Helden wie wir: Zum Tod von Stan Lee

Wenn Spider-Man, Thor und Hulk zu Mitbewohnern werden: Wolfgang Paterno zum Tod des Comic-Titanen Stan Lee.

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Irgendwann nannten wir ihn nur noch Stan. Er saß beim Frühstück oder Abendessen gleichsam mit am Tisch, war Ausgangspunkt endloser Gespräche: Spider- Man oder Captain America? Iron Man oder Ant-Man? Welcher Superheld ist stärker, schlauer, schneller? Wie plausibel ist es, dass Black Panther, ein Muskel gewordener Mann in Strumpfhosen, dank seiner Vibranium-Polster über Wasser gehen kann? Wie lebt es sich als Mettle, ein Wesen mit der Physiognomie einer Diesellok, dem die Haut abgezogen worden war? Und passt der geheimbündlerische Habitus zum Kraftpaket Black Widow? Eine Frage stellte sich nie: Stan, der Comic-Autor und Mitschöpfer dieser Idole, war als körperlose Person am Tisch vielleicht kauzig, aber meist einfach: genial.

Wer wie ich mit einem Zwölfjährigen unter einem Dach lebt, der von einem Leben als Superheld träumt, kommt am US-Zeichner Stan Lee nicht vorbei. Spider-Man, Thor, Dr. Strange, die Fantastischen Vier und die X-Men sind seit Jahren unsere Mitbewohner, eine Comic-Invasion, ein Avengers-Hochamt. Stan, die Größer-als-das-Leben-selbst-Figur mit dem aus der Zeit gefallenen Schnurrbart, unser King of Comics.

Man sollte gar nicht erst versuchen, Stan Lee zu verstehen. An der Erfindung von mehr als 300 superlativischen Charakteren war er beteiligt. Der 1961 von Lee begründete Kleinverlag ist heute ein Medienimperium mit Milliardenumsätzen; im schier unendlichen Marvel-Universum finden sich inzwischen wohl nur mehr Nerds, Fanatiker oder eben minderjährige Wiener Fanboys zurecht.

Wir wussten fast alles über Stan. Linkshänder, reizendes Großmaul, Dauergast mit Kurzauftritten in den Blockbuster- Adaptionen seiner Comics. Lee schrieb nie detaillierte Szenen, er skizzierte den Gang der Handlung, überließ die visuelle Umsetzung kongenialen Mitstreitern wie Jack Kirby und Steve Ditko; in die Sprechblasen setzte Lee zum Schluss seine Dialoge ein. Er sprach in Bildern.

Ich bin ein schneller Schreiber, vielleicht nicht der beste, aber der schnellste

"Ich bin ein schneller Schreiber, vielleicht nicht der beste, aber der schnellste", sagte Lee einmal in einem Anflug rarer Selbstkritik.

Geboren wurde Stan Lee am 28. Dezember 1922 als Stanley Martin Lieber in der New Yorker Bronx als Sohn rumänischer Immigranten. Mit zehn Jahren, so will es der Mythos, begann er Shakespeare zu lesen, die Romane von Arthur Conan Doyle, Edgar Rice Burroughs und Mark Twain; und er liebte die Säbelschwinger-Filme mit Errol Flynn. Mit 19 unterschrieb er 1941 die erste von ihm mitkreierte "Captain-America"-Seite mit dem Pseudonym Stan Lee, aus dem früheren Nischenverlag Timely Comics formte Lee als Chefredakteur das Marvel-Reich, das er mehr als 30 Jahre lang leitete.

Die immens erfolgreiche Marvel-Methode lautet: Setze Menschen, die ein geordnetes Leben führen, zufällig aber mit Superkräften ausgestattet sind, in ungeordnete Verhältnisse mit flamboyanten Finsterlingen, die an ihrem Böse-Sein förmlich überschnappen. Pickeliger Teenager mit Liebesnöten im Kostüm des Spinnenmannes gegen die schleimige Echse; schüchterner Wissenschafter, im Nebenjob grünes Monster mit dem Körperbau eines gestauchten Ochsen und geradezu berserkerhafter Energie, versus Abomination, eine Gestalt mit der Aura eines Unwetters, die dem Supersuperstarksein ein erzhässliches Gesicht gibt.

In vielen Nachrufen auf Stan Lee war zu lesen, er habe die Popkultur revolutioniert. Popkultur ist, wenn die Marvel-Magie fast 7000 Flugkilometer vom New Yorker Stammsitz des Unternehmens bis in ein Wiener Kinderzimmer reicht, dauerbefeuert von zuweilen fast obszön anmutenden Merchandising-Maßnahmen: Spider-Man als Kino-, Computerspiel-, Trinkflaschen-, Autokindersitz-und Zahnbürsten-Held, als Plastik-,Plakat-und Plüschfigur. Man kann die Lebensgeschichte von Stan Lee auch als gigantische Produktwerbung lesen.

Popkultur setzt sich aus Puzzleteilen zusammen. Als Marvel-Comic-Film-Legofigur erscheint sie häufig redundant, manchmal banal, oft grell und überdreht, hat gute, gegen die klassische Schulweisheit gerichtete Seiten und zuweilen idiotische, öffnet aber Tausende Türen ins Weitererzählen und Fortspinnen von Geschichten. Zwölfjährige, die gerade kein Mobiltelefon in Händen halten und wie erstarrt dasitzen, der Mund spaltbreit offen, sind in Gedanken mit einiger Wahrscheinlichkeit in den unendlichen Weiten der Marvel-Welt, dieser bis über die Ränder hinaus offenen Projektionsfläche für antiautoritäre, kühne Sehnsüchte. Hinter den Bilderfolgen, Sprech-und Denkblasen steckt eben nicht das Echo einer hochherzigen Pädagogik oder schlauen Semantik, sondern allein: Dramatik, Kräftemessen, Klingenkreuzen, ein ewiges Gut-gegen-Böse. Helden wie wir retten kurz die Welt.

"Excelsior!", Stan Lees langjähriger Wahlspruch, ist auf vielen seiner Online-Kanäle als Trauerkurznachricht zu lesen, zu Deutsch etwa "Höher hinauf!" Als mein Sohn in Wien von Stans Ableben erfuhr, mischten sich schnell Trauer und Trost. Stan, so der Fan, könne nicht wirklich tot sein, denn Superhelden leben ewig. Am 12. November ist Stan Lee 95-jährig in Los Angeles gestorben.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.