Maskenspiele: Deichkind in Alien-Outfits, aufgenommen von dem Berliner Fotokünstler Benjakon
Aufgedreht

Deichkind: Deutschlands wichtigste Popband will mehr

Zwischen Party-Dadaismus und lauter Gesellschaftskritik wurden die Brachial-Hip-Hopper Deichkind zur wichtigsten deutschen Popband. Jetzt geht es ihnen um noch mehr.

Drucken

Schriftgröße

Es beginnt mit einem Jodler – und einer großen Irritation. Ein Mann in bayerischer Lederhose, mit feinem Trachtenhemd und Hut, steht auf einem Stand-Up-Paddle-Board mitten im Nirgendwo eines Meeres, jodelt in die Weite und wirkt dabei durchaus verloren. Im Musikvideo zu „In Der Natur“ (die eigenwillige Großschreibung jedes Worts in ihren Songtiteln sei sorgsam gewählt, lässt die Band wissen), der ersten Single aus dem aktuellen Album „Neues Vom Dauerzustand“ des Hamburger Hip-Hop-Kollektivs Deichkind, ist nichts, wie es scheint; die große Party ist vorbei, die Menschen zieht es raus in die Natur, wo sie schnell merken, dass man sich als in seiner Bobo-Großstadtwelt verankerter Jack-Wolfskin-Mensch zu weit von seinen Wurzeln entfernt hat: „In der Natur / Da verknackst du dir den Fuß / In der Natur / Da versagt dein Survival-Buch“, heißt es in diesem aktuellen Feldversuch zwischen Rap und Dadaismus: „Die Erwartung’ waren hoch, dieser Ast hängt viel zu tief / Die Blicke von den Tieren sind mir zu passiv aggressiv“. 

Niemand weiß so gut wie die Musiker von Deichkind: Irritation ist alles, und wenn auf den ersten Blick nicht alles zusammenpasst, fängt es erst an, interessant zu werden. Wenn man also zwischen Krieg in Europa, Klimakrise und Pandemie die Welt wieder einmal nicht versteht, kann man bei D wie Deichkind nachschlagen. Die erste Vorabsingle zum neuen Studiowerk ist somit ganz neu und anders, giert nicht nach den lauten Tönen – und ist doch typisch Deichkind. Dieser Paradigmenwechsel von der schrillen Party zur neuen Nachdenklichkeit wirft eine Handvoll Fragen auf: Funktioniert das Ironie-Spektakel, das dieses Trio seit über zwei Jahrzehnten auch in Zeiten der multiplen Krisen in den Raum stellt, noch? Ist die Deichkind-Idee heute größer als eine normale Popband? Und wie erschafft man noch dieses viel beschworene Wir-Gefühl in einer Welt, die gespalten wie nie wirkt. Eine Spurensuche im Deichkind-Universum.

Legendary thing

Ein Montagnachmittag Ende Jänner in der Zoom-Zone zwischen Wien und Berlin. Die Deichkind-Musiker Porky und Kryptik Joe  (sie legen Wert darauf, in der Zeitung nur mit ihren Künstlernamen aufzuscheinen) lümmeln – soweit lässt sich das am schwachauflösenden Computerbildschirm erkennen – auf zwei Sofas und geben bereitwillig Einblick in den deichkindlichen Maschinenraum; weniger Interview, mehr Werkstattgespräch.  Über das Ende der Pandemie wollen sie gar nicht lange reden, lieber über die neuen Lieder, die aktuellen Pläne und die magic quasseln, die seit den Open-Air-Konzerten letzten Sommer wieder da sei. „Neues Vom Dauerzustand“ sei dann doch eine Art Corona-Album geworden, ein Werk, in dem sich das ganze Gefühls-Auf-und-Ab der letzten Jahre spiegelt; sei es „wirtschaftlich, kulturell, gesellschaftlich oder familiär“, erklärt Kryptik Joe, der im Gespräch die Rolle des Vermittlers einnimmt, während Porky gerne schnell raushaut, was ihm gerade durch den Kopf geht. Ist bei einer neuen Deichkind-Platte überhaupt noch Druck zu spüren? Das sei Erziehung, meint Porky, eine Konditionierung und die Verantwortung, einen derart großen Laden – dieses „legendary thing“ – weiter am Leben zu halten. Und natürlich stellte man sich in den Monaten des Daheim-Sitzens unangenehme Fragen: Wie relevant ist Kunst in Zeiten von Pandemien und Krisen überhaupt noch, oder wird man als Künstler, als Band vielleicht sogar vergessen? Bereits 2015 sagte Porky im Gespräch mit profil: „Der Hype wird vergehen, Deichkind wird vergehen – aber mir ist das egal, ich lebe im Hier und Jetzt.“ 

Die neue Nachdenklichkeit

Nun also „Neues Vom Dauerzustand“. Schon das Coversujet des achten Studioalbums zeigt, dass nicht nur die Welt im Großen, sondern auch in ihren kleinsten Facetten aus den Fugen zu sein scheint. Die abgelichtete Straßenlaterne, die hier sinnbildlich für die Zauberkraft der Musik stehen soll, hat an Halt verloren, steht schief und verloren am Wegesrand. Die 15 neuen Songs funktionieren dabei, in bester Deichkind-Manier, als Spiegel und Gradmesser der Gegenwart; zwischen Hip-Hop-Versatzstücken, elektronischer Musik und harten Electropunk-Beats geht es um die First-World-Probleme der Wohlstandsgesellschaft („Merkste Selber“), um das zornige Bürgertum („Wutboy“), falsche Heilsversprechen („Nummer Sicher“) und eine Gesellschaft in chronischer Erregung („Kids In Meinem Alter“). Als echte Zeitenwende im Deichkind-Universum wollen Porky und Kryptik Joe die neuen Songs dennoch nicht verstehen. Denn ihre Band, so die Selbsteinschätzung der beiden Künstler, sei schon immer verkopft und besonders weird gewesen. Heute gönne man sich eben auch verschrobene Tracks wie „In Der Natur“, die sich vielleicht nicht sofort erschließen. Da müsse die Marketingabteilung auch mal einen Schritt zurückmachen, meint Kryptik Joe noch. Denn normalerweise werden Singles bei Deichkind stets als Hits geplant. Für die Musiker heißt das: Eine Hookline schreiben, bei der jeder mitsingen kann, die jeder Fan versteht, die witzig und pointiert ist. Die Prioritäten haben sich seit der Pandemie ohnehin verschoben: Heute will man künstlerisch zusammenkommen, eine gute Zeit im Studio haben und nicht nur darauf achten, was am Ende einer Session als Ergebnis am Tisch liegt.

Bei einem Musikprojekt, das im Hier und Jetzt verankert ist, besteht die Gefahr, dass manche Lyrics und Themen schneller altern, als einem lieb sein kann. Es habe sich etwa die Frage gestellt, ob man Wörter wie „Pandemie“ oder „Corona“ überhaupt noch verwenden sollte. Als dann der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, schien es unklarer denn je, welche Themen die Menschen in zwei Jahren noch interessieren könnten. Auch die musikalischen Stücke des TV-Satirikers Jan Böhmermann („ZDF Magazin Royal“) habe man sich genauer angesehen; immerhin werden hier Themen behandelt, die besonders zeitgeistig, fast tagesaktuell sind. Der Song „Wutboy“ (der auch Klimaleugner und Reichsbürger verhandelt) sei bereits jetzt schlecht gealtert, so Kryptik Joe. Diesen Abnutzungserscheinungen steuere man mit Songs wie „Lecko Mio“ entgegen, der zum „Last Christmas“ der Mallorca-Urlauber werden soll.

Ist Deichkind größer als Deichkind?

„Es ist immer gleich leicht und immer gleich schwer“, nölt Porky mit diesem typischen Was-soll-man-darauf-antworten-Tonfall auf die Frage, ob es nach über einem Vierteljahrhundert Deichkind einfacher oder schwieriger geworden sei, einen gemeinsamen Sound zu finden. Musiker, Autor und Songschreiber zu sein, sei „gleichzeitig Himmel und Hölle“. Auf der anderen Seite, wirft sein Kompagnon ein, sei man mit den Jahren schon ein wenig weiser geworden. Man kann ein neues Stück Musik dann auch loslassen. Nach außen hin den „leidenden Künstler“ zu mimen, damit könne er wenig anfangen.

Wie aber hat sich die Deichkind-Sprache in den letzten Jahren verändert? Macht man sich heute mehr Gedanken darüber, was man sagen kann oder soll – und auf welche Texte man lieber verzichtet? Es gebe eben Menschen, sagt Porky, die sich durch eine gewisse Sprache verletzt fühlen, und das Ziel einer Gesellschaft müsse es sein, dass alle sich wohlfühlen. Als Deichkind habe man den Ton längst gefunden, ergänzt Kryptik Joe: „Und der schließt hoffentlich niemanden aus“.

Deichkind, seit 1997 in unterschiedlichen Konstellationen aktiv, ist heute mehr Gesamtkunstwerk als Band. Dabei besteht die Kreativbasis aus drei Fortysomething-Männern, die noch immer nicht ganz glauben können, dass aus einem kleinen Hamburger Musikprojekt eine der größten und meistdiskutierten deutschsprachigen Popbands der letzten Jahrzehnte werden konnte. Vielleicht ist es Porky, Kryptik Joe und La Perla (den man auch als DJ Phone kennt) auch ein bisschen egal. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man sich mit ihnen unterhält. Die Arbeitsweise hat sich das Trio längst sportlich aufgeteilt. Während Porky und Kryptik Joe an Musik und Texten werken, sich die Ideen wie im Pingpong zuwerfen, fungiert La Perla als visueller Kreativkopf und Artdirector; er gibt den ausgefallenen Musikvideos, Alben und spektakulären Liveauftritten erst das Bild, das man von Deichkind kennt.

Ist die Idee Deichkind heute größer als die Individuen, die daran mitwirken? Als junger Musiker habe man noch Angst, in einem solchen Kollektiv unterzugehen, sagt Porky lakonisch. Die Erfahrung zeige aber, dass es gut sei, wenn man mal ein paar Schritte zurücktrete. „Jeder von uns ist schon in Krisen geraten, wurde aber von den anderen mitgetragen“. Man dürfe nicht vergessen: Deichkind ist eine Band, kein Soloprojekt. Für die Musik heißt das: Alles bleibt vielschichtig – oder wie es Porky ausdrückt: „Deichkind sind sperrige Themen in einem gefälligen Spektakel.“

Kreativ ist nur das Kollektiv

Musikalisch hat sich die Band erstaunlich gewandelt. Aus dem eher klassischen norddeutschen Hip-Hop der Anfangsjahre („Bitte ziehen Sie durch“, 2000), formten Deichkind eine Mischung aus Electro und Punk zwischen Mainstream-Charts und ironischer Hipster-Disco; aus Klamauk-Shows und Party-Eskapismus wurde eine sozialkritisch-politische Band, die gelernt hat, dass man auch denkend tanzen und feiern kann. Die Phrasen deutscher Deichkind-Dichtkunst entwickeln gern ein Eigenleben, das auch von der Musik losgelöst funktionieren kann; ewige Gassenhauer wie „Arbeit nervt“, „Leider geil“, „Bück dich hoch“ oder „Urlaub vom Urlaub“ sind das Resultat. Popkultur und Feuilleton, Krach und Lyrik fließen hier ineinander: Mit dem Song „1000 Jahre Bier“ hat man nicht nur die Kollegen von Rammstein subtil persifliert, man lädt sich dafür gleich deren Sänger Till Lindemann ein, um daran mitzuwirken. Den omnipräsenten Schauspieler Lars Eidinger haben sie für ihr 2019er-Album „Wer sagt denn das?“ als prominenten Gast an Bord geholt; Eidinger spielte in allen Musikvideos des Albums mit und ließ sich für eine Clip-Performance sogar als lebensgroßer Pinsel verwenden, um Michelangelos Deckenfresko-Fragment „Die Erschaffung Adams“ nachzumalen. Auch für „Neues Vom Dauerzustand“ hat man sich wieder reichlich Unterstützung geholt und mit alten Bekannten gearbeitet. Gereon Klug, der umtriebige Hamburger Autor, Texter, ehemalige Plattenladenbesitzer  und Konzertveranstalter, der 2012 den nihilistischen Hit „Leider geil“ getextet hat, hat sich auch auf „Neues Vom Dauerzustand“ verewigt. Die Songs „Kids In Meinem Alter“ und „Merkste Selber“ tragen seine Handschrift, diesen „umgekippten Wörtersee“, wenn aus sinnlosen Absätzen neue Zusammenhänge kreiert werden, wie die Berliner „taz“ einst über ihn schrieb. Weiters auf der Feature-Liste: die Hamburger Hip-Hop-Legende Fettes Brot, die im Frühling auf ausgedehnte Abschiedstournee gehen wird, und der überaus beliebte Deutschpop-Sänger Clueso („Auch Im Bentley Wird Geweint“).

„Yippie Yippie Yeah“

Timing ist alles. Ihr letztes Konzert vor der Pandemie haben Deichkind Anfang März 2020 absolviert, nur ein paar Tage später durften keine Auftritte und keine Partys mehr veranstaltet werden. Zwei Jahre lang ging dann gar nichts. Dabei ist ein Deichkind-Konzert viel mehr als ein Auftritt; zwischen Schlauchbooten (die über die Menschenmassen fahren), Bierduschen und Trampolinen sind diese Abende zu einer Art Happening geworden, bei dem die Musik, die Texte und Sozialbotschaften ein genuines Eigenleben entwickeln. Denn bei aller Zeitgeistforschung und Gesellschaftskritik, die zwischen den Zeilen abgefeuert wird, ist das Ziel der Deichkind-Kunst noch immer Entertainment und der Spaß an der Sache – nachzuhören in „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“. Die Idee, wie die schwedische Großpop-Band ABBA nur noch als Avatare, als computergenerierte Abziehbilder ihrer selbst auf der Bühne zu stehen, finden die beiden Deichkind-Vertreter nicht so prickelnd. Solange die Magie noch da sei, meinen sie unisono, sei ans Aufhören nicht zu denken.

Eine letzte Nachfrage: Wie schafft man es, als berufsbedingte Satiriker nicht zu Zynikern zu werden? Die Gefahr bestehe in der Musikproduktion durchaus, meinen die beiden. Es sei entscheidend, der Welt aufgeschlossen und positiv entgegenzutreten, sagt Kryptik Joe. Er habe in den letzten Jahren einen regelrechten Radar für Zynismus entwickelt, für Typen, die in allem nur das Schlechte sehen. „Ich mag Menschen“ – und das sei ohnehin das beste Rezept, um nicht verbittert zu werden.

Deichkind

Hinter der Geschichte

Ein neues Deichkind-Album ist für Philip Dulle auch immer ein Versprechen: In einer verrückten Welt braucht es Kunst, die sich von der Realität nicht einschüchtern lässt, lieber neue Wege geht. Nachhören kann man dies in dem neuen Deichkind-Song „Geradeaus“: „Ich les’, was in den News steht / Und flipp’ hier gerade aus / Alle nur am Durchdrehen, alles gerade aus / Doch ich muss jetzt hier durchgehen, einfach geradeaus, yeah.“

Ihre ausgedehnte Sommer-Tournee startet die Band am 21. Juni in der Wiener Stadthalle.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.