Schwarze Geschichte. Metropolitan Opera, New York, September 2021: Angel Blue und Will Liverman

Klassik: Wie rassistisch ist die Branche?

In der klassischen Musik sind schwarze Menschen immer noch Ausnahmen. Auf der Bühne, an den Pulten und den Partituren: fast alle weiß. Über Antirassismus und Diversity wird in der Branche nun mit Verspätung und eher zögerlich nachgedacht.

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Von Manuel Brug

Wie rassistisch ist der Klassikbetrieb? Die guten Absichten, von denen er da und dort erfüllt sein mag, können die Passivität und die Auslassungen nicht kompensieren, als deren Folge eine seit Jahrhunderten andauernde Marginalisierung schwarzer Kunstschaffender festzustellen ist. Der US-Musikwissenschaftler Philip Ewell beispielsweise wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass nahezu das komplette klassische Repertoire in den Konzertsälen und Opernhäusern der Welt das Werk weißer Männer ist. Und der Musikwissenschaftler Nate Sloan und der Songwriter Charlie Harding versuchten unlängst, Beethovens vielgespielte fünfte Sinfonie als Instrument des Elitismus, der Unterdrückung und Exklusion nicht-weißer Musik aus dem klassischen Konzertbetrieb zu diskreditieren. 

Es gibt somit, was die Repräsentation von Minderheiten betrifft, viel zu tun in den Opern- und Konzerthäusern. Was aber hilft gegen das Ungleichgewicht? „Ich bin ganz und gar gegen Quoten – und werde mich keinerlei Lobby beugen.“ Markus Hinterhäuser, künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele, positioniert sich auf Nachfrage von profil eindeutig. „Bei uns werden Spielplan- und Besetzungsentscheidungen nicht nach Hautfarbe, Rasse und Geschlecht, sondern einzig nach künstlerischen Kriterien getroffen.“ Das „gerade schicke“ Proporzdenken“ dürfe in Salzburg keine Rolle spielen, genau wie Amerikas politische Korrektheit, geboren „aus schlechtem Gewissen gegenüber den immer noch sehr oft rassistisch misshandelten Schwarzen, Latinos oder Asiaten“.

Hinterhäuser gibt sich in dieser Hinsicht gern unkorrekt: „Ich habe stets nur nach Talent geschaut – egal, wer einer ist oder wo er herkommt.“ Peter Sellars, der für seine gefeierte Mozart-Adaption „La clemenza di Tito“ 2017 „aus absolut konzeptschlüssigen Gründen“ auf eine mehrheitlich schwarze Besetzung pochte, habe diese selbstverständlich bekommen. „Wir hatten mit Russell Thomas einen überzeugenden Titelrollensänger. Golda Schultz und Jeanine De Bique haben sich inzwischen zu Stars entwickelt. Nur das zählt für mich.“ Hinterhäuser sieht kein Diversity-Problem: „Wir sind ein Musikfestival, keine auf Ausgleich bedachte EU-Kommission. Und ich brauche auch keinen Frauenschwerpunkt, um die bei uns seit zwei Jahren die Wiener Philharmoniker dirigierende Joana Mallwitz zu engagieren.“

An bedeutenden US-Kulturinstitutionen sieht es ganz anders aus. Die Gewissensbisse der durchaus elitären weißen Klassik sind groß. Zwar weiß noch niemand, ob die New Yorker Metropolitan Opera, die als größte Institution der darstellenden Künste in den USA ihren gesamten Spielplan 2020/21 pandemiebedingt streichen musste, mehr als 150 Millionen Dollar Verluste eingefahren und ihr künstlerisches Personal, vor allem Chor und Orchester ohne Bezahlung freigestellt hat, wirklich überleben wird. Doch bei ihrem festlich zelebrierten, für Sponsoring-Einnahmen wichtigen Eröffnungsabend der Saison 2021/22, einst Spielplatz für Pavarotti, Domingo, Netrebko & Co mit alten Arienkrachern in opulenten Bühnenbildern, wurde nun, erstmals in der 138-jährigen Geschichte des Hauses, die Oper eines schwarzen Komponisten ins Zentrum gestellt: „Fire Shut Up in My Bones“ des 1962 geborenen Terence Blanchard, der seit 30 Jahren übrigens auch die Soundtracks zu den Filmen Spike Lees schreibt. Die Met, die inzwischen auch über eine Diversity-Abteilung verfügt, wird 2023 eine Oper über Malcolm X herausbringen. Black Music ist hier plötzlich sehr stark.

Die Presse zeigte sich von „Fire Shut Up in My Bones“, der vertonten Lebensgeschichte des schwarzen „New York Times“-Kommentators und „Black News Channel“-Moderators Charles M. Blow, begeistert, vermerkte auch den ungewohnten Zustrom von jungen und schwarzen Menschen im Publikum. Aber die Stammzuschauer in dem leider nur noch selten ausverkauften 4000-Plätze-Haus strömten dann doch lieber zu „La Bohème“ und „Turandot“, beides Werke von Giacomo Puccini. Und niemanden schien es zu stören, dass die sagenhafte chinesische Prinzessin Turandot da von einer weißen Amerikanerin gesungen wurde. 

Aber darf angesichts der strengen neuen Diversity-Anforderungen die Japanerin Madama Butterfly – eine weitere der Opernproblemheldinnen Puccinis – von einer Albanerin verkörpert werden? Denn Ermonela Jaho ist die gegenwärtig beste und feinfühligste Interpretin jener Rolle. Am Londoner Royal Opera House Covent Garden wird sie sich den Part trotzdem, wie soeben verkündet, aus Gleichstellungsgründen künftig mit einer Asiatin teilen müssen. 

Zwar stand bei der New Yorker Blanchard-Premiere (eine weitere ist für 2023 bereits angekündigt) mit dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin in seiner ersten Premiere als Met-Orchesterchef keine person of color am Pult; dafür war das Ensemble ebenso wie die Choreografin und Mitregisseurin Camille A. Brown schwarz.

Ein schwarz geschminkter Verdi-„Otello“ wird inzwischen selbst in Italien nicht mehr toleriert. Als soeben Jonas Kaufmann am Teatro San Carlo erstmals die ikonische Rolle sang, sah er so deutsch-graumeliert aus wie in seinem bayerischen Tenoralltag. Und Nézet-Séguin setzt in Sachen Black Music Matters gleich noch eins drauf: Beim Philadelphia Orchestra, dem er ebenfalls vorsteht, hat er ein großes Projekt zu Florence Price (1887 –1953) ausgelobt. Sämtliche Konzerte und Sinfonien der ersten schwarzen Komponistin Amerikas, die von dem Spitzenklangkörper aus Pennsylvania nur ein einziges Mal – nämlich 1933 – gespielt worden war, sollen nun erklingen; die Deutsche Grammophon wird die Ergebnisse aufzeichnen.

Viel ist derzeit also wieder von „vergessenen musikalischen Meisterwerken“ die Rede. Aber so verschüttet sind die Werke, um die es geht, oft gar nicht. Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges (1745-1799) etwa, dem auf Guadeloupe geborenen Sohn eines französischen Plantagenbesitzers und einer schwarzen Sklavin, wird seit Jahren das etwas simple Etikett „Der schwarze Mozart“ angeheftet. 

Wirklich bewegt hat das allerdings die Musikindustrie bislang nicht. Immerhin wird Geigenqueen Anne-Sophie Mutter nächstes Jahr in Luzern Bolognes zweites Violinkonzert aufführen. Denn das eigentlich biedere Orchestertreffen hat sich marketingclever für den nächsten Sommer das Motto „Diversity“ verpasst und die sanfte Übertreibung zur Arbeitsgrundlage gemacht: Angel Blue, als solide Sopranistin gut im Operngeschäft, wird da gleich zur „Artiste étoile“ geadelt.

Auch Christoph Becher, Intendant des ORF-Radio-Symphonieorchesters (RSO), geht einen in Sachen Diversität programmatischen Weg. Er hat sich bereits mit der Verpflichtung der Amerikanerin Marin Alsop als neuer Chefdirigentin seit 2019 festgelegt. Der Anteil von Musikerinnen im RSO, in dem 96 Mitglieder aus 20 Nationen arbeiten, liegt bei knapp 40 Prozent. Unter Alsop, sagt Becher, habe der Fokus auf Dirigentinnen und Komponistinnen zusätzlichen Antrieb erhalten. Ziel sei es, österreichische Komponistinnen wie Julia Purgina, Judit Varga und Hannah Eisendle nicht nur mit Werken zu beauftragen, sondern diese auch bei Auslandsgastspielen zu präsentieren.

Darüber hinaus sieht Becher im RSO „eine große Bereitschaft, verstärkt mit nicht-europäischen und schwarzen Künstlerinnen und Künstlern zusammenzuarbeiten“. Für die Uraufführung von Chaya Czernowins „Atara“ bei Wien Modern habe man etwa die Schwedin Sofia Jernberg, geboren in Äthiopien, engagiert. Im März wurde mit der jungen britischen Pianistin und Cellistin Jeneba Kanneh-Mason ein Mozart-Klavierkonzert aufgenommen. Zudem hätten zwei aktuelle CDs mit schwarzen Komponisten und Komponistinnen auf dem Tonträger-Markt große Aufmerksamkeit erzielt: Orchestermusik von Florence Price sowie Werke von Ulysses Kay (1917–1995) und William Dawson (1899–1990).

Die lange sehr bequeme Klassik wehrt sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung mit der steigenden Verpflichtung möglichst diverser Musiker. Die Deutsche Grammophon, in Asien, vor allem Korea immer noch verkaufsstark, schiebt beständig Künstler wie jüngst die Sopranistin Hera Hyesang Park oder die Violinistin Bomsori Kim von dort aufs internationale Marktparkett. Das englische Label Decca wiederum schickt nach der – auch nach der weltweiten Aufmerksamkeit bei Herzogin Meghans Hochzeit – gelungenen Lancierung des schwarzen britischen Cellisten Sheku Kanneh-Mason (plus klavierspielender Schwester Jeneba und Restfamilie) nun den smarten afroamerikanisch-koreanischen Geiger Randall Goosby, 25, an den Start – mit „Roots“ als Debütalbum, einer Hommage an schwarze Komponisten.

Der lang überfällige Tribut des Sony-Konzerns an die Grenzüberschreiterin Marian Anderson ist opulent ausgefallen, fügt sich zudem passgenau ins gegenwärtige Bewusstseinsklima. Im Programm von Sony findet sich auch die „Black Composers Series“: neun Schallplatten, poppige Cover, Musik aus zwei Jahrhunderten, von Chevalier de Saint-Georges bis zum 1941 in Rochester geborenen Adolphus Hailstork. Diese lobenswerte Serie wurde bereits zwischen 1974  und 1978 aufgenommen, als gemeinsame Anstrengung von Columbia Records und der Afro-American Music Opportunities Association, die vorwiegend die dafür nötigen Gelder gesammelt hatte. Das wirbelte damals, im behäbigen klassischen Konzert- und Aufnahmebetrieb, der weitestgehend auf die Hervorbringungen des weißen Europas zentriert war, einigen Staub auf. Der sich freilich ebenso schnell wieder legte.

Keiner der vorgestellten schwarzen Komponisten, vom Barock bis zu jazzinfiltrierten Zeitgenossen, hat es seither nachhaltig in die weltweiten Spielpläne geschafft – nicht einmal ein Klassiker wie der Brite Samuel Coleridge-Taylor (1875–1912), Sohn eines aus Sierra Leone stammenden Arztes und einer englischen Mutter, der als einer der ersten Tonsetzer versuchte, eine neue Richtung in der westlichen Kunstmusik auf Basis afrikanischer Stilelemente zu entwickeln.  

Schon in den 1970er-Jahren haftete dem vorgeblich befreienden Unternehmen „Black Composers“ etwas Ghettohaftes an. Zwar waren mit dem Baltimore und dem Detroit Symphony Orchester auch zwei amerikanische Klangkörper beteiligt, der Großteil der Aufnahmen aber entstand in London und Helsinki. Und der schwarze Dirigent Paul Freeman (1936–2015), der bei allen Einspielungen am Pult stand, hat nie in Amerika, nur in Kanada und Tschechien Chefposten bekommen. Und natürlich: Komponistinnen wurden erst gar nicht berücksichtigt. Als der Rechtenachfolger Sony die „Black Composers Series“ 2019 als billige CD-Box wiederauflegte, war das Interesse daran gering.

Gegen ein Quotendenken am österreichischen Klassikmarkt wehrt sich, wie Hinterhäuser, auch der Chef des Wiener Konzerthauses Matthias Naske: „Das kann hier gar nicht funktionieren. Natürlich sind wir als Institution mit Exzellenzanspruch sensibilisiert, müssen gesamtgesellschaftliche Fragestellungen auch bei uns abbilden und diskutieren. Österreich als ehemaliger Vielvölkerstaat und als Tor nach Osteuropa ist prädestiniert, minoritären künstlerischen Stimmen Raum zu geben – was wir seit Jahren auch tun. Und genauso beziehen wir Menschen mit Behinderung in unsere Programmplanung mit ein, laden ganz bewusst Komponistinnen und Dirigentinnen ein.“ Naskes Resümee klingt simpel: „Dabei kommt es immer auf die Balance, nicht auf die Verordnung an.“