Film

Affäre Ulrich Seidl: „Man weiß doch, wo die Grenzen liegen“

Heftige Anschuldigungen, gecancelte Weltpremiere: Seit „Der Spiegel“ dem Regisseur Ulrich Seidl vorgeworfen hat, er habe Kinder während Dreharbeiten „Gewalt und Nacktheit ausgesetzt“, spekuliert die Branche, was genau da vorgefallen sein könnte. profil hat bei Menschen nachgefragt, die dabei waren.

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Am Freitag vorvergangener Woche ließ das deutsche Wochenblatt „Der Spiegel“ eine Bombe platzen: Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl habe im Zuge der Dreharbeiten an „Sparta“, seinem jüngsten Film, rumänische Kinder, die er als Darsteller engagiert hatte, „offenbar Gewalt und Nacktheit ausgesetzt“ (profil berichtete). In einem mit durchwegs anonymen Zeugenaussagen gespickten Artikel zeichnete „Der Spiegel“ das Bild eines Regisseurs, der „Maß und Verantwortungsbewusstsein verloren“ habe: Er habe die Eltern seiner jugendlichen Schauspieler nicht ausreichend informiert, sich über behördliche Vorgaben hinweggesetzt, überhaupt sadistisch agiert.

Alle schwierigen Szenen wurden im Vorfeld sehr gut besprochen, um möglichen Vorwürfen eben gerade keinen Anlass zu geben.“

 

Andreas Donhauser, Szenenbildner für Seidls „Sparta“

Das alles schien bestens zu passen, denn im Zentrum von „Sparta“ steht ein (von Georg Friedrich gespielter) Pädophiler. Eine Woche nach Veröffentlichung des „Spiegel“-Textes cancelte die Leitung des Filmfestivals in Toronto die geplante Weltpremiere des Films. Nun muss man aber wissen, dass die von Ulrich Seidl und Veronika Franz geschriebene Produktion „Sparta“ erstens keinerlei Szenen sexualisierter Gewalt gegen Kinder enthält (das Drama des gegen seine Neigung ankämpfenden Protagonisten spielt sich in dessen Kopf ab) – und dass Seidl keineswegs dafür bekannt ist, seine Darsteller zu unliebsamen Dingen zu zwingen. Die Entrüstung ist dennoch groß, und derzeit melden sich vor allem Leute empört zu Wort, die weder den Film kennen noch Seidls Arbeitsweisen, Intentionen und Weltsichten.

Ich wäre der Erste gewesen, der Ulrich Seidl dringend nahegelegt hätte, sein Verhalten zu ändern.“

 

Wolfgang Thaler, Seidls Kameramann

Der Ruf nach Unterdrückung eines Films, den praktisch niemand noch gesehen hat und dessen Herstellungsmodalitäten kaum jemand kennt, ist nicht mehr zu überhören. In der „Berliner Zeitung“ plädierte man nun bereits dafür, den Film „vorerst nicht zu zeigen“: Die Autorin zitiert eine anonyme Ex-Assistentin Seidls, die in Rumänien Kinderdarsteller finden sollte; sie berichte davon, dass Seidl den Inhalt seines Projekts „zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unter Verschluss“ gehalten habe, auch sie selbst hatte kein Drehbuch zu lesen bekommen. Sie weigerte sich, ohne Kenntnis des Filminhalts weiterzuarbeiten: „Ulrich Seidl sagte dann zu mir, er wolle bei seiner Arbeit Menschen an ihre Grenzen bringen. Und wenn ich Berührungsängste hätte, sei ich wohl nicht richtig für das Projekt.“ Danach habe sie gekündigt.

Klaus Pridnig, der mit Ulrich Seidl seit zweieinhalb Jahrzehnten arbeitet – und im Fall von „Sparta“ unter anderem als Regieassistent und Produktionsberater tätig war –, hat im Winter 2018/19 die Herstellung von „Sparta“ begleitet. Er tritt auf profil-Nachfrage der Anschuldigung, die Eltern der Kinder hätten nicht gewusst, welches Thema der Film behandle, vehement entgegen: „Alle wussten, worum sich ‚Sparta‘ dreht. Wir haben alle Eltern selbstverständlich darüber informiert, natürlich auch klargestellt, dass kein Kind in irgendeiner Form mit Sexualität oder gar Gewalt konfrontiert wird.“ Tatsächlich zeigt der Film primär einen Protagonisten, der seine Zeit damit verbringt, Kindern Judokurse anzubieten und mit ihnen eine Art Ferienlager einzurichten.
Auch der Unterstellung seitens des „Spiegel“, man habe „offenbar ohne ausreichende Vorbereitung und angemessene Betreuung“ gearbeitet, widersprechen Seidls Mitarbeiter entschieden. Als Vertrauenspersonen, so Pridnig, habe man „eine Reihe junger Mitarbeiterinnen aus Rumäniens Theater- und Filmszene“, die schon für das Kinder-Casting zuständig gewesen seien, engagiert. „Sie begleiteten anschließend auch die Dreharbeiten als Bezugspersonen, betreuten die Kinder durchgehend.“ Für den Sommerdreh wurden zusätzlich zwei Pädagoginnen ins Team geholt. Und was gedreht wurde, sei zudem „völlig harmlos“ gewesen, stellt Pridnig noch fest: „Die Kinder spielten Fußball, machten Sport, hatten beim Dreh einen Heidenspaß, freuten sich darüber, im Zentrum zu stehen.“

„... ein Zerrbild, das in keiner Weise den Tatsachen entspricht.“

 

Ulrich Seidl in seiner Stellungnahme zu den Vorwürfen

Aber „Menschen an ihre Grenzen zu bringen“, das klingt fies. Es steht Seidls Mantra des grundlegenden Vertrauens zu all jenen, die mit ihm arbeiten, diametral entgegen. Könnte es sein, dass Seidl seiner einstigen Assistentin damals lediglich mitgeteilt hat, was er immer sagt, dass er mit seinen Filmen und den beteiligten Ensembles Grenzsituationen erforschen wolle, um die leider sehr realen Abgründe von familiärer Gewalt und übergriffigen Impulsen auszuloten? Seidl selbst, der ein ausführliches Statement auf seine Website gestellt hat, will sich zur Causa auf Anraten seines Anwalts eingehender vorerst nicht äußern.

Andreas Donhauser, der gemeinsam mit Renate Martin als Production Designer seit den späten 1990er-Jahren für den Bereich Szenenbild zuständig ist, erinnert sich an die Dreharbeiten ebenfalls ganz anders, als „Der Spiegel“ sie darstellt: Donhauser habe „die Stimmung unter und mit den Kindern und Jugendlichen als sehr gut und lustig“ empfunden, als „großen Spaß und schönes Abenteuer beim Pizzaessen und Autofahren, beim Raufen, Kämpfen und Spielen im Jugendcamp“. Tränen seien durchaus ab und zu geflossen, aber das sei beim Drehen mit Kindern normal: „Manchmal plärrt einer, weil er nicht die tolle Rüstung bekommen hat, die ein anderer gerade trägt.“

Sämtliche Szenen, „die schwierig waren oder sich schwierig entwickeln hätten können, wurden im Vorfeld sehr gut besprochen, um möglichen Vorwürfen eben gerade keinen Anlass zu geben“. Und „natürlich“, sagt Donhauser, herrsche „an jedem Film-Set aufgrund von Zeit- oder sonstigen Problemen bisweilen Stress und auch ein ‚rauer‘ Ton – wie jeder Mensch, der Filme macht, aus eigener Erfahrung weiß“. Den Kindern gegenüber habe er „einen solchen Ton aber nicht mitbekommen“.

Die Frage ist nun, was mit „Sparta“ und dessen Regisseur passieren wird, welchen moralischen Druck die (vor allem in sozialen Medien) veröffentlichte Meinung weiterhin ausüben wird. In Toronto hat man nun also, um nur ja keinen Fehler zu riskieren, bereits die Notbremse gezogen, obwohl man dort im Vorfeld betont hatte, dass „Sparta“ besonders sauber produziert worden sei: „Dieser Film wurde zusammen mit den Kinderdarstellern und ihren Familien in einer Region entwickelt und gedreht, in der dieses Problem weit verbreitet ist“, hieß es auf der Festival-Website bis Freitag früh noch. Die „vorpubertären Buben“, gespielt von lokalen Laiendarstellern, seien „Teil einer partizipativen und akribisch überwachten Produktion“, die auf „Zustimmung der betroffenen Familien“ beruhe.

Die Weltpremiere des Films könnte nun am 18. September im Rahmen des Filmfestivals im spanischen San Sebastián nachgeholt werden. Dort wolle man auf anonyme Vorwürfe und moralischen Druck nicht reagieren, heißt es: Man bewerte Festivalbeiträge „ausschließlich nach Interesse und Qualität“ und sei nicht in der Lage zu beurteilen, wie ein Film gedreht wurde und ob es während der Dreharbeiten zu Vergehen kam, sagte die Festivalleitung letzte Woche auf APA-Anfrage. „Wenn jemand Beweise für ein Verbrechen hat, sollte er das der Justiz melden. Nur ein Gerichtsbeschluss könnte dazu führen, dass wir eine geplante Vorführung aussetzen.“

Genau dies könnte aber noch stattfinden. Denn in Rumänien selbst gärt die Causa seit Erscheinen des Artikels wieder: Vor wenigen Tagen habe der Kulturminister den Betroffenen zu einer Klage geraten. Die rumänischen Behörden haben erneut Ermittlungen aufgenommen, der Fall wird in dortigen Medien breit besprochen. Bereits 2019 hatte es Ermittlungen gegeben, die aber eingestellt wurden, weil keines der befragten Kinder angab, während des Drehs etwas Problematisches erlebt zu haben.

Die Kostümbildnerin Tanja Hausner habe „von irgendwelchen Missständen, was die Kinder betrifft, nichts bemerkt. Die Jugendlichen hatten es lustig, niemand musste leiden“. Sie habe sich, während gedreht wurde, meist in einem Aufenthaltsraum mit den Kindern aufgehalten, „die alle, so weit ich das überblicken kann, ein sehr liebevolles Verhältnis zu ihren Betreuerinnen hatten“.
Die Eltern der Kinder seien „in alle Dinge, die mein Department betreffen, vollkommen eingeweiht“ gewesen. „Ich bat, schon aus Gründen der Authentizität, um Zugang zu ihren Kleiderkästen, suchte mir all die T-Shirts, Hosen, Bade- und Unterhosen, die von den Kindern vor der Kamera getragen werden sollten, dort zusammen. Skeptisch war niemand, dazu gab es auch keinen Grund. Es war Sommer, sehr heiß, und oft kamen die Kinder ohnehin in ihrem eigenen Gewand am Set an, das dann zugleich auch ihr Kostüm war.“

Seidls langjähriger Kameramann Wolfgang Thaler, der im Gegensatz zu Tanja Hausner nur den Winterdreh begleitet hat, im Sommer wegen anderer Verpflichtungen nicht dabei sein konnte, hält „die Vorwürfe für sehr gewollt, die man nach einem halben Jahr Recherche auftischt“. Die Arbeit mit den Kindern im Winter habe er als äußerst „respektvoll erlebt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dies im Sommer anders gewesen sein sollte. Die Kids waren gut verwöhnt, und wenn eines der Kinder tatsächlich einmal gekotzt haben mag, dann lag das vielleicht auch an den vielen Süßigkeiten, die am Catering-Tisch lagen“.

Die Eltern seien „kaum präsent“ gewesen, „auch weil sie ständig am Arbeiten waren, aber es war ja Betreuung da! Ich finde es übrigens sehr unangenehm, wenn nun die als Vertrauenspersonen engagierten Lehrerinnen als Nichtfachkräfte diskreditiert werden. Als wüssten die nicht am besten, wie man verantwortungsvoll mit Kindern umgeht.“ Eines ist Thaler wichtig zu betonen: „Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht gehabt hätte, die Kinder könnten schlecht behandelt werden, wäre ich der Erste gewesen, der nach so vielen Jahrzehnten der Arbeit mit Ulrich Seidl diesem dringend nahegelegt hätte, sein Verhalten zu ändern. Man weiß doch, wo die Grenzen liegen, speziell bei Kindern. Und man muss einfach immer wieder betonen, dass sich Ulrich Seidl wie niemand sonst um seine Darsteller bemüht, ihnen vertraut und alles für ihr Wohlbefinden täte. Darum klingen all diese Vorwürfe umso abstruser.“

Auf seiner Facebook-Seite schlägt Klaus Pridnig in dieselbe Kerbe: „Seidls Umgang mit den Kindern war von Würde und Sensibilität geprägt, wer ihn kennt, weiß, dass Vertrauen zwischen ihm und seinen Darstellern eines der Erfolgsrezepte aller seiner Filme ist.“ Niemals habe sich ein Kind beklagt, niemals ein Elternteil. Niemals seien Kinder „der Gewalt ausgesetzt“ worden, diese Vorwürfe, schreibt Pridnig, „erscheinen mir schlicht und ergreifend unwahr. „Der Ulrich Seidl, den ich kenne, war stets ein integrer, verantwortungsbewusster Filmemacher, der an Grenzen ging, sie aber nie auf Kosten seiner Darsteller überschritt.“

Seit 30 Jahren arbeite er in dieser Branche, sagt Pridnig im profil-Gespräch noch: „Ich habe so viele Schweinereien erlebt, so viel Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe, die alle auf die eine oder andere Weise ‚intern gelöst‘ wurden, um keine Skandale zu provozieren.“ Da schmerze es umso mehr, wenn ausgerechnet Ulrich Seidl, der nie irgendjemanden missbraucht oder genötigt habe, nun plötzlich am Pranger stehe.

Seidl wird Verantwortung übernehmen müssen für seine riskanten Projekte und alle Gedankenlosig- oder Fahrlässigkeiten. Da wird einiges zu erklären und zu beweisen sein. Aber die Mechanik der Vorverurteilung ist zu problematisieren. Die Behauptung einer Empörung kann als Schuldspruch nicht ausreichen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.