Filmfestspiele

Flugschulstress: "Top Gun" in Cannes

Tom Cruise lässt sich in Cannes für sein Kampfjet-Spektakel „Top Gun: Maverick“ feiern.

Drucken

Schriftgröße

Nichts illustriert die Schizophrenie eines Mega-Filmfestivals besser als das Getöse, das hier derzeit um Stargast Tom Cruise und seine Rückkehr in die Navy-Pilotenschmiede, die man „Top Gun“ nennt, veranstaltet wird: eine Ehren-Goldpalme fürs Lebenswerk, eine Kampfjet-Parade der französischen Luftwaffe, eine mit Plattitüden gepflasterte Cruise-Masterclass für die Adorantenschar und die Europa-Premiere eines Films, der gar nichts anderes sein will, als dröhnend laute 150-Millionen-Dollar-Entertainment-Routine, in dem Flugzeuge mit gut 12.000 km/h in den Sonnenuntergang oder in lebensgefährlichen Manövern durch Schluchten gejagt werden, um die Urananreicherungsanlage eines namenlosen „Schurkenstaats“ zu bombardieren.

Was aber macht ein solches Werk, das späte Sequel eines überdimensionierten Musikvideos aus dem Jahr 1986, eigentlich im Zentrum eines Festivals, in dessen Wettbewerb unter anderem die eigenwilligen Erzählweisen des Katalanen Albert Serra, der Französin Claire Denis und des Iraners Ali Abbasi sowie die bizarren Körpererweiterungsfantasien eines David Cronenberg zelebriert werden? Die Idee ist schlicht: Populäres und Elitäres krachen in Cannes seit je hart gegeneinander, weil beides bekanntlich zum Kino gehört – es kann ein lukratives Geschäft sein oder elfenbeinerne Hochkultur, bloßer Zeitvertreib oder eherne Kunstanstrengung. Keine Frage, aus welcher Ecke „Top Gun: Maverick“ kommt: „Don’t think, just do“ ist ein Leitgedanke der (auch sonst in jeder Hinsicht limitierten) Dialoge dieses Films.

Aber das Bekenntnis zu Hollywood-Starkult und ästhetischer Anästhesie durchkreuzt die Strategien eines Festivals, das sich selbst ernst nimmt, sich als präzise Standortbestimmung des internationalen Autorenkinos und nicht bloß als Durchlauferhitzer für die globale Distribution schablonenhafter Blockbuster versteht. Aber Tom Cruise ist der Bannerträger einer auf Tradition pochenden Filmindustrie, die sich gerade selbst abzuschaffen droht: Er arbeitet nicht für Netflix oder Amazon, sondern „für die große Leinwand“, wie er zu versichern nicht müde wird; und seine Stunts macht er noch in fortgeschrittenem Alter (angeblich) alle selbst. Man habe ja auch Gene Kelly nicht dauernd gefragt, warum er darauf insistiere, seine Choreografien selbst zu tanzen, erklärte Cruise während der Pressekonferenz schlau. Auch solcher, leise aus der Zeit gefallener Positionen wegen wird er in Cannes so hofiert. Und in keiner Rolle ist er virtuoser als in der Darstellung ewiger Jugend: In sechs Wochen wird er 60, aber Beverly-Hills-Teint, Stahlbody und Jünglingsgrinsen sitzen noch immer perfekt.

„Top Gun: Maverick“, inszeniert von Joseph Kosinski mehr als dreieinhalb Jahrzehnte nach Tony Scotts Eighties-Kampfflugzeugparade, dringt also wieder in die inneren Kreise der titelgebenden Elite-Flugschule der US Navy ein, folgt den Ideen und Beziehungsanbahnungen des freundlichen, aber Obrigkeiten misstrauenden Meisterpiloten Pete „Maverick“ Mitchell (Cruise), der strafweise wieder als Flugausbildner arbeiten muss, aber selbstverständlich ins Cockpit zurückbeordert wird. Val Kilmer, schon einst im „Top Gun“-Team, tritt kurz auf, Komponist Harold Faltermeyer lässt die Gitarren jaulen, Lady Gaga plärrt die Schlussmelodie, und produziert hat erneut Jerry Bruckheimer, gemeinsam mit dem Filmstar höchstselbst: Die Tom und Jerry-Show muss weitergehen, sie wird erst enden, wenn das Publikum auszubleiben beschließt.

Auch wenn die finale halbe Stunde, auf die dieser Film 100 Minuten lang erstaunlich unbedarft hinarbeitet, als Flughochschaubahn halbwegs „funktioniert“: Es wäre vermessen zu sagen, „Top Gun: Maverick“ sei ein irgendwie spannender oder gar mitreißender Film. Er ist, was er sein will und sein musste: unpersönlich, schematisch, videospielerisch-kinetisch. Die Welt wird ihn nicht lieben, das wäre die Mühe nicht wert, aber sie könnte ihn unverbindlich mögen, weil in ihm nicht mühevoll nachgedacht, sondern einfach getan wird.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.