Die französische Regisseurin Claire Denis bei der 75. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes
Cannes

Geisterstunde: Impressionen von den 75. Filmfestspielen in Cannes

Die Schatten der Vergangenheit, die Zerstörung der Gegenwart und die Verbrechen der Zukunft.

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Tradition verpflichtet nicht nur, sie immunisiert auch. In Cannes ist der ständige Verweis auf die einst glanzvollen Festivalzeiten eine Art Identitätsnachweis, ein Statement gegen all jene, die den zelebrierten Elitismus dieser Veranstaltung als längst nicht mehr zeitgemäß verspotten. Auch deshalb zieren großformatige Schwarzweißfotografien der berühmten Festivalgäste gegenwärtig die Promenaden der Stadt, Leute wie Jean-Paul Belmondo, Romy Schneider, Alfred Hitchcock, Luchino Visconti, Paul Newman und Ingrid Bergman werfen sich da vor der Hafenkulisse oder in den Foyers der Luxushotels, in denen sie einst abstiegen, in Pose. Seit 1946 finden die Festspiele in Cannes statt, ihre Geschichte reicht somit vom Ende eines Krieges in den Beginn eines neuen. Die Superstars einer Zeit, in der das Kino noch ein Leit- und Massenmedium war, sind jedoch nur noch als Phantome präsent, als Geister einer fernen Vergangenheit, die sich beschwören, aber nicht mehr lebensecht reproduzieren lassen.

Jedes Jahr zur Filmfestspielzeit im Mai, wenn die Pandemie keinen Strich durch die Rechnung macht, platzt die sonst nicht allzu dicht besiedelte, konservativ regierte Gemeinde an der französischen Mittelmeerküste aus den Nähten. Die Hotelzimmerpreise schießen durch alle Decken der wirtschaftlichen Vernunft, und ab nachmittags schieben sich sonnenverbrannte Menschentrauben im Zeitlupentempo über die Croisette, reglementiert von metallenen Straßenabsperrungen und schwer bewaffneter Polizei; im Vorbeigehen lassen sich dort allerlei Prunkroben, modische Verirrungen und die Zwischenergebnisse plastisch-chirurgischer Ausbauarbeiten studieren. 

Das neben den Alten Hafen gebaute Festivalpalais ist in diesen Tagen die Attraktion an der Croisette, der breite rote Teppich, über den die Filmprominenz, die Branchenmitglieder und die akkreditierte Weltfilmpresse im Blitzlichtgewitter täglich mehrmals Richtung Kinosaal tänzeln und trampeln, hat seit der Eröffnung am 17. Mai ein wenig gelitten; ausgebleicht, abgetreten und tiefenverschmutzt liegt er in den allerletzten Spieltagen noch da, steht den Sohlen und Absätzen weiterhin zur Verfügung: aber auch er ist nur ein Phantom, ein Herrschaftszeichen längst verblassten Ruhms. Die Regiestars und Schauspielgrößen der Gegenwart werden dort zwar noch immer bejubelt, aber angesichts von 220 Millionen Netflix-Kunden weltweit scheint das alte Kollektiv- und Glanzereignis Kino, wie es in Cannes verstanden und hochgehalten wird, zu einem Nebengeräusch der Bewegtbildindustrie abgeklungen zu sein.

Nach einer pandemisch bedingten Absage 2020 und der Verschiebung in den Hochsommer 2021 läuft das Festival heuer erstmals seit drei Jahren wieder fast wie gewohnt ab. In den Kinosälen wird das Tragen der Schutzmasken zwar weiterhin angeraten, aber dieser Empfehlung folgt nur eine Minderheit. Distanz ist ohnehin nicht zu halten in den Warteschlangen und den voll besetzten Auditorien, an den Sicherheitskontrollen und den Durchleuchtungs-Checkpoints, da kann man sich gleich einreden, die lang ersehnte Normalität habe endlich den Filmfestivalbetrieb erreicht. 

Die neue Front im Kampf gegen die Normalisierung liegt bekanntlich anderswo: Der andauernde Krieg in der Ukraine ist Teil jener desaströsen Wirklichkeit, mit der auch eine Leistungsschau des Weltautorenfilms umzugehen hat. Das ehrwürdige Festival de Cannes begreift sich seit je als politisch wachsam, zweifelhafte Entscheidungen werden dennoch getroffen: So hat man im Vorfeld alle offiziellen Filmdelegationen aus Russland ausgeladen, aber das bombastische, von dem steinreichen Oligarchen Roman Abramowitsch finanzierte Historiendrama „Tschaikowskis Frau“ in den Wettbewerb gehievt – gegen den Protest ukrainischer Filmschaffender. Regisseur Kirill Serebrennikow, der unter Putin Repressionen und Haftandrohungen zu ertragen hatte, nahm Abramowitsch öffentlich in Schutz und forderte ernstlich, die Sanktionen gegen diesen wieder aufzuheben, weil er, Abramowitsch, ein so hervorragender Mäzen sei. 

Einen kühleren Blick zurück in die jüngere menschliche Vernichtungsgeschichte warf der renommierte ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa. Sein Archivfilm „The Natural History of Destruction“, in Cannes außer Konkurrenz gezeigt, versammelt kommentarlos Szenen von den alliierten Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg und des Alltagslebens in Nazideutschland vor und nach seiner Zertrümmerung. Loznitsas gewohnte Methode der ultrarealistischen Nachsynchronisierung und Musikalisierung historischer Bilder entrückt seine Naturgeschichte der Zerstörung ins Surreale, in einen Fiebertraum von der Verheerung der Welt. 

Auch die französische Regie-Virtuosin Claire Denis, 76, denkt in ihrem jüngsten Film über das Leben in einem Klima des radikalen Umsturzes, konkret: des Contra-Krieges nach der sandinistischen Revolution in Nicaragua nach. Ihre Denis-Johnson-Verfilmung „Stars at Noon“ macht aus der ursprünglich 1984 spielenden Erzählung von einer sich mit allen Mitteln durch die Wirren der Unruhen schlagenden Journalistin (gespielt von einer in Hochform agierenden Margaret Qualley) einen Gegenwartsbericht, einen elliptisch angelegten Covid-Film, in dem sich Sex, Liebe und Politik auf ungeahnte Weise mischen.

Auf der Dachterrasse des Marriott-Hotels an der Croisette absolviert Claire Denis ihre Interviews in der Hitze des Donnerstagnachmittags vergangener Woche, zurückgezogen in eine Schattenzone. Cannes, sagt sie im profil-Gespräch, sei ihre erste künstlerische Heimat gewesen; dem Lamentieren über mangelnde Diversität im Festival-Line-Up, über zu wenige Filmemacherinnen und viel zu viele weiße Regiekräfte mag sie sich nicht anschließen. Wie das denn andere große Festivals machten, fragt sie ein wenig rhetorisch zurück. „Ich konnte immer genau die Filme drehen, die ich im Sinn hatte, mit den Menschen, die ich darin besetzen wollte. Mir hat nie jemand vorgeschrieben, weniger oft mit schwarzen Menschen zu arbeiten. Cannes ist kein Gesetz. Man sollte daher vielleicht nicht so sehr das Festival in die Pflicht nehmen, sondern eher die Filmschaffenden selbst. Sie entscheiden nämlich ganz autonom, wie divers ihre Filme ausfallen.“

Auf dem Papier las sich die Auswahl des Jahrgangs 2022 vielversprechend; mit den Enttäuschungen, die einige der größten Namen im globalen Gegenwartskino produzierten, war nicht zu rechnen. Die Gesellschaftssatire „Triangle of Sadness“ etwa, die der Schwede Ruben Östlund über eine Luxuskreuzfahrt mit Schiffbruch inszenierte, erwies sich als humoristisch allzu breit – auch wenn der Mut der Schauspielerin Sunnyi Melles verblüffte, die darin als seekranke Passagierin in eine regelrechte Orgie der Magen-Darm-Eruptionen verwickelt wird. 

„Cannes ist kein Gesetz. Die Filmschaffenden entscheiden ganz autonom, wie divers ihre Filme ausfallen.“
 

Claire Denis

Regisseurin

Ein starker Mangel an Komplexität überschattete „Tori et Lokita“, das neue Lehrstück der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne, ebenso wie den sadistischen Frauenmörderfilm „Holy Spider“ des Exil-Iraners Ali Abbasi, der 2018 in Cannes mit dem subtilen Außenseiterdrama „Border“ unbegründete Hoffnungen geweckt hatte. Der nach Robert Bressons  „Au hasard Bal-thazar“ (1966)  geformte Film „EO“ des Polen Jerzy Skolimowski, der die Ausbeutungs-Odyssee eines Esels vom Zirkuszelt bis zum Schlachthof skizziert, fand keine dramaturgisch konsequente Form, während sich „Pacifiction“, der dahinplätschernde neue Dreistünder des Katalanen Albert Serra, in endlos welterklärenden Monologen eines zynischen Lokalpolitikers (Benoit Magimel) in Tahiti ergeht. 

Das Antidramatische als Widerstandskonzept hat ausgedient; es unterbricht den omnipräsenten Dauerstrom bewegter Bilder nicht mehr, fügt sich bloß folgenlos ein, fungiert nicht subversiv, sondern sedativ. 

Cannes leidet an einem kuratorischen Problem, denn es belohnt die Treue bestimmter Regiekräfte mit Wettbewerbsfixplätzen, auch wenn diese Leute ganz offensichtlich gerade nicht auf der Höhe ihres Talents agieren. Selbst durchaus erfreuliche kleine Coming-of-Age-Filme wie James Grays kluge Reagan-Ära-Familienstudie „Armageddon Time“ oder Valeria Bruni Tedeschis lebendige Erinnerungen an ihre Zeit an der Schauspielschule in Nanterre („Les Amandiers“) müssten nicht zwingend im Kampf um die Goldene Palme laufen. Marie Kreutzers Sisi-Fantasie „Corsage“ beispielsweise, in die Nebenschiene Un certain regard verbannt, hätte sich in jenem Rahmen spannender ausgenommen. 

Die letzten beiden Tage des Festivals brachten dann aber doch noch zwei Werke hervor, die Anspruch auf die Palme d’Or erheben konnten: Ein sehr präzise, wenn auch eine Spur zu selbstgewiss in Szene gesetztes Melodram aus Belgien, Lukas Dhonts „Close“, ergründet die kindliche Schuld- und Trauerarbeit nach einem traumatisierenden Ereignis; und die Indie-Koryphäe Kelly Reichardt erfreute mit ihrer Komödie „Showing Up“, in der Michelle Williams als Bildhauerin zu erleben ist, die ihr privates Chaos mit der Vorbereitung einer entscheidenden Ausstellung vereinen muss.

Ein Wettbewerbsbeitrag blieb in Sachen Originalität unangefochten. Der inzwischen 79-jährige kanadische Body-Horror-Futurist David Cronenberg („The Fly“; „,Dead Ringers“) verklammert in „Crimes of the Future“, acht Jahre nach seiner letzten Regiearbeit, die „Maps to the Stars“ heißt, Libido und Chirurgie: Es geht um Mutation und Erweiterung der menschlichen Physis, um operative Eingriffe, die anderen Zwecken als bloß kosmetischen oder medizinischen dienen. Viggo Mortensen tritt in „Crimes of the Future“ als am eigenen Leib experimentierender Künstler auf,  der sich die in ihm wie Tumore entwickelnden neuen Organe öffentlich entnehmen lässt, Léa Seydoux fungiert als seine Partnerin. Ihre öffentlichen Aktionen beschwören den Erotizismus der Chirurgie herauf, „Surgery is the new sex“ lautet ihr Wahlspruch. In dieser abgründigen Groteske fallen Begriffe wie „Designer-Krebs“ und „Organtätowierung“, plastikverarbeitende Verdauungssysteme bilden sich in den Menschen aus, und man ruft Schönheitswettbewerbe für innere Organe aus.

„Crimes of the Future“, im sommerlich überhitzten Griechenland 2021 gedreht, ist ein radikal gedämpfter Noir-Schocker geworden, ein Werk des Transhumanismus und der Post-Suspense. Cronenberg denkt darin längst Bestehendes (etwa die Sucht, Körper und Gesicht zu verändern) nur ein, zwei Schritte weiter. Wie real die Grundlagen der scheinbar so abwegigen Motive in „Crimes of the Future“ sind, zeigte ein radikaler Dokumentarfilm in dem – heuer hochklassig programmierten – Cannes-Nebenfestival Quinzaine des réalisateurs: Das britisch-schweizerische Regie-Duo Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel („Leviathan“) erkundet in „De humani corporis fabrica“ das ganz alltägliche Treiben in einem Pariser Krankenhaus, unter besonderer Berücksichtigung maximal invasiver Operations- und Körperdurchleuchtungstechniken. Und es ist frappant, wie ähnlich viele ihre Motive jenen Cronenbergs sind. 

Der von filigranen Maschinen, Kameras und Greifarmen traktierte Menschenkörper wird hier zum blutigen Hauptschauplatz: Schrauben werden in ein Rückgrat gedreht und ein Gehirn gedrillt, Schläuche durch Harnröhren gezogen, Tumore abgetrennt und filetiert. Leichte Kinokost sieht naturgemäß anders aus als dieses Werk, aber der „Akt des Sehens mit eigenen Augen“, um es mit dem Titel eines alten Autopsiefilms des amerkanischen Kino-Avantgardisten Stan Brakhage zu sagen, ist nötig, wenn es um die handfeste Frage geht, was genau mit unseren Körpern in den Institutionen geschieht, die für deren Behandlung (und Entsorgung) zuständig sind.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.