Theater-Provokateur Jan Fabre
Jan Fabre: "Ich bin ein Zwerg in einem Land von Giganten"

Jan Fabre: "Ich bin ein Zwerg in einem Land von Giganten"

Der belgische Theater-Provokateur Jan Fabre gastiert beim Wiener ImpulsTanz-Festival. Im profil-Interview spricht er über Schönheit, Rechtspopulismus und seine Nahtoderfahrungen.

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Gerade einmal 26 war der Belgier Jan Fabre, als er 1984 mit seiner dritten Theaterinszenierung "The Power of Theatrical Madness" bei der Biennale in Venedig schlagartig berühmt wurde. Fabre, eigentlich bildender Künstler und Performance-Artist, war schon damals fasziniert vom Gedanken der totalen Unmittelbarkeit: reale Körper in realer Zeit, die sich bis zur körperlichen Erschöpfung auf der Bühne austoben. Legendär sind Fabres Kugelschreiber-Malaktionen: 1981 ließ er sich 72 Stunden lang in einem Raum einschließen, um alle Wände und Gegenstände blau zu bemalen.

Gut 30 Jahre später geht es auf der Probebühne in Antwerpen nicht minder schweißtreibend zu. Fabre arbeitet gerade an seiner jüngsten Produktion "Belgian Rules/Belgium Rules", die am 18. Juli beim Wiener Sommerfestival ImPulsTanz uraufgeführt wird.* Die "Krieger der Schönheit", wie Fabre seine Performer nennt, tragen an diesem Vormittag gigantische Hüte mit Straußenfedern, schwere Holzpantoffeln und Kuhglocken um die Hüften, mit denen sie tanzen müssen. Die reiche Karnevalskultur des Landes ist das Vorbild für die exzentrischen Kostüme. Fabre gibt das Tempo vor, mehrere Umzüge müssen flott über die Bühne gehen. Das Troubleyn- Laboratorium liegt in einem multikulturellen Stadtteil von Antwerpen, es ist eine Mischung aus Theater und Gemeinschaftsküche, eine Produktionsstätte für Kostüme und zugleich selbst ein Kunstwerk. In der Küche hat Performance-Superstar Marina Abramović mit Schweineblut Texte an die Wand gemalt, unter anderem steht da zu lesen: "Eat the pain".

profil: Ihre Tagebücher aus den späten 1970er-Jahren wurden gerade publiziert. Wie war der junge Jan Fabre? Jan Fabre: Arrogant und radikal. Damals zeigte ich in Paris das achtstündige Stück "This is Theatre Like it Was to be Expected and Foreseen". Alle wichtigen Regiekollegen waren da, von Robert Wilson über Patrice Chéreau bis zu Merce Cunningham. Nach der Vorstellung setzte ich ein vierstündiges Gespräch an. Ich schrie meine Performer an: "Warum seid ihr überhaupt hier? Um an der Bar mit wichtigen Leuten abzuhängen?"

profil: Sind Sie heute entspannter? Fabre: Ich genieße das Leben mehr. Als junger Künstler ist man nicht nur ehrgeizig, sondern oft auch paranoid.

profil: In Ihrer Jugend fielen Sie zwei Mal ins Koma. Wie kam es dazu? Fabre: Das erste Mal war ich 18, es geschah bei einer Mutprobe mit Freunden. Wir kletterten im Kanal von Antwerpen auf Schiffe und tauchten ins Wasser. Als ich gerade springen wollte, schlug mir ein Schipper mit einem Stock in den Nacken. Ich wurde ohnmächtig und beinahe in die Schiffsschraube gezogen. Einer meiner Freunde rettete mich, aber ich lag acht Tage lang im Koma. Beim zweiten Mal war ich in einen Straßenkampf verwickelt. Ich habe deshalb nur einen Hoden, den anderen habe ich verloren. Zwei Mal ins Koma zu fallen, das erzählt natürlich viel über mein Leben.

Im Training mit meinen Schauspielern und Tänzern geht es darum, jeden Millimeter des Körpers zu fühlen, alles ganz neu wahrzunehmen, als wäre man schon gestorben und nur kurz ins Leben zurückgekehrt.

profil: Haben Sie dadurch Ihre Angst vor dem Tod verloren? Fabre: Er ist eine Art Freund für mich geworden. Das sieht man auch in meiner Kunst: Ich beschäftige mich im Grunde mit dem postmortalen Stadium des Lebens. Im Training mit meinen Schauspielern und Tänzern geht es darum, jeden Millimeter des Körpers zu fühlen, alles ganz neu wahrzunehmen, als wäre man schon gestorben und nur kurz ins Leben zurückgekehrt. Ich umarme das Leben extrem intensiv. Vor allem nach dem zweiten Unfall wurde mir bewusst, dass es eine Art Geschenk ist.

profil: Können Sie im Urlaub am Strand entspannen? Fabre: Das interessiert mich nicht. Zu Weihnachten war ich in Marrakesch - mein Freund, der Philosoph Bernard-Henri Lévy, besitzt dort einen Sultanspalast. Ich bin eigentlich autistisch, deshalb läuft alles rituell ab: Nach dem Frühstück gehe ich eine Stunde schwimmen, dann zeichne ich bis 17 Uhr, anschließend laufe ich eine Stunde, dann nehme ich ein Bad, esse etwas, dann zeichne ich wieder, und ab ein Uhr nachts schreibe ich bis in der Früh. Das mache ich dann sechs Wochen lang.

profil: Die Stadt haben Sie sich nicht angesehen? Fabre: Ich bin doch kein Tourist! Ich reise höchstens in meinem Kopf.

profil: War die 24-stündige Produktion "Mount Olympus", die im Vorjahr auch bei den Wiener Festwochen zu sehen war, so anstrengend, wie sie aussah? Fabre: Es war ein fantastischer Trip. Jeder meiner Produzenten war gegen diese Arbeit, keiner wollte sie machen. Sie prophezeiten mir, vor leeren Stuhlreihen spielen zu müssen. Kurz vor der Premiere meinte ich zu den Schauspielern, wenn 15 Leute bis zum Schluss blieben, wäre ich glücklich. Und dann wurde es ein Mega-Erfolg: Wir hatten 30 bis 40 Minuten Applaus. Ich hätte mir das niemals träumen lassen.

Ich schrieb mit 18 in meinen Tagebüchern, ich sei dazu verurteilt, ein Genie zu werden. So viel zu meiner Arroganz damals. Aber je älter ich werde, desto mehr bin ich vom Gegenteil überzeugt: Ich bin ein Zwerg in einem Land von Giganten.

profil: Worum geht es in Ihrem jüngsten Stück, in "Belgian Rules/Belgium Rules"? Fabre: Belgien ist ein kleines Land, das erstaunlich viele große Künstler hervorgebracht hat. Ich schrieb mit 18 in meinen Tagebüchern, ich sei dazu verurteilt, ein Genie zu werden. So viel zu meiner Arroganz damals. Aber je älter ich werde, desto mehr bin ich vom Gegenteil überzeugt: Ich bin ein Zwerg in einem Land von Giganten. Wir haben zu Bildern von Rubens, Van der Weyden, Jan van Eyck und Fernand Khnopff improvisiert. Wir waren beim Karneval von Binche, einem kleinen Dorf südlich von Brüssel, in dem drei Tage lang exzessiv gefeiert wird. Die Kostüme dort sind fantastisch: Es gibt einen Hut mit 300 Straußenfedern, schwere Holzpantoffeln und die typische "Mardi Gras"-Wachsmaske. Man hat das Gefühl, ins Mittelalter zurückgereist zu sein. Es ist wie ein lebendig gewordenes Gemälde.

profil: Warum ist der Karneval in Belgien so wichtig? Fabre: Wir sind ein sehr katholisches Land. Es ist das Fest des Fleisches, was mich als Performer besonders interessiert. Es geht auch darum, die Mächtigen zu verspotten, das Unterste nach oben zu kehren: der Bettler, der zum König wird - der König, der Bettler sein muss. Sexualität ist immer dabei, die Kirche wird verspottet. Wir haben im Rahmen der Proben auch sogenannte "neue Belgier" zu Gesprächen gebeten - Menschen aus Somalia, Ghana, dem Iran oder Marokko -, um sie zu fragen, was sie von Belgien halten. Sie mögen das Land sehr. Aber es hat sich verändert in den vergangenen Jahren, die Rechten werden stärker. Es gibt mehr Rassismus.

Szene aus "Belgian Rules/Belgium Rules"

profil: Verstehen Sie sich als politischer Künstler? Fabre: Ich möchte theatralisch gegen rechte Tendenzen ankämpfen. Der Titel des Stücks ist doppeldeutig: Es geht ums Regieren, aber auch um die Regeln und Gesetze, die uns prägen. Wir waren immer besetzt, von den Spaniern, den Niederländern, den Deutschen und den Franzosen. Das merkt man auch in der Literatur und der Malerei. Es ging stets darum, die Mächtigen anzugreifen. Darin liegt die Kraft der belgischen Kunst.

profil: Das ist in Österreich nicht unähnlich. Fabre: Es gibt tiefe Verbindungen zwischen den Ländern: Beide sind klein und katholisch. Die Generation der Wiener Aktionisten war subversiv und anarchistisch. Als ich in den 1990er-Jahren "Sweet Temptations" bei den Wiener Festwochen zeigte, war ich jeden Tag vier Stunden lang im Kunsthistorischen Museum, um mir die flämischen Maler anzusehen. Dort hängen die besten Bruegels in der ganzen Welt.

profil: Verfällt man nicht automatisch in Klischees, wenn man Nationen als Ideen bespricht? Fabre: Klischees sind nichts Schlechtes. Ich möchte meine Heimat auch kritisieren, wir waren extrem grausam in unserer ehemaligen Kolonie im Kongo. König Leopold ließ Dieben die Hände abhacken. Die erste Atombombe für Hiroshima wurde aus Uran gefertigt, das aus dem Kongo kam. Ich gestaltete vor ein paar Jahren in Kiew eine Ausstellung über die Schönheit der Grausamkeit und die Grausamkeit der Schönheit. Dafür sammelte ich Bilder, wie die Menschen im Kongo gepeinigt wurden. Es waren höllische Strafen, wie man sie auch auf Bildern von Bruegel sieht.

profil: Sie haben mit dem Performance-Superstar Marina Abramović gearbeitet. Fabre: Ich kenne Marina schon sehr lange. Sie kam 1982 ins Theater, um meine Arbeit "This is Theatre Like it Was to be Expected and Foreseen" zu sehen, und sie sagte, dass sie von mir inspiriert wurde. Ich wiederum war in den späten 1970er-Jahren sehr von ihr geprägt. Wir wurden gute Freunde. In Lyon zeigten wir 2004 eine gemeinsame Performance, bei der wir beide in Ritterrüstungen steckten. Marina meint, dass ich nach New York City ziehen sollte, weil ich dort reich werden könnte. Marina liebt es eben, sich mit prominenten Menschen zu umgeben. Aber mich beeindruckt das nicht sonderlich.

Wahre Schönheit entscheidet sich für den Humanismus. Als Künstler muss man seine Stimme jetzt erheben.

profil: Schreckt Donald Trump Sie ab? Fabre: Das ist es gar nicht. Ich habe als junger Mann ein Jahr lang in New York unterrichtet. Vorher war ich stets böse auf meine Heimat gewesen, danach war mir erst bewusst, aus welch reicher Kultur ich komme. In Amerika geht es nur um Status und Geld.

Fabre-Werk 1980

profil: Haben Sie Angst, dass Europa zerbrechen könnte? Fabre: Natürlich. Als ich mit den jungen Einwanderern redete, war ich überrascht, wie positiv sie ihre neue Heimat sehen. Sie finden unsere Länder sicher, schätzen das soziale System, haben nur Angst vor dem neuen Konservativismus, vor den extremen Rechten, die auch in Frankreich, Italien oder Österreich immer stärker werden. Wir wollen hoffen, dass die Schönheit siegt. Dabei geht es immer auch um ethische Werte. Wahre Schönheit entscheidet sich für den Humanismus. Als Künstler muss man seine Stimme jetzt erheben.

Ich stehe seit 20 Jahren auf schwarzen Listen. Meine Tür wurde mit Scheiße bestrichen, es waren Briefe im Postkasten, in denen es hieß, ich sei ein Landesverräter, sie würden mich finden und eliminieren.

profil: Nehmen Sie denn politisch Stellung? Fabre: Ich stehe seit 20 Jahren auf schwarzen Listen. Meine Tür wurde mit Scheiße bestrichen, es waren Briefe im Postkasten, in denen es hieß, ich sei ein Landesverräter, sie würden mich finden und eliminieren. Diese Briefe waren nicht einmal anonym verfasst. Ich wurde im Laufe meiner Karriere mehrmals auf offener Straße verprügelt, einmal von sechs Typen, die mich einen "entarteten" Künstler nannten. Ich hatte körperliche Angst, das war nicht angenehm.

profil: Sind Sie überrascht, dass Ihre Arbeit noch immer so provoziert? Fabre: Eigentlich schon, denn es geht mir um die Verwundbarkeit der Menschen, also um etwas sehr Zartes und Gefährdetes.

profil: Apropos verwundbar: Rauchen Sie noch immer? Fabre: Ich trinke keinen Kaffee und fast nie Alkohol, weil ich ihn nicht mag. Ich gehe regelmäßig laufen und betreibe den Kampfsport Kendo. Rauchen ist meine einzige Droge. Zum Glück bin ich körperlich recht fit.

profil: Wissen Sie trotzdem schon, was auf Ihrem Grabstein stehen soll? Fabre: Klar, ich habe auch notariell festgelegt, was mit meinen Organen nach meinem Tod passieren soll. Sie werden in künstlerische Projekte fließen. Es wird ein Kunstwerk mit meinem Gehirn geben und eines mit meinem Herzen. Und auf meinem Grabstein soll stehen: "Du musst alles ernst nehmen, aber nichts tragisch."

INTERVIEW: KARIN CERNY

*Ab 6. Juli ist im Leopold Museum zudem die Fabre-Schau "Stigmata" zu sehen, und in Workshops kann man die Trainingsmethoden des Künstlers kennenlernen.

Karin   Cerny

Karin Cerny