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Vorwürfe gegen Ulrich Seidl: "Offenbar ausgenutzt"

Abrechnung mit einem Unbequemen: Über die massiven Vorwürfe, die "Der Spiegel" nun gegen den österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl erhebt.

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Man kann Ulrich Seidl vieles vorwerfen: Seine Sturheit und seine finsteren Weltsichten, seine durchaus egozentrische Durchsetzungsfähigkeit in der Umsetzung seiner Visionen und auch seine Lust am Umgang mit tabuisierten Themen – seine Filme drehen sich um Sexarbeit und religiösen Wahn, um Rassismus, Großwildjagd und Alltagsfaschismus. Es ist also nicht zuletzt eine Frage der Perspektive, wie man auf Seidls Produktionen reagiert. Denn man muss einiges aushalten, wenn man sich mit diesen Werken auseinandersetzt, in denen Beschönigung und Wohlgefühl ganz grundsätzlich verweigert werden. 

Und tatsächlich hat man Ulrich Seidl in den gut 40 Jahren seiner Regiekarriere bereits wegen unzähliger Verstöße gegen die bürgerliche Moral und den sogenannten guten Geschmack angeprangert: Schon mit seinem Debüt, dem Dokumentarfilm „Der Ball“ (1982), habe er seine Heimatstadt Horn der Lächerlichkeit preisgegeben; oft hieß es, er „beute“ die Menschen vor seiner Kamera aus, indem er sie ausstelle und benutze – auch wenn diese sich korrekt behandelt fühlten; Seidls Film „Paradies: Glaube“ wurde in Italien 2012 wegen angeblich blasphemischer Szenen sogar erfolglos angezeigt.
Aber nie zuvor hat die Entrüstung jenes Ausmaß angenommen, das am Freitag vergangener Woche mit einer groß angelegten Investigativgeschichte erreicht wurde. Keine drei Monate vor Seidls 70. Geburtstag hat das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel“ nun die Gelegenheit gesehen, einen Shitstorm nach bewährtem Muster zu entfesseln. Denn der jüngste Film des Regisseurs, „Sparta“, dreht sich um ein Thema, das noch unerfreulicher ist als seine Themen sonst: um Pädophilie. Kinder seien bei den Dreharbeiten in einem rumänischen Dorf im Sommer 2019 „offenbar ausgenutzt“ worden, heißt es in dem Artikel, zu unliebsamen Szenen genötigt und unter Druck gesetzt worden.

Als jemand, der Ulrich Seidls Werk seit den späten 1980er-Jahren journalistisch intensiv verfolgt (und 2007 außerdem ein Buch zum Schaffen des Künstlers publiziert) hat, konnte ich etliche Male Dreharbeiten des Regisseurs besuchen, seine Inszenierungsmethoden genauestens studieren. Seidl ist ein Regisseur, der sich der Kritik an seinen Regieentscheidungen bewusst aussetzt. Wer sich auf dem schmalen Grat zwischen radikaler Authentizität und starker Stilisierung bewegt, nimmt die Gefahr eines allfälligen Fehltritts in Kauf. In einem Klima, das den Konsens mit allen sucht, kann Kunst nicht entstehen. Seine Kompromisslosigkeit, die das „Authentische“, das „Wirkliche“ sucht, hat Grenzen: Rücksichtslos ist Seidl nicht, dazu ist er zu skrupulös. Die Menschen, von denen er erzählt, sind ihm nahe, das bezeugen so gut wie alle, die mit ihm gearbeitet haben. Gegenüber profil wollte Seidl zu den Vorwürfen vorerst nicht Stellung nehmen. 

Wenn nun „viele“, sämtlich ungenannt bleibende „Mitwirkende des Films“ schwere Vorwürfe gegen ihn erheben, ist Differenzierung dringend nötig. Die Anschuldigung, Seidl habe den Laien, mit denen er gedreht hat, nicht mitgeteilt, dass es in seinem Film um Pädophilie geht, wiegt fraglos schwer. Man kann nun auf dem Standpunkt stehen, dass es besser wäre, einen solchen Film gar nicht erst herstellen zu können; ebenso aber ließe sich argumentieren, dass eine sensitive Charakterstudie wie „Sparta“, in der sich selbstverständlich keine Szene findet, in der ein Kind sexuell missbraucht wird (andernfalls wäre der Film mit Sicherheit nicht in die Programme der renommierten Festivals in Toronto und San Sebastián eingeladen worden), eben auch außerordentliche Drehbedingungen haben müsse. 

„Sparta“ berichtet nicht von sexuellen Übergriffen gegen Kinder, sondern von dem inneren Kampf, den der von Georg Friedrich eindrücklich gespielte Pädophile mit sich selbst zu führen hat. Es ist ein depressiver Film geworden, kein Werk, das von Sex oder Gewalt handelt. Als erbarmungsloser, gar grausamer Regisseur ist Seidl nicht bekannt, vielmehr gilt er als ein leiser, mit seinen Darstellerteams ungewöhnlich solidarischer, seine Drehs akribisch vorbereitender Künstler. Wenn im „Spiegel“ nun zu lesen ist, Seidl habe Kinder „offenbar ohne ausreichende Vorbereitung und angemessene Betreuung mit Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontiert“, ist dieser Behauptung nachzugehen. Beweise bleibt der „Spiegel“ schuldig. Es wird daher zunächst zu klären sein, ob es tatsächlich so gewesen sein kann.

Seidl wird Rechenschaft in der Frage ablegen müssen, ob und wie die Kinder am Set betreut wurden, welche Vertrauenspersonen für sie abgestellt waren. Ulrich Seidl ist ein Unbequemer und er hat, auch deshalb, viele Gegner. Dem Vorwurf, bestimmte Schutzbestimmungen beim Drehen mit Kindern nicht beachtet zu haben, wird er sich stellen müssen  – ebenso wie der Frage, ob Kollateralschäden entstanden sind. Aber die Anschuldigung allein ist noch kein Beleg für ihre Unanfechtbarkeit. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.