Interview

Extrem-Performerin Holzinger: „Selbst der Sanitäter ist umgefallen”

Die Wiener Choreografin Florentina Holzinger erzählt im profil-Gespräch von Schmerz auf der Bühne, über ihre Sicht auf Religion und Softpornos mit Nonnen – und was ihre ersten Operninszenierung mit einem Roboter aus Helene Fischers Konzerttour zu tun hat.

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Florentina Holzinger ist für ein paar Tage in Wien, weil sie ihre Steuererklärung machen muss. Allfällige Rechnungen sammelt sie in ihrer Wohnung, aber eigentlich ist die gefragte Choreografin viel unterwegs – an der Berliner Volksbühne hat sie eine künstlerische Heimat gefunden. Jüngst sorgte auf Reisen eine elektronische Harfe für einen kleinen Skandal in der Deutschen Bahn: Nach einer Vorstellung von „Ophelia's Got Talent” in Hamburg hielt der ICE 45 Minuten außerplanmäßig, ein Polizeieinsatz sollte klären, ob das fragile Instrument, für das Holzinger und ihr Team regulär eine Reservierung gekauft hatten, im überfüllten Zug einen Platz einnehmen dürfe. Das profil-Interview findet an einem sonnigen Tag im Café Sperl statt. Erkannt wird Holzinger, obwohl sie längst ein internationaler Star der Tanz- und Performanceszene ist, an den umliegenden Tischen nicht.

Wie geht es der Harfe?
Holzinger
Sehr gut, sie hatte noch nie so einen Bedeutungsaufschwung. Meine Harfenspielerin fühlt sich immer leicht diskriminiert, weil sie in einem toten Winkel auf der Bühne steht und oft gar nicht wahrgenommen wird.
Der ICE hielt in Uelzen, ein Ort, der wie aus einem Stück von Thomas Bernhard klingt. Haben Sie den Bahnhof gesehen, der von Friedensreich Hundertwasser gestaltet wurde?
Holzinger
Das war mir gar nicht bewusst. Ich hatte aber auch kaum Zeit, aus dem Fenster zu schauen, weil rund zehn Polizisten im Waggon waren.
Medial sorgte das für großen Wirbel. Von der „Zeit“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“ wurde darüber berichtet.
Holzinger
Das Feuilleton liebt Klatsch. Ich habe die Aufmerksamkeit, die mir durch diese Harfengeschichte zuteilwurde, ambivalent betrachtet. In unseren Shows hängen sich Leute an ihrer Haut auf – und dann wollen alle bloß über die Deutsche Bahn reden, die der Buhmann der Nation ist. Andererseits fand ich es erfrischend, nicht die ewig gleichen Fragen beantworten zu müssen. Ob ich provozieren möchte. Und warum bei mir alle nackt sind.
Sie haben kürzlich sogar der deutschen „Vogue“ ein Interview gegeben. Was kommt als Nächstes: Front Row bei einer Fashionshow neben Anna Wintour?
Holzinger
Erschiene mir das interessant, wäre ich sofort dabei. Aber es stimmt schon, an der Volksbühne kommen jetzt öfter Promis in unsere Vorstellungen. Für uns ist das geil, wenn Idole wie die Regisseurin Lana Wachowski zusehen und danach mit uns reden.
Der US-Rapper Kanye West war auch vor Kurzem in Ihrer Berliner Show.
Holzinger
Intern haben wir verhandelt, ob wir Kanye anfragen sollen, ob er sich in „Ophelia’s Got Talent“ live von uns tätowieren lassen möchte. Wir wählen nämlich jedes Mal jemanden aus dem Publikum aus. Weil er so umstritten ist, waren wir uneinig, ob wir ihm eine Bühne geben sollten. Ich wäre dafür gewesen, weil ich seine Musik schon lange liebe.
Wissen Sie denn immer, wer im Publikum sitzt?
Holzinger
Wir erkundigen uns vorher. Aber oft erfinden wir auch, wer angeblich eine Karte gekauft hat. Schon für die Kinder, die in der Show mitwirken. Die würden es großartig finden, wenn Taylor Swift zuschauen würde. Die Darstellerin Zora Schemm ist der größte Fan von Helene Fischer. Es wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk für sie, wenn der Schlagerstar die Volksbühne besuchte.
Auf Fischers aktueller Konzerttour performt sie ihren Hit „Atemlos“, festgeschnallt in einem Roboterarm, der sie durch die Gegend wirbelt. Ich habe gehört, Sie interessieren sich auch für dieses Gerät?
Holzinger
Wir bekommen sogar denselben Roboterarm für meine Operninszenierung „Sancta Susanna“, die im nächsten Jahr in Schwerin Premiere haben und dann auch bei den Wiener Festwochen zu sehen sein wird. Helene Fischer hat die bürokratische Vorarbeit für uns geleistet, sonst könnten wir das gar nicht finanzieren. Die Sicherheitsprotokolle sind äußerst komplex. Wir arbeiten mit der Person zusammen, die den Roboter, für Fischer programmiert und zur Verfügung gestellt hat. Er macht uns einen günstigen Preis, seine Tochter schätzt unsere Arbeit.
Welche Rolle wird der Roboterarm in der expressionistischen Oper von Hindemith spielen, die von sexuell besessenen Nonnen erzählt?
Holzinger
Er ist unser Priester. Während Covid wütete, haben Roboter die Rolle von Priestern übernommen, um Gläubige zu segnen. In der Kirche kam die Diskussion auf, ob KI diese Aufgabe gerecht erfüllen könne.
In Ihrer Arbeit muten Sie dem Körper Extremes zu. Wird Schmerz in unserer Gesellschaft ausgeblendet, obwohl er elementar dazugehört?
Holzinger
Der Körper ist mein Material. Natürlich geht es darum, an Limits zu gehen. Einige Leute aus meiner Crew haben diesen Sommer genutzt, unsere erste Suspension zu machen. Wir sind alle gehangen.
Sie haben sich an Haken im Fleisch aufhängen lassen, wie es erstmals in Ihrer Arbeit „Tanz“ zum Einsatz kam?
Holzinger
Ja, es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich zu diesem Schritt bereit war. Ich behaupte ja immer: „Ich mache alles, was meine Performerinnen machen.“ Wie sie das mehrere Abende hintereinander hinbekommen, ist allerdings ein ganz anderes Level. Dennoch war es eine coole Erfahrung. Wenn man eine Art Rampensau ist, spürt man während einer Vorstellung fast gar nichts.
Weil Endorphine freigesetzt werden?
Holzinger
„Étude For Church“ war eine 15-minütige Brachialperformance, in der wir viel ausprobieren konnten. Wir hatten Lust, diese Berliner Rave-Kids im Publikum richtig zu verstören. Sie sind umgekippt wie die Fliegen. Wenn man das aus dem Augenwinkel sieht, spürt man selbst keinen Schmerz mehr.
Sind Berghain-Fans zarter besaitet als das klassische Theaterpublikum?
Holzinger
Wir haben Weihrauch geschwenkt. In Kombination mit Blut scheint das etwas zu verstärken. Es kippen ja auch regelmäßig Ministranten in der Kirche um. Aber natürlich waren die Club-Kids nicht darauf gefasst, was da passiert. Sie lesen keine Trigger-Warnungen, und wenn man Drogen intus hat, ist man wahrscheinlich fragiler. Unser absoluter Rekord war, dass selbst der Sanitäter umgefallen ist. Ich glaube ohnehin, dass es unangenehmer ist, in Ohnmacht zu fallen, als sich an der eigenen Haut aufzuhängen. Deswegen würde ich es auch jeder Person empfehlen.
Sie bekommen also mit, was im Publikum passiert?
Holzinger
Klar, wir schließen untereinander Wetten ab, wann der Erste umkippt. Oft ist es auch völlig absurd, wie Leute reagieren. Sie fallen um, dann stehen sie auf, schauen weiter, fallen wieder um. Aber sie wollen nicht gehen. Bei „Ophelia“ in Hamburg sind extrem viele in Ohnmacht gefallen. Das lag an der schlechten Ventilation, ab der sechsten Minute, als die Schwertschluckerin auftrat, sind sie weggebrochen.
Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Haut beim Aufhängen reißt?
Holzinger
Es ist eine mentale Herausforderung. Beim ersten Mal ist es krass, man vertraut der eigenen Haut nicht. Man packt es nicht, dass man daran hängt. Aber dann stellt sich das beruhigende Gefühl ein, dass die Haut ein Bodysuit ist. Wie ein Einteiler, der einen hält. Nur die Heilung der Wunden erfordert viel Aufmerksamkeit. Mich stört, wenn ich vier Tage nicht ins Gym oder ins Schwimmbad gehen kann.
Beim Berliner Musikfestival Atonal hatte jüngst Ihre „Étude For Church“ Premiere. Da hängen Sie in einer Glocke, während andere darauf herumhämmern. Wie kam das zustande?
Holzinger
„Étude For Church“ ist eine Vorstufe für „Sancta Susanna“. Wir haben die Glockengießerei Grassmayr in Tirol besucht. Das ist ein Familienbetrieb, der dieses Handwerk noch beherrscht. Es ist ein unheimlich aufwendiger Vorgang, bei dem eine Masse an Eisen verwendet wird. Ich habe gefragt, ob ich kurz probehängen kann in einer Glocke.
Waren die Gießer davon nicht überfordert?
Holzinger
Klar, die Leute wissen dann nie, was sie sagen sollen. Und stimmen einfach zu. Ich glaube, es war eine schöne Abwechslung für sie: Ich hing mit kleinen Hämmerchen im Inneren der Glocke und habe Sound produziert. Wir haben aber auch eine Glocke gefunden, die für einen Kirchenstuhl gebaut wurde, aber nicht hineingepasst hat. Die haben wir um einen Spottpreis kaufen können. Sie wiegt an die zwei Tonnen. Und ist bereits jetzt der Alptraum aller Theater, in denen wir spielen werden.
Ist es nicht unerträglich laut, wenn man als menschlicher Glockenschwengel zum Einsatz kommt?
Holzinger
Alle im Team haben sich gefreut, dass ich diese Aufgabe freiwillig übernommen habe. Ich trage Ohrenstöpsel, aber bin sowieso eher schwerhörig, weil ich als Kind ständig Mittelohrentzündungen hatte.
Der österreichische Aktionskünstler Wolfgang Flatz hat sich in der Silvesternacht 1990/91 in Tiflis in einer Performance als menschlicher Glockenklöppel verausgabt.
Holzinger
Ich kenne diese Arbeit. Zur Zarenzeit war es eine Foltermethode, Gefangene in eine Glocke zu hängen, bis sie zur Aussage bereit waren. Ich empfinde es eher als ein heilendes Klangbad.
Ist diese Oper auch eine Auseinandersetzung mit Ihrem eigenen Glauben?
Holzinger
Für mich als Österreicherin ist es spannend, mich mit dem Katholizismus auseinanderzusetzen, weil man so viel unbewusst aufgenommen hat, obwohl meine Eltern gar nicht religiös waren. Zudem hat die Kirche eine krasse Theatralik. Deswegen fährt man ja auch gern auf Urlaub nach Italien, weil das Christliche visuell eine irre Wucht hat. Ich bin Atheistin, aber die Rituale haben mich immer fasziniert. Es war mein Traum, Ministrantin zu werden. Ich war neidisch auf die religiösen Familien, die jeden Sonntag in die Kirche gepilgert sind und dort eine Party geschmissen haben.
Sie stehen der Kirche also aufgeschlossen gegenüber?
Holzinger
Die Tochter der Regisseurin Sara Ostertag hat Leukämie. Sie sind nicht einmal katholisch, aber die Pfarre hat sofort einen Stammzellenspende-Aufruf gestartet und organisiert. Diesen christlichen Gedanken, sich um andere zu kümmern, finde ich gut. Gleichzeitig gibt es eine lange, viel zu wenig aufgearbeitete Missbrauchsgeschichte und ein weitgehend diskriminierendes und körperfeindliches Frauenbild. In unserem Moodboard für die Operninszenierung sind sogenannte Nunsploitation-Filme sehr präsent. Das sind Softpornos aus den 1970er-Jahren, in denen sich die weibliche Libido in Form einer Ekstase äußert, die durch Unterdrückung hervorgerufen wird. Es macht riesigen Spaß, sexuell besessene Nonnen zu spielen.
Was, wenn Ihnen Blasphemie vorgeworfen wird?
Holzinger
Irgendwie habe ich sogar Lust auf einen Shitstorm. Gleichzeitig fühle mich zu weit weg von der Kirche, um sie anzugreifen. Leute fragen mich immer: „Wird es ein Abgesang auf die Kirche, oder ist es eine Utopie?“ Ich wünsche mir, dass es ein bisschen von beidem ist. Die Dramaturgie der Messen fasziniert mich, wie partizipierend sie sind, allein das Sündenbekenntnis, wo alle kollektiv an ihre Verfehlungen denken. Oder wenn sich Brot und Wein in den Körper und das Blut Christi verwandeln. Letzten Sonntag war ich in der Augustinerkirche und habe mir die „Missa solemnis“ von Mozart angehört. Musikalisch ist das der absolute Wahnsinn.
Wie ist es, in der Hochkultur angekommen zu sein?
Holzinger
An meiner Arbeitsweise verändert sich wenig. Mit mehr Mitteln kann ich genauer umsetzen, was ich machen möchte. Mein Alptraum ist es, immer in denselben Strukturen zu bleiben. Im Moment bin ich an einem Punkt, an dem es sich cool anfühlt, aus 15 Jahren Arbeit gelernt zu haben. Man kennt sein Publikum, weiß mehr Bescheid als zu Beginn, als ich mit Vincent Riebeek Jackass-Experimente gemacht habe.
Trash und Popkultur bleiben aber Referenzrahmen?
Holzinger
Absolut, speziell in der Verhandlung mit Hochkultur ist es wichtig, einen Counterpart zu haben. Die Nonnen-Oper muss trashig sein, damit ich sie überhaupt vertreten kann. Ich will, dass der Schweriner Steuerzahler nicht packt, wofür sein Geld da verschwendet wird. Zugleich mag ich diesem Genre auch seine Berechtigung geben. Und sagen: Hey, Oper kann cool sein.
Sie meinten kürzlich, Sie machten Kasperltheater für Erwachsene. Wie wichtig sind Humor und Entertainment?
Holzinger
Im Kasperltheater geht es doch auch um reale Themen wie Gewalt. Sie werden halt anders verpackt. Mich langweilt Kunst, die sich bierernst nimmt. Dabei wissen wir doch alle, dass die Realität viel abgefahrener ist, als es Kunst jemals sein kann. Kunst bietet viel Freiheit, sie ist ein Spielraum. Aber ich mag mir nicht die Möglichkeit nehmen lassen, Leute zu enttäuschen oder vor den Kopf zu stoßen. In Fettnäpfchen zu treten, wird immer wichtiger. Darin zeigt sich doch der Mut einer Arbeit: Man nimmt gewisse Risiken auf sich. Ich möchte mir Leichtigkeit bewahren.
Apropos neue Herausforderungen. Sie spielen auch die Hauptrolle in „Mond“, Kurdwin Ayubs jüngstem Film. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
Holzinger
Ich kenne Kurdwin aus der Burschenschaft Hysteria. Trotzdem war es unerwartet, als sie mich zum Casting eingeladen hat. Es wissen eh alle, dass ich schlecht im Neinsagen bin, speziell wenn es um Dinge geht, die ich noch nie ausprobiert habe.
Haben Sie Schauspielunterricht genommen?
Holzinger
Nein, ich lehne klassisches Schauspiel ab. Und Kurdwin kommt ohnehin aus der Ulrich-Seidl-Schule, deren Leitspruch lautet: Sei einfach du! Ich finde mich selbst nicht so interessant, dass ich mich gut fühlen würde vor der Kamera. Es geht um eine ehemalige Kampfsportlerin, die in Jordanien als Trainerin für drei reiche Töchter engagiert wird. Mir war wichtig, dass die Kampfszenen glaubwürdig rüberkommen. Ich hatte gehofft, dass ich mir eine Auszeit nehmen und mich aufs Training konzentrieren kann. Aber letzten Endes fingiere ich auch vieles im Film.
Auf der Bühne haben Sie in „Ophelia“ das Element Wasser erkundet, in „Étude For Church“ erobern Sie die Lüfte. Was steht noch auf Ihrer To-do-Liste?
Holzinger
Die ist unendlich lang. Aber die Sachen ergeben sich einfach, ich habe nicht das Gefühl, ich muss alle Elemente abarbeiten. Ein Running Gag ist, dass wir eine Eisrevue machen müssen. Außerdem wollen wir zur TV-Show „Britain’s Got Talent“. Wir hoffen, dass wir in diesem Kommerzformat für ein paar verstörende Momente sorgen können.
Karin   Cerny

Karin Cerny