre und acht Monate. Er zeigt keinerlei Emotion, als er das Urteil hört. Er hatte Glück, es hätten auch 15 Jahre werden können. 

Die Höchststrafe hat er nur nicht bekommen, weil er Teile seiner Taten zugegeben hat. Allerdings hat er auch versucht, sich als kleiner Handlanger darzustellen – ein pragmatischer Akteur ohne ideologische Bindung zu Russland. Die Erzählung, er habe schlicht aus finanzieller Motivation gehandelt, als er Operationen in Großbritannien, Deutschland und Österreich leitete, glaubten die Strafbehörden nicht. Zu Recht, wie die Chat-Auswertung zeigt.

Roussev ist weder ein Kleinkrimineller, der das für Geld tat, noch irgendjemand. Er ist ein Mann mit besten Kontakten, offenbar auch zu den offiziellen Behörden in Bulgarien. Er ist kein Handlanger Marsaleks, sondern ein wichtiger Geschäftspartner auf Augenhöhe. Das Vorgehen der beiden: analytisch, geplant und professionell.

Marsaleks Verwandlung

Es geht um Waffen; um Drohnen für Russlands Krieg in der Ukraine; um Geschäfte mit Weizen und Diamanten in Afrika. Um eine Zusammenarbeit mit China. Um Spionage – und die Verfolgung von Journalisten. Um Mordpläne, um falsches Geld und falsche Identitäten. Aber auch um Freundschaft zwischen zwei Kriminellen: Marsalek und Roussev tauschen lachende Karikaturen aus, wenn es um den Ukraine-Krieg oder Marsaleks Verfolgung im Westen geht. Denn obwohl Wirecard pleite ist, hat der ehemalige Vorstand offenbar noch genug Spielgeld, um zwielichtige Operationen auf der ganzen Welt durchzuführen. Aber eins nach dem anderen.

Eine böse lachende Banane

Roussev und Jan Marsalek kennen einander seit 2015. Offiziell ist Marsalek Finanzvorstand bei Wirecard und Roussev ein IT-Techniker. Ihre Unternehmen arbeiten miteinander. Daneben ziehen die beiden ein Schattenbusiness in Russland hoch. Das floriert weiter, als Marsalek 2020 auffliegt und von Interpol auf die Liste der meistgesuchten Verbrecher der Welt gesetzt wird. 

Jan Marsalek hat viele Identitäten, viele Pässe – und hochrangige Netzwerke in vielen Ländern. Das ist schon zu seiner aktiven Zeit bei Wirecard so gewesen. Er flüchtet mit einem Pass aus Granada, danach benutzt er bei einem Aufenthalt in Minsk einen gefälschten österreichischen Pass auf den Namen Max Meier. In Russland wird Jan Marsalek zu Konstantin Bajasow, einem orthodoxen Priester aus Lipetsk. In einem anderen, nicht registrierten Pass, ist Jan Marsalek German Bazhenov. Er operiert unter den Namen Vitaly Malkin und Alexander Schmidt. Mit Roussev chattet er als Rupert Ticz.

Jan Marsalek

Ich gehe jetzt ins Bett. Hatte noch eine Schönheitsoperation, um anders auszusehen, und bin todmüde und mein Kopf tut weh.

Bei der Beschaffung dieser Identitäten hilft ihm sein alter Freund Roussev, wie die Chats zeigen. Manche Pässe sind gefälscht, andere echt. Marsalek braucht auch deswegen neue Identitäten, weil er sich langsam verwandelt. Am 18. Februar 2022 berichtet er: „Ich gehe jetzt ins Bett. Hatte noch eine Schönheitsoperation, um anders auszusehen, und bin todmüde und mein Kopf tut weh.“ 

Marsalek will nicht nur Pässe für sich selbst. Ende Juli 2021 erkundigt er sich bei Roussev, was es denn bräuchte, um mit gefälschten russischen Pässen Geschäfte zu machen. Die wichtigste Voraussetzung brächte er mit: „Ich habe die volle Unterstützung der Sicherheitsbehörden.“ Drucken könnte man die falschen russischen Pässe in einer „staatlichen Einrichtung“. 

Jan Marsalek

Hallo Sir, wie geht es dir?

Jan Marsalek

Ich würde gerne ein Geschäft starten, das gefälschte russische Pässe verkauft.

Jan Marsalek

Ich habe die volle Unterstützung der Sicherheitsbehörden.

Jan Marsalek

Wie würde man daran herangehen, das technisch aufzusetzen und wie würde man es verbreiten?

Jan Marsalek

Ich kann wahrscheinlich Original-Papier und Tinte von der staatlichen Druckerei kriegen, falls nötig

Jan Marsalek

Ich habe jetzt eine unglaubliche Quelle für falsche russische Pässe - sowohl nationale als als auch internationale. Die drucken tatsächlich in der staatlichen Einrichtung. 

Diverse Pässe und Identitäten sind äußerst nützlich, wenn man als einer der meistgejagten Europäer sein Geld gut verstecken und veranlagen will. Das ist für Marsalek nach der Flucht neben neuen Ausweisdokumenten offenbar prioritär. Er chattet mit Roussev über die Einrichtung von Konten bei Banken, auf Krypto-Börsen.

Wie viel Marsalek nach der von ihm verursachten Milliardenpleite persönlich noch besitzt, ist unklar – kumuliert man die Summen in den Chats, werden es schnell Millionen.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.

Anna Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil und seit 2025 auch Herausgeberin des Magazins. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.